Ich hab schon mal über ihn geschrieben – das ist aber lange her. Damals lernten wir uns gerade kennen. Er war 17 und ich 25. Heute bin ich 35 Jahre alt und er ist immer noch ein Thema. Warum?
Wenn er mich küsst, dann werden meine Knie weich und alles in mir beginnt zu brodeln. Es ist die pure Leidenschaft, die mich durchfährt, die ihn von oben bis unten berühren, mit Haut und Haar verschlingen will. Zu Beginn waren unsere Treffen regelrechte Explosionen. Wir sprachen nicht mehr viel, wenn unsere Lippen sich einmal gefunden hatten. Aber es war immer wild, immer ungestüm – nie bedacht oder zärtlich oder intim. Meistens war es bloß Sex.
Was uns verband in den Jahren, war eine lose Freundschaft. Eine jener Freundschaften, die man nicht so richtig pflegt. Er kam immer wieder, und meine Tür ging immer wieder auf. Er kam nicht oft. Ich lief ihm nicht hinterher. In den wenigen Stunden mit ihm habe ich große Höhen und große Tiefen erlebt, abgründige und nervenaufreibende Gespräche über den Sinn des Lebens geführt, und ihn immer wieder einfach nur geliebt.
Schon seit Jahren haben wir keinen Sex mehr. Nicht, dass ich es nicht wollte. Er will es nicht.
Aber das letzte Mal war anders. Schon seit Jahren haben wir keinen Sex mehr. Nicht, dass ich es nicht wollte. Er will es nicht. Und dann las ich in der vergangenen Woche diesen Artikel, in dem ein Mann darüber berichtete, welchen Stellenwert Sex in seinem Leben hat, und wie viel Stress er zuweilen erleidet, angesichts der Erwartungshaltung der Frauen. Er berichtete von einer Frau, die er aus einer Bar mit nach Hause nahm, die regelrecht fuchsteufelswild wurde angesichts der Tatsache, dass er nicht im Geringsten vorhatte, mit ihr zu schlafen.
Und ich fragte mich, welchem Erwartungsdruck er und ich zuweilen unterlagen. Warum er mich aufsuchte, habe ich im Grunde nie so richtig verstanden. So auch diesmal, doch diesmal suchte ich ihn auf. Er hatte mich über das Wochenende auf das Land seines Vaters eingeladen.
Es war klar, wir würden keinen Sex haben. Mit dieser Erwartungshaltung fuhr ich aufs Land. Es war unterdessen Jahre her. Er hatte sich spirituell weiter entwickelt, während ich immer tiefer abrutschte. Doch er hielt den Kontakt, war auch in schwierigen Jahren für mich da. Das war wichtig. Er war mir wichtig.
Doch unsere Beziehung hatte sich auf eine merkwürdige Weise verändert. Bei einem unserer letzten Treffen sagte er, er wisse oft selbst nicht so genau, warum er mich immer noch aufsuche. Es sei so etwas wie Loyalität vielleicht. Und er hatte recht, denn mir erging es ebenso. Wir sprachen nicht mehr. Es war, als wäre alles gesagt. Und körperlich herrschte eine Distanz, die das Händchenhalten zur Fußfessel machte.
Ich war mit der Bahn gefahren, mit dem Bewusstsein, viel Zeit allein zu verbringen – in seiner Nähe, aber allein.
Er holte mich ab auf einem Dorf, das am Feldrand liegt. Ich war mit der Bahn gefahren, mit dem Bewusstsein, viel Zeit allein zu verbringen – in seiner Nähe, aber allein, dann in den Bus umgestiegen, um am Feldrand auszusteigen. Auf den Gepäckträger seines Fahrrads hatte er ein gelbes Kissen gebunden. Unser Weg führte aus dem Dorf heraus, zwischen den Feldern hindurch und dann links, die Allee entlang bis zu einer Halle zwischen mannshohen Unkräutern und anderem Bewuchs.
Durch ein Tor war das zweigeschossige Gebäude über eine an der Rückwand liegende Galerie von hinten links begehbar. Es war die Werkstatt, auf deren Boden auf einem Podest vor dem Sprossenfenster im Giebel zwei Matratzen mit roter Baumwollwäsche lagen. Das Haupthaus stand etwas weiter hinten die Auffahrt entlang. Die Toilette war ein Holzhaus zwischen Halle und Haupthaus. Die Badewanne stand mitten auf dem Feld in einem Glaspavillon, umwachsen von wildem Wein.
Am Abend, nachdem er den ganzen Tag an seinem Projekt gebaut und während ich mir die Zeit mit Dolce Vita vertrieben hatte, fragte er mich, ob ich mit ihm baden wolle. Ich wollte. Und so entfachte er ein Feuer unter der Wanne, legte den Gartenschlauch hinein, und drehte auf. Dann küsste er mich, und mir wurden die Knie weich und alles in mir begann zu brodeln. Ganz selbstverständlich zog ich mich aus und setzte mich in die Wanne. Er kam dazu.
Wir küssten und berührten uns, und es war von einer Leidenschaft, als wären zehn Jahre nicht vergangen.
Wir küssten und berührten uns, und es war von einer Leidenschaft, als wären zehn Jahre nicht vergangen. Im Stillen wunderte ich mich, schloss die Augen und genoss. Dann wieder sah ich ihn an. Er ist ein ausgesprochen schöner Mann – wie Michelangelos David, nur sehr viel besser bestückt und mit Afro. Jede Faser seines Körpers scheint Muskel, sieht aus wie gemalt.
In den Jahren, in denen wir uns nicht berührten, machte er viele Kurse. Ich weiß wenig über sein Leben außerhalb meiner vier Wände. Nur eben das, was er teilt. Er übt Mediation und Massage, fährt ausschließlich mit der Bahn und dem Rad und befasst sich mit einer Seite der Welt, zu der ich einfach keinen Zugang habe.
Plötzlich stockte er, und ich kannte diesen Moment. Hatte ihn hundert Mal gesehen, aber ich wollte mich diesmal nicht darauf einlassen. Ich lag in dieser Wanne, unter mir brannte ein kleines Feuer, wilder Wein und die Sterne rankten um mein Haupt. Mit oder ohne ihn, ich wollte einfach noch ein bisschen schweben. Das hatte ich mir verdient.
Ich spüre, wie er sich erregt, wenn wir uns küssen, wie er wilder und fordernder wird. Dann bricht er ab.
Er küsste mich wieder und dann begann, was ich kaum verstehe. Für mich sieht es in diesen Momenten so aus, als würde er sich gegen etwas wehren, das er eigentlich will. Ich spüre, wie er sich erregt, wenn wir uns küssen, wie er wilder und fordernder wird, seine Hände ihren Weg suchen und sein Atem sich beschleunigend beschwert. Dann bricht er ab.
In Bruchteilen von Sekunden entsteht der Grand Canyon zwischen uns und ich bin nackt. Das fühlt sich echt beschissen an. Er kann sich dann nicht mal mehr anfassen lassen. Ich sagte ihm also, dass es okay wäre. Wir müssten keinen Sex haben, und keiner von uns sollte jetzt verkrampfen. Ich überließ ihm die Entscheidung, wie er sich am wohlsten fühlte. Mir war im Grunde beides gleich recht.
Ich kam mit der Erwartung auf Askese, und wurde überrascht mit amourösem Epikur. Gegen meinen Körper bin ich zuweilen machtlos. Ich kenne das, was ich an ihm erkenne. Wenn der Körper sich durch einen Kuss, eine Berührung, ein Wort so öffnet, und der Kopf sagt nein. Aber ich trage das nicht vor, nicht auf und nicht unter ihm aus.
Die Wanne währte nicht lang. Wir gingen zurück zur Werkstatt, um im Dach der Galerie zu schlafen. Auf dem Weg dahin zog er mich zu einem Bauwagen, der zur Rechten im Gelände parkte. Er öffnete das Heck und es zeigte sich eine kleine Kammer, kaum größer als zwei Menschen. Er zog mich hinein, und kurz darauf begannen wir wieder, uns wild zu küssen. Er brach ab, wortlos, wie immer und hielt mich einfach fest. Das war merkwürdig.
Ich lag höchst unkomfortabel, breitbeinig, direkt auf ihm, er hielt mich fest. Wir sahen uns nicht an. Mein Kopf lag neben seinem. Ich hätte mich gern gedreht, neben ihn gelegt, doch er hielt mich einfach fest. Ich war ein menschlicher Briefbeschwerer, doch die Botschaft, die sein Körper und Geist mir übersandten, kam einfach nicht an. Ich fühlte mich mehr und mehr als Spielball seines ureigenen Widerstreites, konnte mich aber auch nicht dagegen wehren.
Der Schmerz im Innern war zu einem ständigen Begleiter seiner Gegenwart geworden. Die Lust nie erloschen.
Ich dachte an den ersten Kuss, auf dem Feld, vor der Wanne, und daran, wie sehr ich ihn begehrte, und wie wenig es mir nach all den Jahren noch bedeutete, dass es mich innerlich zerriss, wenn ich nicht zeigen konnte, durfte, wie ich fühlte. Der Schmerz im Innern war zu einem ständigen Begleiter seiner Gegenwart geworden. Die Lust durch die zehn Jahre nur angefacht und nie erloschen.
Er nahm mich an der Hand und wir betraten die Galerie. Im Bett folgte, was nun folgen musste. Wir küssten uns, wir zogen uns aus. Er stockte. Brach ab. Wir waren nackt, er war hart und riesig, ich war feucht und willig. Er brach ab. Im Stillen dachte ich bei mir: Dass Du Dir das antust, ist, als würdest Du Dich selbst vergewaltigen. Ich fühlte mich nicht begehrt, nur benutzt, aber ich konnte mich auch nicht dagegen wehren.
Ich masturbierte, kam, ging eine rauchen und schlief ein.
Die Frage, was genau da passierte in ihm, ließ mir keine Ruhe. Ich besah es, als wäre es Kino, während es meinem Körper passierte. Wir küssten uns nicht mehr. Er wirkte hochkonzentriert. Ich weiß nicht, wie viele von euch jemanden kennen, der manchmal wirkt wie besetzt, wie ausgewechselt, mit versteinertem Gesicht. Der Grand Canyon. Plötzlich drehte er sich um, wickelte sich in eine Decke ein und gab vor, alsbald eingeschlafen zu sein. Ich masturbierte, kam, ging eine rauchen und schlief ein.
Und dann denke ich heute an den Mann aus dem Artikel, und frage mich, was es ihm so schwer machte, sich auf eine Erwartungshaltung sich selbst gegenüber festzulegen. Fragte mich, womit ich es verdiente, so benutzt zu werden. Nun kann man mir vorwerfen, dass ich nicht abbrach. Aber ich wollte einfach laufen lassen. Ich liebe ihn, und will ihn nicht verlieren.
Gleich wie ich will, dass er Teil meines Lebens bleibt. Und es ist mir egal, ob das mit oder ohne Sex stattfindet. Aber ich will, dass er sich festlegt, ohne dass ich drei Mal in einer Nacht hingerissen und weggeworfen werde. Ist das schon eine Erwartungshaltung, für die ich mich schämen sollte?
Ist es blöd, mit 35 plötzlich zu sagen: „Aber Du hast angefangen!“?
Headerfoto: Matheus Ferrero via Unsplash. (Körperliches-Button hinzugefügt.) Danke dafür!
Jahrelang einem Mann nachlaufen, der einem nicht gut tut – Liebe ist eben doch eine Art psychische Krankheit …
Und er hat einfach einen Esoterik-Knacks. Verstehen muss man das nicht, ist halt so.