Ich habe Angst vor der Liebe – Und stehe mir deshalb selbst im Weg

Grade noch pfeife ich meinen Sohn vom Beckenrand ran, um ihm mit einer wortlosen Geste verständlich zu machen, dass ich nicht mehr zu ihm ins Wasser komme, als ich mich umdrehe und ER vor mir steht. Plötzlich. Unerwartet. Und mir tief in die Augen schaut. Es sind dunkle Augen und ich halte dem Blick stand.

Seine Augen befinden sich auf der Höhe meiner Augen und ich nehme den Rest seines Körpers nur verschwommen wahr. Dunkle, volle Haare, schlanke Figur, ein paar Brusthaare und eine schicke, knappe, dunkelblaue Badehose. Ein wunderschöner Mann. Unsere Blicke halten sich für ein paar Sekunden fest, als wären es Minuten und die Welt um uns herum scheint still zu stehen. Slowmotion.

Die Welt um uns herum scheint still zu stehen.

Aus heiterem Himmel trifft er mein Herz und saugt in Sekundenschnelle allen Schmerz aus mir heraus, sodass es warm und weit wird. Irritiert laufe ich an ihm vorbei und spüre, wie sich auf meinem Gesicht ein Grinsen breit macht, das ich nicht mehr weg machen kann. Ich schaue während des Gehens auf den Boden und versuche zu verstehen, was das grade war, was sich da in mir abspielt.

Unsere Blicke halten sich für ein paar Sekunden fest, als wären es Minuten und die Welt um uns herum scheint still zu stehen. Slowmotion.

Ich habe noch nie so deutlich gespürt, dass nur ein Blick mein Herz öffnen kann, ohne auch nur ein Wort zu wechseln, ohne sich zu berühren, ohne Vorbereitung, ohne Planung – einfach so. Von jetzt auf gleich. Ich schaue verlegen zu diesem zauberhaften Geschöpf, das etwas geschafft hat, woran ich seit Monaten hart arbeite.

Er ist bereits mit einem kleinen Mädchen – vielleicht seinem kleinen Mädchen – im Becken und schaut ebenfalls zu mir rüber. Er lacht mich an und macht mir verständlich, dass es ihm genauso gehen muss. Ich lache zurück und laufe schnellstmöglich zurück zu meinem Platz, an dem meine Freundin ahnungslos sitzt und nichts davon mitbekommen hat.

Kein muskelbepacktes Ego. Kein fixierender, kontrollierender, besitzergreifender Blick. Einfach nur perfekt.

Immer noch benommen erzähle ich ihr nur kurz: „Da war gerade ein Mann…“, als er bereits mit seiner kleinen Begleitung zu uns herüber kommt und sich mit dem Blick ins Kinderbecken vor mich stellt. Sodass ich ihn noch einmal genauer betrachten kann. Er ist ein Gott. Kein muskelbepacktes Ego. Kein fixierender, kontrollierender, besitzergreifender Blick. Einfach nur perfekt. Er ist perfekt. Mein Herz wusste es sofort. Mein Verstand prüft kritisch und findet, nichts an ihm ist auszusetzen.

Er steht ein paar Minuten vor mir. Genug Zeit und Raum, um Initiative zu ergreifen – zumindest, um erneut Blickkontakt zu suchen. Er schaut mich an. Ich spüre seinen warmen Blick auf mir. Ich traue mich nicht, zu ihm zusehen. Ich habe Angst. So viel Arbeit an mir selbst, an meinem Selbstwert, meiner Selbstliebe, so viel Schmerz und so viel Heilung. So viel Enthaltsamkeit und Loslassen. Und nun schaue ich in die Weite und debattiere mit meiner Freundin über sinnlose Dinge.

Ich spüre seinen warmen Blick auf mir. Ich traue mich nicht, zu ihm zusehen. Ich habe Angst. So viel Arbeit an mir selbst, an meiner Selbstliebe.

Er geht zu seiner Tochter oder Nichte oder auch Patenkind ins Becken und spielt mit ihr noch eine Weile freudig, liebevoll und einfühlsam. Oh mein Gott – er ist perfekt. Und ich sehe meine verpasste Chance dahin schwinden. Ich schaue ihn an, aber er ist vertieft in das Spiel mit ihr. Nach einer Weile geht er mit ihr in den Umkleideraum und die Stille, die ich eben noch fühlte, platzt aus mir heraus. „Hast du diesen Typen gesehen?!“ schreie ich meine Freundin fast an.

Da klopft die Liebe an und ich lasse sie nicht rein, ich Idiot. Neben dem Ärger und der Selbstvorwürfe freue ich mich, dass mein Herz so klar sehen kann und ich es auch noch erkenne. Wenn das Herz solche klaren Impulse gibt, kann es nur richtig sein. Normalerweise habe ich Bauchkrämpfe in Anwesenheit von Männern.

Da klopft die Liebe an und ich lasse sie nicht rein, ich Idiot.

Und trotzdem wundere ich mich. Ich verspreche mir selbst, dass ich beim nächsten Mal, wenn ich ihn treffe, mutiger bin und gehe die nächsten 7 Sonntage zur selben Zeit an denselben Ort, um ihm vielleicht noch einmal zu begegnen – doch vergebens. Ich rede mir ein, dass er wahrscheinlich sowieso schon vergeben ist und mir das Ganze vermutlich nur Schmerz eingebracht hätte. Dann bereue ich, dass mein Herz so weit aufgegangen ist. Aber egal.

Ich weiß jetzt, wie es sich anfühlen darf. Ich weiß jetzt, dass ich es sowieso nicht kontrollieren kann. Und ich weiß jetzt, dass ich gar nicht suchen muss und vor allem nichts dafür tun muss, denn die Liebe findet mich – von ganz allein.

Sylvie Philipp glaubt manchmal an die Liebe, manchmal nicht. Ihr Herz schlug schon immer für andere. Seit ein paar Monaten lässt sie es hauptsächlich für sich selbst schlagen und erfährt, dass die Liebe auch zu ihr kommt, auch wenn sie gar nichts dafür tun muss. Herzöffnung pur!

Headerfoto: Brooke Cagle via Unsplash. („Gedankenspiel“-Button hinzugefügt.) Danke dafür!

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