Es ist 8 Uhr morgens, ich sitze unzahngebürstet, ungeschminkt, Sonnenbrille montiert, mit ungewaschenen Haaren, Kapuzenpulli und Trainingshosen auf einer Bank neben dem Brunnen im Studerstein-Park in der Länggasse. Dieses Outfit ist in den letzten Wochen schon fast salonfähig geworden. In den Zeiten von „Wir bleiben zuhause“ fällt nicht weiter auf, wenn wir uns auch draußen so zeigen, wie wir drinnen rumlaufen.
Die Sonne scheint mich unverschämt strahlend an, das Wasser sprudelt unversiegbar aus dem Hahn und plätschert völlig unverbraucht und nutzlos in das Becken, um gleich wieder in irgendeiner unterirdischen Röhre zu verschwinden. Was für ein Gegensatz (oder Überfluss) zur Trockenheit draußen in der Natur.
In 21 Tagen Fülle ins Leben holen. Wie bitte?
Seit sieben Tagen mache ich eine „Challenge“ mit: das 21-Tage-Fülle-Meditationsprogramm. Keine Ahnung, wieso ich mich darauf eingelassen habe. Wahrscheinlich, weil das Leben gerade nicht so voll ist. Es darf sich also ruhig etwas füllen. Immerhin ein Programm, jetzt, wo vieles andere wegfällt. Natürlich scheint es etwas vermessen, so etwas zu tun, jetzt, wo es so vielen Menschen schlecht geht. Trotzdem – schaue ich zu mir, kann ich andere unterstützen. Also los!
Jeden Tag kriege ich ein Tagesmotto, eine Aufgabe und eine Meditation. Es geht häufig darum zu erkennen: Wir haben alles in uns, was wir brauchen, um Fülle zu erfahren, die Quelle ist unerschöpflich, und die Energie fließt dorthin, wohin wir unsere Aufmerksamkeit richten, und so werden unsere Wünsche Realität. Du wünschst dir mehr Geld? Kein Problem. Wünsche es und es kommt zu dir. Klingt alles etwas nach abgehobenem Gefasel und Plattitüden, nicht wahr?
Bisheriger Effekt: Die täglichen Übungen machen mich sensibler und wacher für die Zeichen von Fülle. Vor allem die Natur platzt jetzt schier vor Überfluss. Ich nehme überall pures Übermaß wahr: Blätter, Blüten, Blumen, Farben, Vogelgezwitscher, Pollen … eines Morgens, als ich um halb sechs (!!!) erwache, singen die Vögel derart laut, dass ich sie aufnehme. Ein Corona-Zeit-Dokument sozusagen. In dieser Hinsicht ist das Programm schon jetzt ein voller Erfolg.
Es darf alles sein. An Ideen fehlt es nie, meine Gefühlswelt ist reich, meine Gedankenwelt demnach superreich. Ich bin sozusagen Milliardärin.
Und was sonst? Ich sehe, dass auch ich nur so überquelle von Ideen, Gedanken oder Gefühlen. Eigentlich habe ich das so noch nie betrachtet. Dass ich es auch als Reichtum sehen kann und nicht als belastend, so viel zu spüren und zu denken. Es darf alles sein. An Ideen fehlt es nie, meine Gefühlswelt ist reich, meine Gedankenwelt demnach superreich. Ich bin sozusagen Milliardärin. Ist doch schon mal etwas, auch wenn damit noch nicht meine Wünsche er-füllt sind. Auch das ist kein Problem laut dem 21-Tage-Programm. Aber: Will ich überhaupt alle meine Wünsche erfüllt haben?
Ich wünsche mir: Eine friedliche Welt ohne Corona, gesunde Menschen, einen gesunden Planeten. Jetzt könnte ich ganz viel aufzählen, aber das geht irgendwie zu weit. Da verzettle ich mich ja mit der Aufmerksamkeit. Multitasking hat noch nie funktioniert. Also im Kleinen, nur für mich ganz egoistisch wünsche ich mir: Viele schöne Momente mit lieben Menschen bei Essen, Kaffee, Apéro. Inspiration fürs Schreiben, für neue Bilder, eine neue Reise, viele Coaching-Aufträge, 5 Kilos weniger auf den Hüften, neue Sommerschuhe, schöne Freundschaften, Liebe …?
Nimm das wahr, was da ist
Plötzlich bin ich unsicher, ob ich so viel Fülle verkraften kann, wie das Programm verspricht. „Fülle – einfach so? Alles, was ich mir wünsche, ohne Aufwand, ohne Krampf, ohne es zu erarbeiten? Darf ich das?“, frage ich mich. Und schwups, bin ich wieder in vertrauten Gedankenspielen. Alte Mantras, deren Lebenszeit langsam abgelaufen sein sollte. Natürlich darf ich. Alles ist da und ich bin genauso richtig, mit all meinem Superreichtum und Träumen und Wünschen. Und meinem fülligen Haar, das jetzt unter der Kapuze versteckt ist, weil ich eben ungeduscht bin.
Nächste Aufgabe im Tagesprogramm: Duschen und Haare waschen! Und nach 21 Tagen werden wir sehen, wo die Fülle bleibt. Ich sag’s euch dann. Milliardärin bin ich ja schon. Das wäre also sozusagen erfüllt. Check.
Übrigens heißt Fülle in anderen Sprachen abondance, abundance, abbondanza, abundancia, abundância, kommt vom Lateinischen „abundare“ und bedeutet „Reich sein an etwas, im Überfluss haben“. Fülle umfasst also Reichtum, Überfluss, Menge, Intensität, volles Mass und ist das Gegenteil von „Flasche leer“.
Von der kleinen Linguistin in mir.
Anm. d. Red.: Wir finden es wichtig, einzelne Perspektiven von Betroffenen und die damit verbundenen Belastungen in der Corona-Pandemie zu zeigen. Wir sind alle auf unsere ganz persönliche Weise betroffen. Die meisten Maßnahmen sind aus unserer Sicht berechtigt und notwenig, um die Pandemie einzudämmen – auch wenn das Einhalten schwerfällt. Alle Artikel zum Thema Corona findest du hier.
Headerfoto: Vasile Taranovici via Unsplash. („Wahrheit oder Licht“-Button hinzugefügt und zugeschnitten.) Danke dafür!