Ich bin mit Ilona Hartmann verabredet. Es ist gut, sie auch einmal reden zu hören. Oft wünsche ich mir einen Tweet von ihr als Kopfstimme – in Situationen, in denen ich mich frage, ob etwa im Park oder beim Spaziergang am Kanal ein neuer Trend an mir vorbeiläuft; oder ob ich in der jedem zugrundeliegenden Alltagseigenart gar nicht so alleine bin.
Ilona Hartmann scheint tagtäglich Generationsforschung zu betreiben, das Tagesgeschehen unter die Lupe zu nehmen und das dann auf Instagram und Twitter in Humor zu verwandeln. Beruhigend, auch wenn es weh tut.
Du rufst mit unterdrückter Nummer an?
Ilona Hartmann: Das ist nicht persönlich gemeint, das mache ich bei jedem, den ich beruflich anrufe. Kann total weird sein, wenn jemand, mit dem du vor 6 Jahren 10 Minuten was besprochen hast, deine Nummer hat und dich dann Jahre später aus dem Blauen heraus anruft, weil „man kennt sich ja“.
Ich freu mich jedenfalls, dass wir jetzt miteinander reden können.
Ilona Hartmann: Ich mich auch. Darf ich fragen, wie alt du bist?
23.
Ilona Hartmann: Bist du also Zoomer oder noch Millennial?
Zoomer?
Ilona Hartmann: Ja! Heißt doch so.
Generation Z. Ich dachte, das heißt Zler!
Ilona Hartmann: (Lacht) Ein was? Na ja. Und wie fühlt sich das an?
Sagen wir so: Es ist ein ständiges Wundern.
Ilona Hartmann: Darf ich mal fragen: Du als „Zler“, wie findest du uns Millennials?
Ich bin auf der einen Seite sehr dankbar, weil ihr vieles leichter gemacht habt. Zum Beispiel über psychische Probleme oder mentale Gesundheit an sich zu reden. Auch für die Entscheidungsfreiheit, die sich auf Liebe und Arbeit bezieht. Aber mir fällt vielleicht ein Aspekt ein, der mich nervt: Spontanitätszwang. Dass es seltsam geworden ist, Dinge zu planen. So etwas ist altmodisch. Wirkt einengend, dabei verringert die Spontanität der Anderen die eigene Freiheit. Und dadurch, dass ich das sage, fühle ich mich ziemlich konservativ.
Ilona Hartmann: Aber ich glaube, da leiden wir alle drunter. Ich habe mich neulich, wie in den Neunzigern, mit einer Freundin um 16 Uhr an einem konkreten Ort verabredet und wir hatten beide unsere Handys nicht dabei. Wir hätten gar nicht spontan absagen können! Turns out: Ich war da und sie nicht. Sie kam wegen Bahnverspätung vierzig Minuten zu spät und ich bin nach einer halben Stunde Warten wieder los.
Ich meine, die Spontanität ist ja nicht nur dafür gut, spontan Dinge zu machen, sondern auch abzusagen. Ich würde lügen, wenn ich behauptete, dass mich das NUR stören würde. Ein Freund von mir wohnt drei Straßen entfernt von mir und ich habe ihm seinen Schlüssel, den er bei mir vergessen hatte, seit drei Wochen nicht zurückgegeben, weil es „immer nicht so gut gepasst hat“. Aber ich beobachte an mir selbst, dass ich dann entlarvend lange Entschuldigungen schreibe. Bald bringe ich ihn vorbei.
Ilona Hartmann: Ich glaube, wir müssen als Gesellschaft erst einmal einen Umgang mit der neuen Spontanität finden. Das digitale Zeitalter ist ja trotz allem noch sehr jung.
Wir müssen als Gesellschaft erst einmal einen Umgang mit der neuen Spontanität finden.
Ich genieße es, Google Maps anstelle eines Stadtplans zu verwenden und dass ich schnell vernetzt bin, Dinge verschieben kann. Trotzdem müssen wir alle lernen, dass stabile verlässliche Verabredungen gesund sind.
Die Generation Z machte den Begriff JOMO (the joy of missing out) bekannt. Die Millennials hingegen FOMO (fear of missing out). JOMO ist ein neuer Zustand, eine Art Gegenvorschlag. Aber FOMO ist ja gar kein Phänomen mehr. Es ist ein zu akzeptierender Zustand geworden.
Ilona Hartmann: Ja! Ich weiß auch gar nicht, wann der Punkt erreicht war, an dem realisiert wurde, dass man sowieso ständig etwas verpasst, und Angst bekam. Es war ja eh schon immer so, dass man irgendetwas verpasst. Nur irgendwann hat man diesen Begriff dafür gefunden und dann kam die allgemeine Erkenntnis und die Furcht davor.
Dann kam die Selbstreflexion.
Ilona Hartmann: Ich kann die Gegenbewegung aber auch voll verstehen. Man muss nicht alles mitnehmen oder erleben, was gerade irgendwo passiert. Allein, dass es diesen Begriff der Gegenbewegung braucht, zeigt ja, dass dieser gesamte Themenkomplex ein Problem ist. So viele Dinge passieren. Und die Beschäftigung damit schlägt entweder in eine Angst, etwas zu verpassen, oder die Glorifizierung des Nichterlebens um.
Ich finde aber, dass es eher den Begriff FOMO braucht als JOMO. FOMO sollte man sich bewusst sein. JOMO ist eher ein Lifestyle. Für FOMO kann man sich ja nicht entscheiden. Aber manche nutzen JOMO auch als Verkleidung für ihren sozialen Egoismus. JOMO kann auch schädlich sein.
Ilona Hartmann: Es braucht trendige Schlagwörter, um so etwas greifbarer zu machen.
Ein Autor hat in einer größeren deutschen Tageszeitung vor einiger Zeit, die Millennials folgendermaßen beschrieben: „Sie sind wie Zombies. Sie sind orientierungslos und ziemlich gleichgültig.“
Ilona Hartmann: (Lacht) Das hat bestimmt ein Boomer geschrieben.
Die zwischen 1946 und 64 Geborenen … Aber schauen wir auf die Nachfolgegeneration, die Generation X: Wenn die Millennials der Generation Z gewisse Freiheiten ermöglicht hat, hat die Generation X auch etwas Bedeutendes für die Millennials getan?
Ilona Hartmann: Ja, ich glaube, die haben auf jeden Fall die Strukturen geschaffen, sodass wir heute astrein überfordert sein können von all unseren Möglichkeiten.
Vielleicht kommt daher das ständig benutzte Alltags-„Vielleicht“?
Ilona Hartmann: Generation Maybe! Aber dieses Zitat, bezieht sich das auf Millennials?
Ich habe das Gefühl, dass jede Generation so etwas über die andere sagt. Sicher fiel dieses Urteil auch schon über die Generation Z.
Ilona Hartmann: Ich weiß nicht, ob ich eine Ausnahme bin. Aber ich war eigentlich immer ziemlich orientiert. Ich denke aber auch manchmal mit Sorge an die Zoomer. Wir Millennials glorifizieren sie zu sehr. Wir denken: „Jetzt kommen die Zoomer. Die sind politisch aktiv, aufgeklärt, reden über unangenehme Themen. Die retten die Umwelt!“ Ich glaube, das ist gar nicht so gesund.
Aber das ist vielleicht normal bis zu einem gewissen Punkt. Diese Erwartungshaltung an die Nachfolger:innengenerationen. Dann sind solche Zitate umso seltsamer, von älteren Generationen, die gar nicht die Strukturen geschaffen haben, dass ihre Nachfolger:innen die Orientierung finden.
Ilona Hartmann: Ganz ehrlich: Ich finde Orientierungslosigkeit ist ein sehr gesunder und sehr normaler Teil einer Jugend. Wer will denn bitte eine orientierte Jugend haben? Das klingt schon sehr unangenehm autoritär.
Ich finde Orientierungslosigkeit ist ein sehr gesunder und sehr normaler Teil einer Jugend. Wer will denn bitte eine orientierte Jugend haben?
Wenn man sich für Orientierungslosigkeit entscheidet, ist es ja wie mit dem Abwarten, dann kann auch diese besinnlich sein.
Ilona Hartmann: Ich glaube, es ist ein Trugschluss zu glauben, dass man alles bestimmen kann, was passiert, wenn man sich nur genug orientiert. Ich erlebe bei vielen meiner jüngeren Freund:innen einen großen Stress, dass sie sich Kompromissen hingeben müssen, die ihnen nicht gut tun. Weil sie sich an Vorgaben halten müssen, um nur möglichst schnell voranzukommen und Stress aufbauen. Auch weil bald der Planet abbrennt.
Was bei den Boomern der Kalte Krieg war, ist bei uns der drohende Klima-Breakdown …
Ilona Hartmann: Trotzdem, man kann nicht alle Faktoren in der Hand halten. Orientierungslosigkeit ist kein Zustand, gegen den man etwas tun muss. Manchmal kommt man auch an Erfolg, indem man abgewartet und sich nicht für andere Möglichkeiten verschlossen hat.
Einigen wir uns darauf, dass dieses Zitat einfach ziemlich blöd war?
Ilona Hartmann: Ja.
Wenn ihr gerade voll auf den Geschmack gekommen seid, checkt doch mal Ilona Hartmanns Debütroman Land in Sicht aus. Sie zieht darin mit feinster Komik Milieustudien und Beziehungsanalysen. Locker und leicht.
Ilona Hartmann – Land in Sicht
Aufbau Verlag, Berlin, 2020
Hardcover, 160 Seiten, 18,00 €
ISBN: 978-3-351-05076-4
Headerfoto: Foto von Ilona Hartmann: Svenja Trierscheid, Foto von Aron Boks: Ken Yamamoto. (Kategorie-Button hinzugefügt, Bild gecroppt.) Danke dafür!