Jeder Tag wie Sonntag – In der Isolation Perus verliert sich jedes Zeitgefühl

D. … Sein Mund formt Silben, deren weich geschliffene Konsonanten und vollen Vokale nur gedämpft an mein Ohr dringen. Gebannt schaue ich auf seine herausfordernd geschwungenen Lippen – viel zu sinnlich, viel zu einladend – und erschauere innerlich bei jedem vibrierenden „R“.

Mein eigener Name wird zu meinem Feind: R … Er bedient sich seiner verheerenden Wirkung schamlos, indem er jeden zweiten seiner Sätze mit diesem einleitet.

R …, … Die Zunge tippt leicht an die oberen Schneidezähne und produziert dabei einen Laut, der an das tiefe, kehlige Knurren eines Raubtieres erinnert, kurz bevor es angreift. Ich lausche gebannt und verstehe nichts, kein einziges Wort. Die Sätze tanzen in meinem Kopf durcheinander.

Wie gebannt verfolge ich den Flug seiner Hände, das Heben und Senken, Deuten und Zeigen, Fingerspitzen, die unsichtbare Energiepunkte antippen, wirbelnde Kreise ziehen und einmal fast meinen nackten Arm streifen. Überflüssig zu erwähnen, dass sich bei dem leichten Lufthauch sämtliche Härchen auf meinem Arm kerzengerade aufstellen.

Und dann … Stille.

Mein hypnotisierter Verstand registriert mit träger Langsamkeit und ziemlich zeitverzögert die Veränderung. Und es dauert einige weitere Sekunden, bis ich die Situation komplett erfasse, gleichzeitig erhalte ich von meinem Gehirn nur diesen einen panischen Befehl: Sag etwas! Irgend etwas!

Ich öffne den Mund, in meinem Kopf herrscht gähnende Leere. Sein Blick kreuzt meinen. Ein bernsteinfarbener Blitz aus mandelförmigen Augen. Ein Wimpernschlag. Ein tödlicher Treffer, direkt zwischen die Augen.

 

Ich stehe auf der Terrasse, oben auf dem Dach des Hauses, zwischen schlecht verputzten Wänden, von denen der Mörtel bereits abfällt und aus denen hier und da verrostete Metallstreben ragen. Es ist Montag oder Mittwoch oder Freitag, ich weiß es nicht, habe es vergessen. Im Grunde spielt es auch keine Rolle, nach Ablauf der zweiten Woche in Isolation gleicht jeder Tag dem anderen. Jeder Tag Sonntag.

Vizcarra, Perus Präsident hat vor 44 Tagen den Notstand ausgerufen. Binnen weniger Stunden war das Militär aus der Hauptstadt angerückt, schwer bewaffnet an jeder Straßenecke Posten beziehend. Junge Männer in Uniform, die sich in schattige Häuserecken drücken oder unter vertrockneten und nur spärlich belaubten, knorrigen Bäumchen Schutz suchen vor der erbarmungslos stechenden Sonne Arequipas, das Gewehr in der vor Hitze flirrenden Luft lässig über der Schulter hängend.

Stimmen werden laut, Stimmen des Protests und der zur Schau gestellten Rebellion, andere scherzen hinter vorgehaltener Hand, freuen sich über die unerwartete Auszeit – zwei Wochen sind schließlich überschaubar. Die üblichen Memes machen die Runde. Alles halb so schlimm.

Doch nur innerhalb weniger Tage kippt die Stimmung

Vizcarra verstärkt die Sicherheitsmaßnamen. Man darf nur noch in dringenden Fällen das Haus verlassen, z.B. um Einkäufe zu erledigen – pro Familie nur eine Person – Apotheken oder Krankenhäuser aufzusuchen. Beschäftigte in diesen Sektoren sind natürlich freigestellt, allen anderen ist der Ausgang strengstens untersagt und nach 18 Uhr darf sich niemand mehr im Freien aufhalten. Im Norden des Landes, wo die Zahl der Ansteckungen am höchsten ist, gilt die Ausgangssperre schon ab 16 Uhr.

Bei Zuwiderhandlungen drohen Festnahmen, Geldstrafen und in bestimmten Fällen auch Gefängnisstrafen bis zu fünf Jahren. Ein Aufstöhnen und unwilliges Murren geht durch die Bevölkerung, doch man hält sich an die Vorgaben, größtenteils … Die jungen, uniformierten Männer rund um meinen Häuserblock stehen wachsam auf ihren Posten, mit durchgedrückten Rücken, aufrecht trotz der sengenden Sonne und das Gewehr im Anschlag.

Die Stimmung ist allgemein gereizt, die Gemüter hitzig, immer öfter entladen sich die angestauten Emotionen in Handgreiflichkeiten.

Die Stimmung ist allgemein gereizt, die Gemüter hitzig, immer öfter entladen sich die angestauten Emotionen in Handgreiflichkeiten. Und schließlich ergeht ein neuerlicher Erlass. Nunmehr herrscht eine absolute Tragepflicht der Schutzmaske, Männer und Frauen dürfen nur noch getrennt und jeweils im Zwei-Tagesrhythmus auf die Straße – Letzteres wird aber aufgrund mangelnder Disziplin nach zwei Wochen wieder aufgehoben. Sonntags gilt eine 24-stündige Ausgangssperre.

Das Militär hat den Schießbefehl erhalten und wurde dazu angehalten, alle notwendigen Maßnahmen zur Eindämmung der Gefahr zu ergreifen ohne hinterher gerichtliche Konsequenzen befürchten zu müssen.

Es ist Montag oder Mittwoch oder Freitag, ich weiß es nicht, habe es vergessen. Es ist auch nicht wichtig, denn schließlich gleicht jeder Tag dem andern. Jeder Tag Sonntag.

Ich stehe auf der Dachterrasse und blicke hinunter auf die menschenleere Straße unter mir. Man könnte fast glauben, alles wäre in Ordnung. Ich höre Vogelgezwitscher, vereinzeltes Hundebellen, dazwischen tönt aus der Ferne eine Sirene. Es ist Montag oder Mittwoch oder Freitag, ich weiß es nicht, habe es vergessen. Es ist auch nicht wichtig, denn schließlich gleicht jeder Tag dem andern. Jeder Tag Sonntag.

Warten. In jedem Augenpaar, das mir über den Rand der Atemmaske entgegenblickt, lese ich dieselbe stumme Frage: „Was wird wohl werden?“ Eine nagende Ungewissheit, die sich in zornig gerunzelten Augenbrauen und barschen Wortwechseln ausdrückt und manchmal im schnellen Wegsehen von glanzlos gewordenen Augen. Mutlosigkeit, Angst, Resignation und das ist fast noch schlimmer.

Was wird werden?

Im Land des Wartens ticken die Uhren jetzt noch langsamer. Warten. Ende April, das Ende der Quarantäne. Ein sanfter Hoffnungsschimmer. Dann die Meldung: Kinos, Theater und Diskotheken bleiben bis Ende 2020 geschlossen, größere Veranstaltungen wie etwa Konzerte sind ganzjährig abgesagt. Und endlich dämmert auch dem Letzten, dass ein „Alles-wie-früher“ nicht eintreten wird.

Die Sonne wandert hinter die Fassade einer der unvermeidlichen Betonkästen, die es hier zuhauf gibt, die Schatten werden länger und ein kühler Wind kommt auf. Das Hundebellen ist verstummt, auch die Sirene, dafür ertönt aus der Nachbarwohnung die Melodie von Somewhere only we know. Wo immer das sein mag.

Fröstelnd schiebe ich die Hände in die dafür viel zu kleinen Hosentaschen. Noch fünf Minuten … Ich habe keine Angst, nicht um mich. Und doch kann ich nicht umhin, angesichts der Ironie meiner Situation grimmig zu lächeln.

Ich habe mich selbst isoliert, vor Jahren schon. Von meiner Familie, meinen Freund*innen, bin weggelaufen, fort in ein fremdes Land. Hoch über den Wolken und die gezackte Linie der peruanischen Anden tausende von Kilometer unter mir, habe alles Vertraute hinter mir gelassen und endlich auch mein altes, längst totgeweihtes Ich. Wachstumsschmerzen hinterlassen manchmal Narben.

Ich habe mich selbst isoliert, vor Jahren schon. Von meiner Familie, meinen Freund*innen, bin weggelaufen, fort in ein fremdes Land.

Weit genug weg hieß für mich zwei Kontinente und ein Ozean dazwischen. Und jetzt, wo ich mich gefunden, neu erfunden habe, endlich bei mir selbst bin, heil oder so gut wie, wird ein Wiedersehen auf Monate oder Jahre hinweg nicht möglich sein. Zwei Kontinente, ein Ozean dazwischen, sechs Stunden Zeitunterschied, im Sommer sieben. Und doch fühle ich mich aller Entfernung zum trotz meiner Familie näher als je zuvor.

M.s Worte fallen mir wieder ein: „In was für einer kaputten Welt leben wir doch, wie kaputt sind wir selbst an Verstand und Gefühl, wenn wir nur zu schätzen lernen, was wir verloren haben?“

Ich weiß es nicht, ich wünschte, ich hätte die Antworten auf all die bohrenden Fragen, geschliffene Sätze eines noch geschliffeneren Verstandes, ein unerschütterliches Selbstvertrauen, gepaart mit der immer währenden Gewissheit: Alles wird gut. Doch tatsächlich bin ich häufig genauso ratlos. Und müsste ich all meine Weisheit auf einen Punkt bringen, so fürchte ich, käme letzten Endes nur ein furchtbar kitschiger Kalenderspruch dabei heraus: Liebe, lebe und warte nicht auf morgen.

Aber es wirkt und ich nehme mir vor, von jetzt an mutiger zu sein. Ein letzter Rest Licht streift mein Gesicht, dann ist es schlagartig dunkel, als hätte jemand den Lichtschalter umgelegt. Ich denke an D., an das perfekte Oval seiner Augen, und seinen unteren Schneidezahn, der ein wenig schief ist, und ich frage mich, wie dieser sich wohl unter meiner Zunge anfühlt …

In der Abgeschiedenheit meiner vier Wände verliere ich jegliches Zeitgefühl. Die Grenzen verschwimmen zusehends. Jeder Tag Sonntag.

Der morgige Tag und alle Pläne scheinen Lichtjahre entfernt. In der Abgeschiedenheit meiner vier Wände verliere ich jegliches Zeitgefühl. Montag, Mittwoch oder Freitag, die Tage reihen sich nahtlos aneinander, die Grenzen verschwimmen zusehends. Jeder Tag Sonntag.

Es könnte mir besser gehen, es könnte mir aber auch viel schlechter gehen. Meine surreale Blase hat stabile Wände, bietet dafür aber auch einigen Komfort. Ich will mich auch gar nicht beschweren. Dennoch komme ich nicht umhin, gegen die Eintönigkeit meiner täglichen Routine aufzubegehren.

Social Distancing ist nicht das Problem, physische Durststrecken? Ok. Ich mache mir keine Sorgen, nicht um mich. Die Wände meiner selbst gewählten Festung werden mit jedem Tag stärker, unüberwindbarer, manchmal hilft da nur kräftig dagegentreten oder die vertraute Stimme eines geliebten Menschen und die Gewissheit, dass es ihm gut geht, wo auch immer er gerade ist.

Keine besonderen Pläne für morgen, außer … Ich rufe meine Eltern an.

Wie jeden Sonntag.

Anm. d. Red.: Wir finden es wichtig, einzelne Perspektiven von Betroffenen und die damit verbundenen Belastungen in der Corona-Pandemie zu zeigen. Wir sind alle auf unsere ganz persönliche Weise betroffen. Die meisten Maßnahmen sind aus unserer Sicht berechtigt und notwenig, um die Pandemie einzudämmen – auch wenn das Einhalten schwerfällt. Alle Artikel zum Thema Corona findest du hier.

Die Nächste Liebe Hält Ein Lebenlang ist in Peru geboren, aber in Deutschland aufgewachsen.
Nach dem Studium begab sie sich auf sogenannte Spurensuche auf den südamerikanischen Kontinent. Was anfangs als klischeehafter Selbstfindungstrip gedacht war, entwickelte sich bald zu einem Selbstläufer, eine Art Odyssee, an deren Ende sie um ein paar blaue Flecken und immerhin um die Erkenntnis reicher war, dass Heimat gar kein Ort ist, ein Song mitunter dein Leben retten kann und man manchmal erst losgehen muss, um anzukommen. Mehr zu ihr findet ihr hier.

Dieser Text ist bereits hier erschienen.

Headerbild: Ammie Ego via Unsplash. („Gesellschaftsspiel“-Button hinzugefügt.) Danke dafür!

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