Ich bin regelmäßig sehr fasziniert davon, wie Erinnerungen funktionieren. Besonders starke Flashbacks werden bei mir durch Gerüche und Musik ausgelöst. Gerade wurde ich dank eines Liedes, welches wahrscheinlich schon ganz viele nicht mehr hören können, und welches, zugegeben, auch ein bisschen kitschig ist, zurück in meine Kindheit katapultiert. Mein kleines Ich hatte sich damals, als „Irgendwas bleibt“ von Silbermond in den Radios hoch und runter gespielt wurde, eine ganz besondere Erinnerung zu diesem Lied gestrickt.
Sommer auf dem Bauernhof
Ich war 10 Jahre alt und verbrachte eine Woche der Sommerferien auf einem Bauernhof, so wie jedes Jahr in der Grundschulzeit. Tiere füttern, Stallausmisten, Töpfern, Kerzenziehen und Filzen. Der Geruch von Kernseife, Metall aus der Schmiede und Kaninchenfell. Die klare Luft während der Nachtwanderungen und Staub an den Händen vom Fossiliensammeln.
Mein Inbegriff von Kindheitssommer schlummert in dieser kleinen verschlafenen Ortschaft.
Knusperflocken für zwischendurch, Krümeltee aus einem großen Bottich und süße Globuli gegen den Heuschnupfen. Mein Inbegriff von Kindheitssommer schlummert in dieser kleinen verschlafenen Ortschaft, welche im ehemaligen „Konsum“ am Dorfplatz immer noch Postkarten aus DDR-Zeiten verkauft hatte.
Kleeblätter und MP3-Player
Für den Talentwettbewerb eines Abends hatte ich mir überlegt, ein aktuelles Lied zu singen, welches ich im Kopf hatte. Die Wahl fiel auf „Irgendwas bleibt“ von Silbermond und mithilfe des MP3-Players eines der älteren Mädchen probte ich das Ganze ein paar Minuten vor der Angst ein. Auf der Wiese vor der Dorfhalle hatte ich dabei noch ein vierblättriges Kleeblatt gefunden und wertete dies als positives Omen.
Auf der Wiese vor der Dorfhalle hatte ich ein vierblättriges Kleeblatt gefunden und wertete dies als positives Omen.
Und siehe da: Ich stellte mich vor die Menge, schmetterte das Lied a capella hin und gewann den ersten Platz – eine große Tüte Gummibären. Vielleicht legte bereits dieses Erlebnis bei mir den Grundstein für mein Interesse an Schauspiel und den Brettern, die die Welt bedeuten. Und meinen kleinen, aber feinen Hang zur Dramatik.
Angst vor Vergänglichkeit
Es ist 2023. Ich habe mich von Gummibären mit Gelatine und kleinen, verschlafenen Ortschaften losgesagt, aber ein dramatischer Mensch bin ich immer noch. Wie jede erwachsene Person habe ich mein Päckchen zu tragen und alte Verletzungen, hier und da handfeste Traumata und so einige Ängste angesammelt. Eine meine größten: Die Angst vor Vergänglichkeit. Kaum etwas jagt mir so viel Angst ein wie die Zeit selbst.
Kaum etwas jagt mir so viel Angst ein wie die Zeit selbst.
Die Tatsache, dass sie tickt und tickt und tickt und weder ich, noch sonst ein Mensch auf der Welt sie aufhalten können. Schon während der Zeit auf dem Bauernhof habe ich mir den Kopf darüber zerbrochen, wie vergänglich alles ist. Dass keine Sekunde so ist wie die vorangegangene. Dass in jeder Millisekunde die Welt – strenggenommen – eine komplett andere ist.
Kopflos, planlos, haltlos
Jetzt, mit 24 Jahren, habe ich ein Gedicht über den Wunsch nach einer Konstante geschrieben. Und mich just an dieses Lied erinnert. Ein Teil meines Gehirns besinnt sich noch, dass der Text mal relevant war und wir beide zusammen ihn einstudiert hatten. Den rohen Text, wohlgemerkt, jedoch nicht die eigentliche Bedeutung dahinter. Was wusste ich während der Grundschulzeit schon über das Gefühl, komplett verloren zu sein? Ein unbeständiges Studierendenleben zu führen? Tinder und Co. gab es noch nicht und das Wort „Situationship“ hätte ich damals nicht mal buchstabieren können.
Was wusste ich während der Grundschuldzeit schon über das Gefühl, komplett verloren zu sein?
Das Gefühl, als ich das Lied jetzt wieder höre, kratzt unsagbar schmerzhaft an einem Teil meines Herzens, den ich im Alltag nicht allzu weit öffne. Ob Silbermond geahnt haben, dass unser aller Leben noch schneller, noch vergänglicher, noch atemloser werden würde?
Erinnerungen auf dem Kassettenrekorder
Denn ich sehne mich, mehr als 10 Jahre nach meiner improvisierten Version von „Irgendwas bleibt“, nach genau so etwas. Nach etwas, was doch bitte endlich mal bleibt. „Diese Welt ist schnell und hat verlernt beständig zu sein, denn Versuchungen setzen ihre Frist“. Ich verspüre den Wunsch, mich in vergangene Sommer zu flüchten, weil ich nicht damit zurechtkomme, dass sie vorbei sind und ich sie nicht wiederholen kann.
Ich verspüre den Wunsch, mich in vergangene Sommer zu flüchten, weil ich nicht damit zurechtkomme, dass sie vorbei sind und ich sie nicht wiederholen kann.
Ich spule in meinem Kopf Erinnerungen zurück wie damals die Bibi und Tina Episoden auf meinem Kassettenrekorder. Ich habe den Drang, zu toxischen Personen zurückzukehren, einfach weil sie mir bekannt und vertraut sind. Statt nach vorne zu blicken, schaue ich viel zu oft und immer wieder zurück.
„Gib mir einfach nur ein bisschen Halt“
Als Tochter aus einer zerrütteten Familie mit geschiedenen Eltern mag es nur logisch erscheinen, dass ich mich so sehr nach einer beständigen Konstante sehne, zugleich aber fast schon panisch feste Strukturen vermeide. Jede Woche meine Haare färben oder mein Mobiliar ändern würde, wenn ich könnte.
Ich habe Angst, mir Halt bei einem anderen Menschen zu suchen, weil ich mich auf niemanden außer mich selbst verlassen möchte.
Zugleich aber so sehr an der Vergangenheit hänge, dass ich ihr manchmal hinterhertrauere, als wäre da eine Person aus Fleisch und Blut aus meinem Leben geschieden. Ich habe Angst, mir den Halt bei einem anderen Menschen zu suchen, weil ich mich auf niemanden außer mich selbst verlassen möchte. Wenn ich mich an nichts kette, kann mich auch nichts abstoßen, als wäre ich bloß eine weitere Phase eines Raketenstarts.
„Aber das einzig Berechenbare am Leben ist seine Unberechenbarkeit“
Die Krux ist nur: Mein Herz weiß das irgendwie nicht. Mein Hang zur Dramatik versteift sich sehr auf Personen, welche mich inspirieren und mich für eine Weile auf einen weiteren Raketenflug mitnehmen. Nur, damit ich hinterher wieder haltlos – ohne etwas, das bleibt – und benommen im All schwebe. Und gleich die nächste Krux hintendran: Diesen Halt werde ich auch nur partiell im Außen finden.
Diesen Halt werde ich nur partiell im Außen fnden.
Denn was mein 10-jähriges Ich damals auch noch nicht wusste, geschweige denn wirklich hätte begreifen können: Halt kann sich jede Person nur selbst wirklich geben. „Aber das einzig Berechenbare am Leben ist seine Unberechenbarkeit“, sagt Remi an einer Stelle in Ratatouille. So hole ich mir Überlebenstipps für das 21. Jahrhundert bei einer animierten Ratte eines multimedialen Großkonzerns.
Die Nachtwandlerin ist leider entgegen der menschlichen Natur viel zu oft und viel zu lang nachts munter. Aber derweil erscheint ihr einfach die Luft klarer und reiner, wenn alles schläft. In der Dunkelheit kann sie ihre Gedanken meist besser hören. Daher der Name Nachtwandlerin. Sie studiert „Literatur – Kunst – Kultur“ im Master und man findet sie stets auf dem Sprung, immer unterwegs zu neuen Konzerten und neuen Sehnsüchten. Dies meist per Bahn, wo sie ihren kleinen Kopf mit den viel zu großen Gedankenansammlungen hinter Buchseiten verschanzt oder den Gedanken durch Musikhören und Aus-Dem-Fenster-Schauen Auslauf gewährt. Mehr nachtwandlerische Gedanken gibt es auf Instagram und auf ihrem Blog.
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