Es ist schon eine Weile her, da zog es mich von der Provinz in die Hauptstadt. Wie viele meiner Kommilitonen versuchte ich mich zurechtzufinden im Dickicht des Großstadtdschungels. Die plötzliche Anonymität war die größte Errungenschaft. Bevor ich eine Wohnung im Weddinger Sprengelkiez anmietete, wohnte ich in einem östlichen Randkaff, das wir liebevoll die graue Kalktown nannten.
Die Nachbarn waren alt und kontrollierten jeden unserer Schritte mit Adleraugen. In Berlin ist das anders. Hier kann ich nachts in Schlabberhosen zum nächsten Späti joggen, um meinen Partysuff zu besorgen. Niemand erinnert mich daran, dass man so nicht auf die Straße geht. Hier in Berlin ist man schließlich tolerant!
„Die Zeit des Studiums wird die beste Zeit deines Lebens“, sagten meine Freunde während des Umzugs zu mir. Anscheinend ahnten sie nicht, dass man als junger Student auch schnell mal im Kiez versacken kann. Denn wir sind ein Haufen junger Individualisten, die bloß keine Verantwortung übernehmen wollen. Erst recht nicht für uns selbst. Als Einzelkinder wurden wir von unseren Eltern verhätschelt. Und nun fühlen wir uns so, als wären wir der Mittelpunkt der Welt.
Draußen lauert die Gefahr, wollte uns Helikoptermama schon damals vor jedem harmlosen Dorfspaziergang einreden.
Außerdem wuchsen viele von uns in überbehüteten Verhältnissen auf. Draußen lauert die Gefahr, wollte uns Helikoptermama schon damals vor jedem harmlosen Dorfspaziergang einreden. Und wenn wir Jahrzehnte später noch immer keine Angsthasen oder Einhörner geworden sind, siegt irgendwann der Ausgebrannte über uns. Als befristet Beschäftigte und Massenstudenten müssen wir schließlich jedes Projekt und jedes Praktikum bestmöglich abschließen.
Und selbst das reicht nicht mehr aus. Das Ergebnis muss derart überragend sein, dass wir uns selbst immer wieder neu übertreffen. Natürlich müssen wir auch besser als unsere Konkurrenz sein. Sonst droht nicht nur der tückische Vergleich mit unseren Altersgenossen, sondern auch der Rauswurf aus der Firma. Bei einer wachsenden Anzahl an Mitbewerbern werden die Rangeleien um das Begehrte täglich größer. Aber was ist überhaupt Konkurrenz?
Wir sind Kinder des Neoliberalismus. In unserer Welt geht es um Verknappung und Profitsteigerung. Wenn du eine knappe Ressource bist, darfst du alle Vorzüge dieses Systems ausleben. Bist du aufgrund von Armut, Ethnie oder Schwäche benachteiligt, wirst du von deiner Konkurrenz abgehängt. Genau wie in der Tierwelt. Nur, dass du nicht vom Raubtier zerfleischt wirst, sondern im Unterschichtenkochtopf landest.
Im schlimmsten Fall findest du dich nach einer Überdosis Chrystal Meth oder Heroin irgendwo im Plattenbau wieder.
Im schlimmsten Fall findest du dich nach einer Überdosis Chrystal Meth oder Heroin irgendwo im Plattenbau wieder, weil das Amt deine Miete in Prenzlberg nicht mehr übernehmen will. Welcher Vermieter holt sich heutzutage schon freiwillig Verlierer ins eigene Wohnobjekt?
Dein neuer Partner hat wieder nur einen Jahresvertrag erhalten? Ach komm´, gemeinsame Träume werden doch heutzutage eh überbewertet. Lieber auf Tinder nachschauen, wer im Falle einer Trennung besser zu dir passen könnte. Der Strom an Frischfleisch reißt schließlich nie ab, wenn immer mehr junge Leute in die Großstadt ziehen. Und alle sind auf der Suche nach der einen großen Liebe. Hast du sie schon gefunden?
Vielleicht versteckt sich dein Traumpartner in deiner Kontaktliste, zwischen all den missglückten Tinder-Dates und alten Schulfreunden. Es fällt uns schwer, zu selektieren. Wir haben ein Problem damit, die richtige Entscheidung zu treffen. Also hängen wir im Schwebezustand der ungenutzten Möglichkeiten fest. Wir warten solange, bis wir irgendwann merken, dass der Zug längst abgefahren ist.
Während sich im ländlichen Heimatdorf populistische Ansichten verbreiten, fühlen wir uns im multikulturellen Umfeld der Innenstadt gut aufgehoben.
Auf dem Land sind die Entscheidungswege weniger komplex, die Abzweige der Landstraße scheinen nicht so verworren. Während sich im ländlichen Heimatdorf populistische Ansichten verbreiten, fühlen wir uns im multikulturellen Umfeld der Innenstadt gut aufgehoben. Jeder Provinzausflug wird zur nervlichen Herausforderung, wenn uns die Dorfhäuptlinge erzählen wollen, dass unser Volk längst am Abgrund steht.
Die beste Empfehlung: Ausbildung beenden und irgendwo unterkommen. Der Rest wird sich schon ergeben. Auf der nächsten Party haben wir wieder vergessen, dass vor unserer Haustür hunderttausende Menschen auf ihr Asylverfahren warten. Bringt nix, nach oben oder unten zu schauen, um mit erhobenem Zeigefinger auf irgendwelche Minderheiten zu zeigen. Milliardäre sind schließlich auch auf der Flucht. Okay, sie fliehen vor dem Fiskus, statt vor dem Krieg. Aber was macht das schon für einen Unterschied?
Unwissenheit schützt nicht vor Versklavung.
Wenn YouTube mir verschwörungstheoretische Videos vorschlägt und automatisch abspielt, kann ich doch nicht meinen Aluhut rauskramen und aufsetzen. Ohnehin weiß ich nicht, wem ich noch glauben kann. Doch Unwissenheit schützt nicht vor Versklavung. Davon lösen sich unsere elektronischen Fesseln auch nicht. Anstatt kritisch zu hinterfragen, worauf die lückenlose Überwachung hinausläuft, füttern wir unsere Blogs mit Daten, damit Algorithmen darüber bestimmen können, was wir sehen. Am liebsten lasse ich mir den vorgekauten Brei auf einem Silbertablett servieren.
Es gibt nichts Schöneres, als eine vorsortierte Facebook-Startseite zu durchforsten, die alles Uninteressante herausfiltert und mir nur den Content anzeigt, für den auch bezahlt wurde. Solange ich genügend Schritte mit dem neuesten iPhone laufe, können die globalen Internetkonzerne meiner Krankenkasse nicht mitteilen, dass ich eine faule Sau bin, die den ganzen Tag nur vor dem Computer sitzt und lustige Katzenvideos schaut.
Besser nur die Momente auf Twitter oder Facebook posten, in denen ich wirklich aktiv bin, am besten irgendwo draußen zusammen mit Freunden, damit meine Follower und Abonnenten weiterhin glauben, dass ich noch ein echtes Sozialleben neben meiner virtuellen Scheinrealität pflege.
Ist mir doch egal, wenn der Zuckerberg heimlich mitliest. Er kann ja auch zur Party kommen!
Und wenn ich dann genügend Likes erhalten habe, kann ich entspannt mein Notebook zuklappen und bei WhatsApp nachfragen, was am Wochenende partymäßig so abgeht. Ist mir doch egal, wenn der Zuckerberg heimlich mitliest. Er kann ja auch zur Party kommen!
Vor dem ersten großen Verlust einer geliebten Person sind wir nur Kinder mit leuchtenden Augen, die noch darüber staunen können, dass jeden Morgen die Sonne aufgeht. Danach dreht sich unsere Welt für einen gewissen Zeitraum nicht mehr und wir verlernen zu lachen.
Also suchen wir das große Glück in materiellen Gütern, weil uns die Werbung vorgaukelt, wir könnten unsere kaputte Hälfte mit dem neuesten Produkt reparieren. Diese Systemlogik setzt voraus, dass wir uns permanent unzufrieden fühlen. Wir streben nach Perfektion, obwohl wir alle nur verletzliche Wesen sind, die sich stumm nach Liebe sehnen.
Wenn wir uns endlich zutrauen würden, dem Fehlerbehafteten eine Chance zu geben, dann wäre unsere Gesellschaft wieder ein Stück friedlicher.
Wenn wir uns endlich zutrauen würden, dem Fehlerbehafteten eine Chance zu geben, dann wäre unsere Gesellschaft wieder ein Stück friedlicher. Aber dafür bräuchten wir mehr Empathie, Vertrauen und Mut – statt Egoismus, Misstrauen und Angst. Dann kommt die Liebe ganz von selbst zu uns.
Und jenen Hasspredigern wird die Grundlage ihrer menschenverachtenden Ideologie geraubt, die unsere Welt derzeit ins Chaos zu stürzen droht.
Headerfoto: Bewakoof.com Official via Unsplash.com (Gesellschaftsspiel-Button hinzugfügt.) Danke dafür!
Worte, die einem immer wieder vor dem geistigen Auge schweben, weil sie den Nagel auf den Kopf treffen!