„Wie schafft man Vertrauen?“ Ich bin 15 Jahre alt und sitze im Religionsunterricht und habe eigentlich die letzte Viertelstunde nur aus dem Fenster geschaut. Doch bei dieser Frage meines Lehrers werde ich hellhörig und wende mich ihm zu. Neugierig blicke ich in der Klasse umher. Eine Mitschülerin meldet sich und antwortet: „Durch Gespräche.“ Da war sie. Die Antwort, die mir nicht in den Sinn gekommen ist. Ein halbes Jahr später sollte mir erst bewusst werden, warum ich keine Antwort parat hatte: In meiner Familie gab es kein Vertrauen.
„Hast du deine Mutter gerade hasserfüllt angeguckt?“, schreit mein Vater wütend, während er mich an den Schultern packt und mich hin und her schüttelt als wollte er eine Antwort aus mir herausschütteln. Er fängt an, auf mich einzuschlagen. Auf meinen linken Arm. Immer und immer wieder. Ich bin vor Schreck wie gelähmt und wehre mich nicht einmal. Tränen kullern über mein Gesicht. Vielleicht ist es ja dieses Mal schnell vorbei.
Meine Eltern würden es niemals zugeben, aber ich bin fest davon überzeugt, dass meine Familie mich krank gemacht hat.
Etwa eine Woche später setzen schwere Atembeschwerden bei mir ein. Mein Herz beginnt unregelmäßig zu schlagen und es werden Herzrhythmusstörungen diagnostiziert. Meine Eltern würden es niemals zugeben, aber ich bin fest davon überzeugt, dass meine Familie mich krank gemacht hat. Meine Beschwerden beginnen genau zu dem Zeitpunkt, als ich mich in der Schule verzweifelt an meine Vertrauenslehrer gewandt habe, weil ich es zuhause nicht mehr ausgehalten habe. Ich halte das nicht für einen Zufall.
Einige Monate später liege ich in einer Herzklinik auf dem OP-Tisch und es wird Strom durch meinen Körper geleitet, um meine Herzrhythmusstörungen zu bekämpfen. Ich bin erst 16 Jahre alt und wollte diese OP nicht. Meine Eltern haben für mich und gegen meinen Willen entschieden, da ich noch minderjährig war.
In dem Moment, als die Ärzte die richtige Frequenz gefunden haben und den Strom durch meinen Körper leiten, denke ich, dass ich sterbe. 8 qualvolle Sekunden lang habe ich das Gefühl, innerlich zu verbrennen. Niemand sollte sich je so fühlen müssen, weder mit 16 noch mit 60.
Als ich wieder in meinem Krankenzimmer bin, kommt wenig später meine Mutter herein und strahlt mich an. Da war sie. Die Person (neben meinem Vater), wegen der ich hier in dieser Klinik liege, die mich zuhause so lange gequält hat, bis mein Körper völlig entkräftet war und die es in Kauf genommen hätte, wenn ich gestorben wäre. Heute ist es mir peinlich, dies zuzugeben, aber in dem Moment hätte ich gerne einmal zurückgeschlagen. Ich habe es nicht getan.
Kontaktsperre, um endlich Kontrolle über sich selbst zu haben – und doch bräuchte es eigentlich eine Aussprache und Entschuldigung
Heute – fast 12 Jahre später – würde ich gern von einem Happy End erzählen. Doch die Wahrheit ist: Es gibt keins. Jedenfalls keines wie im Film.
Als letzte Möglichkeit, die Kontrolle über mein Leben zurück zu gewinnen, habe ich den Kontakt zu meinen Eltern vor drei Jahren abgebrochen. Nicht mal diese Entscheidung haben sie akzeptiert. Nach ewigem Hin und Her und Chancen geben meinerseits, ist nun seit sechs Monaten Funkstille.
Ich finde es schade, dass es so kommen musste und ich bin keineswegs glücklich darüber. Mein inneres Kind sehnt sich nach einer Aussprache und vor allem einer Entschuldigung. Ich habe Jahre gebraucht, um zu akzeptieren, dass ich keine bekommen werde.
Ein Klaps auf den Hintern hat noch keinem geschadet? Von wegen: Schläge hinterlassen immer Spuren
Schläge hinterlassen immer Spuren. Nicht immer sind es sichtbare, viel tiefer sitzen die seelischen Verletzungen. Dass jemand, dessen Aufgabe es ist, einen zu beschützen, einen verletzt hat.
Leider ist Gewalt in der Familie bis heute ein Tabuthema in unserer Gesellschaft. Umso wichtiger ist es, darüber zu sprechen. Dass es nicht okay ist, wenn euch jemand weh tut, ganz egal, wie die Person das auch rechtfertigt. Dass ihr das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung habt und was am allerwichtigsten ist: Es ist niemals eure Schuld.
Wenn du betroffen bist, suche dir bitte Hilfe. Du bist nicht allein. Wenn du selbst Gewalt in deiner Familie erlebst, kannst du dich kostenlos und anonym an das Jugendhilfetelefon Nummer gegen Kummer wenden (auch für überforderte Eltern). Bei Gewalt in der Beziehung oder sonstigen Formen kannst außerdem das Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen kontaktieren. Wie man Misshandlungen bei Kindern als Außenstehende*r erkennt, erfährst du auf dieser Infoseite der Polizei.
Headerbild: Caroline Hernandez via Unsplash. („Gesellschaftsspiel“-Button hinzugefügt.) Danke dafür!