Leben im Spektrum: Warum meine Autismus- und ADHS-Diagnosen für mich so wichtig sind

Über Jahrzehnte hinweg fielen Mädchen und Frauen, die den männlich geprägten Diagnosekriterien von ADHS und/oder Autismus nicht entsprachen, durchs Raster. Die Diagnose unserer Autorin war dementsprechend auch eine 25-jährige Odyssee. Warum genau diese Diagnose für sie aber so wichtig war und wie es sich damit lebt, erfahrt ihr hier.

Es ist schon eine ganze Weile her, dass ich einen Text über das Thema Selbst-Diagnosen geschrieben habe. Damals war ich in einer sehr unsicheren, nahezu verzweifelten Phase, man könnte sagen, auf der Suche nach mir selbst. Auf dieser Suche habe ich mich in den Diagnosen ADHS und Autismus wiedergefunden und hatte zu dieser Zeit keine andere Möglichkeit, als mich selbst zu diagnostizieren. Hier also die Fortsetzung.

Warum ich die Diagnosen brauchte

Ja, ich habe ADHS und ja, ich habe Autismus. Zusammenfassend könnte man sagen, ich habe AuDHD. Das herauszufinden war eine Odyssee an vergeblichen Telefonaten, E-Mails, Erstgesprächen bei unmöglichen Psychiatern und endlosen Wartelisten. Schlussendlich habe ich meine ADHS-Diagnose selber bezahlt und habe die Autismusambulanz so lange per E-Mail genervt, bis sie mich bei einer kurzfristigen Absage kontaktiert haben. Beides hat sich über Monate hinweg gezogen. Das war ein nervenaufreibender Prozess, ein Hin und Her der Gefühle und Gedanken, immer in der Unsicherheit und der Angst: “Was ist, wenn ich mir das doch bloß alles einbilde?”

Ja, ich habe ADHS und ja, ich habe Autismus. Zusammenfassend könnte man sagen, ich habe AuDHD. Das herauszufinden war eine Odyssee.

In meinem Leben gab es immer wieder Phasen, in denen ich mich als irgendwie anders empfunden habe – was größtenteils kein Problem war. Doch es gab Probleme im Kindergarten, in der Schule, mit Freundschaften und teilweise mit meinen Eltern. Das war längste Zeit meines Lebens okay, ich war oft eben “zu sensibel” oder auch gerne mal “einfach ein bisschen zu faul”. Doch so, wie ich war, hätte mich wohl niemand ernsthaft als autistisch oder als Mädchen mit ADHS beschrieben.

Erst nach dem Ende meiner Ausbildung, als ich plötzlich vor einer großen Ungewissheit stand, fanden andere Probleme langsam, aber sicher ihren Weg in mein Leben. Ich habe einiges ausprobiert und oft gemerkt, was für mich nicht funktioniert – auch ein Weg zu lernen. Letztlich haben diese, teils negativen, Erfahrungen für viele Ängste gesorgt.

Wenn man vieles anfängt und dann doch wieder abbricht, fragt man sich, warum man sich nicht einfach mal am Riemen reißen kann, wie alle anderen es doch auch tun. Wenn sich jeder neue Job wie ein soziales Glücksspiel anfühlt, weil man nie weiß, wie man sich verhalten muss oder ob man mit den Kolleg:innen klarkommen wird, weckt dies Ängste, von denen man nicht geglaubt hätte, dass man sie jemals selber erfahren würde.

Wenn man vieles anfängt und dann doch wieder abbricht, fragt man sich, warum man sich nicht einfach mal am Riemen reißen kann, wie alle anderen es doch auch tun.

Für all diese auftretenden Probleme fand ich Erklärungen – in ADHS und Autismus. Und obwohl ich finde, dass Selbst-Diagnosen valide sein sollten, hat das für mich nicht gereicht. Nicht zu wissen, ob ich recht hatte oder mir beides nur einbilden wollte, hat mich wahnsinnig gemacht. Ich erhoffte mir nahezu die Erlösung von einer offiziellen Diagnose, die meine Probleme wirklich anerkennt.

Dementsprechend fühlte es sich für mich erleichternd an, die offizielle Bestätigung zu bekommen. Ich fühlte mich verstanden und gesehen. Die Diagnosen sind für mich ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu mehr Selbstakzeptanz. Einen Begriff für so viele Probleme meines Lebens zu haben, ist für mich wahnsinnig hilfreich, denn aus “Warum kann ich das einfach nicht” wird ein “Stimmt ja, mein Gehirn funktioniert anders”.

Wie ist es, AuDHD zu haben?

An dieser Stelle kann ich natürlich nur für mich ganz persönlich sprechen, denn sowohl ADHS als auch Autismus sind Spektren, die für jede Person anders aussehen. Zu beidem zusammen gibt es wenige Ressourcen, denn erst seit 2013 können laut Diagnosekriterien beide neurologische Störungen gemeinsam auftreten.

Wenn ich mein AuDHD in einem Satz beschreiben müsste, würde ich sagen, dass es ein ständiger Drahtseilakt zwischen Über- und Unterforderung ist.

Wenn ich mein AuDHD in einem Satz beschreiben müsste, würde ich sagen, dass es ein ständiger Drahtseilakt zwischen Über- und Unterforderung ist. Hinzu kommen die spezifischen Charakteristika, welche sich manchmal überschneiden und manchmal eher gegenteilig sind, wie zum Beispiel:

  • Ich kann mich für Dinge wahnsinnig schnell und intensiv begeistern, sauge ein Thema im Hyperfokus über Tage oder Wochen auf, bis es mich nicht mehr interessiert und ich nie wieder etwas damit am Hut haben werde.
  • Routinen tun mir gut, aber fallen mir wahnsinnig schwer, dasselbe mit Ordnung.
  • Manchmal rede ich viel und überschwänglich über meine Begeisterungen, doch dann fällt es mir oft so entsetzlich schwer, ein Gespräch überhaupt in Gang zu bringen oder aufrechtzuerhalten.
  • (Soziale) Events, überfordern mich extrem und sind mir oft viel zu viel, doch wenn ich zu lange zu wenig unternehme, überkommt mich eine depressive Stimmung und Rastlosigkeit.

Andere, eher ADHS- oder Autismus-spezifische Dinge wären so was wie:

  • Unfassbar große Schwierigkeiten bei alltäglichen Aufgaben wie dem Haushalt zu haben.
  • Dinge immer wieder zu vergessen und den Freund zehnmal täglich zu fragen, wo zum Beispiel das eigene Handy schon wieder ist.
  • Alles immer sehr persönlich zu nehmen und sich alles viel zu sehr zu Herzen zu nehmen.
  • Unablässiges Grübeln und rasende Gedanken zu jeder Tages- und Nachtzeit.
  • Schwierigkeiten in sozialen Situationen zu haben, Reaktionen nicht richtig lesen können, Empathie eher durch Logik aufzubringen und Augenkontakt als wahnsinnig unangenehm zu empfinden.

Und so vieles mehr. Aber darauf will ich hier nicht weiter eingehen, denn wie gesagt, dies spiegelt lediglich meine persönliche Ausprägung von AuDHD wider.

Mit all diesen Dingen umzugehen ist … schwierig. Wir leben in einer Gesellschaft, die sehr genaue Vorstellungen davon hat, wie ein Mensch zu funktionieren hat. Wenn man Probleme dabei hat, seinen Haushalt vernünftig zu führen und man es beim besten Willen einfach nicht schafft, einen normalen 30- bis 40-Stunden-Job zu machen, ist doch irgendetwas falsch mit einem, oder?

Ich möchte gerne glauben, dass eine Diagnose eine “Erlaubnis” erteilt, so zu sein, wie man ist und die Probleme validiert, unter denen man leidet. In der Realität ist es wohl eher so, dass vermehrt ein sehr stereotypisches, von Medien geprägtes Bild herrscht, wie Autismus, ADHS und viele andere neurologische Bilder aussehen. Das Verständnis fehlt und Vorurteile sind die Regel.

Und wenn man ein Leben lang gehört hat, man solle sich einfach ein dickeres Fell wachsen lassen, nicht so viel darüber nachdenken, sich ein besseres Zeitmanagement zulegen und eine Sache einfach mal zu Ende bringen, was man jedoch alles einfach nicht schafft, ist der Weg zur Selbstakzeptanz wohl oder übel ein schwieriger.

Die Stragetie des Maskings

Warum hat es eigentlich 25 Jahre lang gedauert, bis ich diese Diagnosen erhalten habe? Masking lautet das Stichwort, oder auf gut Deutsch „Maskieren“. Wenn ich mich mal weit aus dem Fenster lehne, würde ich sagen, dass besonders Mädchen und Frauen sehr gut darin sein können. Denn schon an junge Mädchen werden ganz andere Erwartungen gestellt als an Jungs. Immer brav, lieb und nett sein – man lernt eben, was sich gehört und was nicht, während bei Jungs vermutlich eher mal ein Auge zugedrückt wird und Jungs doch sowieso von Natur aus zappelig, wild und wütend sind und sein dürfen.

In meinem Alltag maskiere ich viel, indem ich versuche, mich möglichst “normal” zu verhalten.

Mir ist erst dieses Jahr bewusst geworden, wie viel ich in meinem Alltag maskiere. Indem ich versuche, mich möglichst “normal” zu verhalten, anderen in die Augen zu schauen, meine Strategien anwende, wie man zum Beispiel Smalltalk mit jemanden betreibt und wahnsinnig oft damit beschäftigt bin, andere Menschen zu analysieren. Ich habe mir ein Organisationssystem zurechtgelegt, das ich extrem pedantisch führe, weil ich sonst komplett verloren wäre.

Es sind all diese kleinen und großen Dinge, die von außen wahrscheinlich so wirken, als wäre ich ein ganz und gar neurotypischer Mensch. Wie anstrengend und auslaugend das ist und dass es zu verschiedenen Ängsten und Problematiken führen kann, wenn das sorgfältig aufgebaute System zum Funktionieren plötzlich nicht mehr richtig funktioniert, ist mir allerdings erst durch den (Selbst-)Diagnose-Prozess bewusst geworden.

Hat jetzt jede:r plötzlich ADHS oder Autismus?!

Manchmal ist online von einer Modediagnose zu lesen, egal ob nun ADHS oder Autismus betreffend, als wäre es ein neuer TikTok-Trend. Es fühlt sich teilweise so an, als würden andere Menschen, die über ihre (Selbst-)Diagnose sprechen, belächelt oder gar verurteilt werden. Weil diese Themen durch soziale Medien langsam mehr in die Öffentlichkeit rücken, kann schnell der Eindruck entstehen, dass mittlerweile jede:r einfach so eine Diagnose erhalten kann. Doch nur weil man zwei oder drei Beiträge in den sozialen Netzwerken, eine Doku auf YouTube und dann noch diese eine Reportage im Fernsehen gesehen hat, ist das nicht der Fall.

Gerade bei Mädchen und Frauen wurde jahrzehntelang kaum geforscht, wie sich ADHS und Autismus auswirken, es wurde einfach angenommen, es wäre dasselbe wie bei Jungen und Männern.

Gerade bei Mädchen und Frauen wurde jahrzehntelang kaum geforscht, wie sich ADHS und Autismus auswirken, es wurde einfach angenommen, es wäre dasselbe wie bei Jungen und Männern. Dementsprechend sind über Jahrzehnte hinweg Mädchen und Frauen, die den männlich geprägten Diagnosekriterien nicht entsprachen, durchs Raster gefallen. Da wir heute einen sehr viel leichteren Zugriff auf Informationen haben und so selbst den ersten Schritt in Richtung Diagnose gehen können, können diese Diagnosen auch leichter gestellt werden.

Was jetzt?

Darauf habe ich wohl keine ultimative Antwort. In dem ganzen Prozess habe ich gelernt, dass Menschen unterschiedlich funktionieren und so ziemlich alles ein Spektrum ist. Ich würde mir mehr Offenheit, Interesse und Inklusion wünschen. Letztlich kann dies aber erst passieren, wenn wir offen darüber sprechen (können) und gewillt sind, aufzuklären und gegen stereotypische, teilweise falsche Bilder anzugehen. Auch das ist ein Prozess und der wird wahrscheinlich noch ein Weilchen in Anspruch nehmen.

Zum Schluss möchte ich also einmal ein großes Danke an im gegenteil sagen, die diesem Thema eine Plattform geben.

Headerfoto: Matheus Natan. (Kategorie-Button hinzugefügt.) Danke dafür!

1 Comment

  • Passender könnte dieser Beitrag für mich nicht sein 🥹

    Tatsächlich bin ich ebenso weiblich, 25 Jahre alt, seit über 5 Jahren in psychologischer sowie psychiatrischer Behandlung und habe erst im Oktober letzten Jahres meine ADHS Diagnose bekommen. Zusätzlich zu meinen chronischen Depressionen (Double depression). Überschneidungen zu einer Autismus-Diagnose sehe ich zwar auch, habe das aber bisher noch nicht weiter verfolgt.

    Mit der Diagnose ist so einiges ins Rollen gekommen und die vergangenen Monate waren ein einziger Kraftakt für mich.
    Bis zum Ende des letzten Jahres habe ich mir noch beide Beine ausgerissen, um irgendwie meinem Job nachkommen zu können. Leider der absolut falsche Bereich für jemanden mit meinem Background 🫠. Denn der Witz an der Sache ist, dass ich studierte Sozialarbeiterin bin.

    Seither ist noch so einiges passiert und mittlerweile habe ich glücklicherweise eine neue Arbeitsstelle, aber ich hab noch super viel Arbeit vor mir und ne Menge Schiss davor, wieder alles an die Wand zu fahren.

    Aber die Diagnose hat so unendlich vieles für mich erklärt, das war der absolute Wahnsinn. Und ich lerne immer noch dazu!

    Vielen Dann für den Beitrag und alles Gute 🌱

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