Krank sein, wenn es eigentlich gerade gar nicht passt – wir alle kennen das und wir haben unterschiedliche Arten, damit umzugehen. „Arbeiten 2022“, eine neue Studie der Pronova Betriebskrankenkasse ergab, dass die Mehrheit der Deutschen tatsächlich auch krank zur Arbeit geht. Nur 28 Prozent bleiben konsequent zu Hause, wenn sie krank sind, und arbeiten auch dort nicht im Home Office. Jede:r fünfte Arbeitnehmer:in erscheint trotz ansteckenden Infekts im Betrieb oder Büro.
Was die Corona-Pandemie verändert hat
Ärzt:innen warnen natürlich davor, krank zu arbeiten. Denn so können nicht nur andere Menschen angesteckt werden, auch der eigene Körper kann sich ohne nötige Ruhe nicht ausreichend erholen. Viruserkrankungen können so wichtige Organe angreifen oder Symptome, die lediglich durch Medikamente unterdrückt werden, können sich verschlimmern. Außerdem arbeitet es sich krank meistens schlechter, Prozesse laufen verlangsamt ab, die Konzentration lässt nach. Allerdings stellt selbst eine Krankschreibung kein Arbeitsverbot dar, gearbeitet werden darf also trotz diagnostizierter Krankheit.
Selbst eine Krankschreibung stellt kein Arbeitsverbot dar.
Die letzten Jahre haben da nochmal einiges schlimmer gemacht, zeigt auch die Studie. Die Corona-Pandemie und die daraus resultierende Pflicht, bei Erkrankung zu Hause zu bleiben, sowie die Einführung des Home-Office führen heute dazu, dass fast jede:r Zehnte trotz positivem Test zur Arbeit geht. Nur 33 Prozent der Corona-Erkrankten bleiben bei einem leichten Verlauf so lange zu Hause, bis sie wieder symptomfrei und negativ getestet sind, viele andere warten die schlimmsten Symptome ab, bevor sie – nach wie vor positiv – zur Arbeit gehen. Dass sie damit ihre Kolleg:innen und sich selbst gefährden, dürfte klar sein. Auch, dass dieses Verhalten nicht gerade solidarisch ist.
Warum Menschen trotz Krankheit arbeiten
Es wäre trotzdem zu kurz gedacht, diese Menschen als unverantwortlich und unsolidarisch abzustempeln, denn fast immer steckt natürlich mehr dahinter: da sind die Angst um den Verlust des Arbeitsplatzes, der eigene hohe Erwartungsdruck, die Sorge um einen hohen Arbeitsrückstand und das Verantwortungsgefühl gegenüber Kolleg:innen. Die Angst, diese im Stich zu lassen, wird dann über die eigene Gesundheit gestellt.
Menschen, die sich nicht in gesicherten Arbeitsverhältnissen befinden und das Gefühl haben, sich beweisen zu müssen, verspüren einen hohen Druck.
Besonders Menschen, die sich nicht in gesicherten Arbeitsverhältnissen befinden, die gerade neu im Job sind und das Gefühl haben, sich erst beweisen zu müssen, verspüren einen hohen Druck, wenn sie zu Hause bleiben. Auch Erwerbstätige in Führungspositionen mit großer Arbeitslast fühlen sich oft so verantwortlich für ihre Mitarbeitenden, dass sie das Gefühl haben, unverzichtbar zu sein – und sich deshalb lieber krank zur Arbeit schleppen.
Die Home-Office-Kultur hat dazu beigetragen, dass Menschen vermehrt krank von zu Hause aus arbeiten.
Die Home-Office-Kultur hat außerdem dazu beigetragen, dass Menschen vermehrt krank von zu Hause aus arbeiten. Während der Pandemie haben viele Betriebe ihre Arbeitsweisen angepasst, was Menschen bis heute eine höhere Flexibilität ermöglicht, es ihnen gleichzeitig aber erschwert, Arbeit und Privates zu trennen. Bei einem leichten Corona-Verlauf oder einer anderen Krankheit, mit der wir nicht zum Arbeitsplatz gehen würden, aber auch nicht ans Bett gefesselt sind, arbeiten wir nun viel eher trotzdem von zu Hause aus. Das kann aber schnell zu Mehrfachbelastungen führen, weil zu Hause auch noch andere Verpflichtungen auf uns warten.
Und die Psyche?
Was die Studie ebenfalls ergeben hat: ein Drittel der Beschäftigten mit psychosomatischen oder psychischen Beschwerden erscheint trotzdem im Job. Das könnte mitunter daran liegen, dass psychische Erkrankungen viel zu oft immer noch nicht als ernstzunehmende Erkrankungen wahrgenommen werden, weil sie nach wie vor stigmatisiert und zudem oft unsichtbar sind. Stigmatisierung, Tabuisierung und Vorurteile führen oft dazu, dass Arbeitnehmer:innen psychische Beschwerden gegenüber ihren Arbeitgeber:innen nicht offen kommunizieren können.
Stigmatisierung, Tabuisierung und Vorurteile führen dazu, dass Arbeitnehmer:innen psychische Beschwerden nicht offen kommunizieren können.
Auch hier sorgte das Home Office für eine distanziertere und weniger offene Arbeitskultur, wodurch persönliche Gespräche und Bindungen weniger werden und es nicht so schnell auffällt, wenn es Kolleg:innen nicht gut zu gehen scheint.
Unterschiede zwischen den Geschlechtern?
Welche Rolle spielt das Geschlecht rund um Kranksein und Arbeiten? Arbeitende Frauen leiden der Studie zufolge mehr an Stress-Symptomen als Männer. Das können innere Anspannung, Erschöpfungsgefühle, Reizbarkeit oder Selbstzweifel sein. Frauen sind stärker davon betroffen, weil sie meistens zusätzlich zum Erwerbsleben einen höheren Mental Load tragen. Damit ist die Belastung gemeint, die durch das Organisieren und Bewältigen von Alltagsaufgaben entsteht, die weitestgehend unsichtbar bleiben, weil sie gemeinhin als „weibliche Aufgaben“ betrachtet werden. Frauen fühlen sich in ihrer Rolle oftmals mehr für das Wohl der Familie, ihrer Partnerperson oder auch ihrer Kolleg:innen verantwortlich und leisten wichtige Beziehungsarbeit.
Frauen sind stärker von Stress-Symptomen betroffen, weil sie einen höheren Mental Load tragen.
Hinzu kommt, dass Frauen oft einen hohen Erwartungsdruck an sich selbst haben, besonders viel Einsatz und Engagement zeigen zu müssen, um sich im Job zu beweisen und auf der Karriereleiter empor zu klettern. Ihnen fällt es aber auch oft leichter als Männern, ihre Belastung mit anderen zu teilen, was erklären könnte, warum sich Männer bei der gleichen selbstberichteten Erkrankung tatsächlich seltener krank melden als Frauen.*
Wer trägt Verantwortung?
Es ist sehr einfach, Arbeitnehmer:innen – Individuen – in die Verantwortung zu ziehen. Sollen die doch einfach zu Hause bleiben und solidarisch sein, wenn sie krank sind. Und wenn sie es nicht tun, können wir uns über sie ärgern.
Wir leben in einer Gesellschaft und in einem System, die es uns kaum erlauben, krank zu sein.
Viel zu selten aber sprechen wir über die Absurdität, dass wir in einer Gesellschaft und in einem Wirtschaftssystem leben, die es uns kaum erlauben, krank zu sein, weil für viele Menschen zu viel auf dem Spiel steht. Besonders für mehrfach marginalisierte, alleinerziehende, geringverdienende Menschen bedeutet Kranksein ein enorm hoher Organisationsaufwand, den sie ohne Unterstützung kaum stemmen können, weshalb sie sich am Ende doch eher krank zur Arbeit schleppen. In einer Welt, in der Gesundheit unser höchstes Gut sein sollte, müssen wir so fahrlässig mit ihr umgehen, weil sie zu einem Privileg geworden ist. Gesundheitliche Ungleichheit hat System, weil die Gesundheit Einzelner stark von Faktoren wie ihrer Bildung und ihrem Einkommen beeinflusst wird – und damit in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Arbeit steht.
Gesundheitliche Ungleichheit hat System und steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Arbeit.
Die Verantwortung darf also nicht länger auf Einzelne abgewälzt werden. Krank zur Arbeit zu gehen ist für niemanden gut, besonders nicht, wenn es äußeren Zwängen geschuldet ist. Wir müssen dringend über eine gesunde Arbeitskultur sprechen, im wahrsten Sinne des Wortes. Wir appellieren: habt den Mut, euch krank zu Hause ins Bett zu legen, wenn ihr krank seid. Habt den Mut, das euren Vorgesetzten mitzuteilen. Für viele ist das – insbesondere aus oben ausgeführten Gründen – nicht leicht, doch je mehr Menschen es tun, desto gesünder wird unsere Arbeitswelt.
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*Aufgrund einer immer noch vorherrschenden Binarität in der Forschung gibt es eine große Datenlücke bezüglich anderer Geschlechter als weiblich und männlich.
Headerfoto: Karolina Grabowska (Kategorie-Button hinzugefügt und Bild gecroppt.) Danke dafür!