Der Gender Data Gap ist der formschöne, aber bisher wenig bekannte Begriff für den Umstand, dass die Welt damals fast ausschließlich und heute noch zum großen Teil von Männern an Männern erforscht worden ist. Die vielen gesammelten Daten nahmen den Mann als Durchschnittsmensch und vergaßen den Körper, Geist und Alltag der Frau. Viele der hier genannten Erkenntnisse stammen aus Invisible Women von Carolina Criado Perez, die unseren Blick für den Gender Bias schärfen will.
Herzinfarkt sieht anders aus
Denkt man an einen Herzinfarkt, haben die meisten die sogenannte „Hollywood-Herzattacke“ vor Augen. An die linke Brust fassen, aufstöhnen und langsam zu Boden sinken. Was viele jedoch nicht wissen: der Großteil dieser gezeigten Symptome tritt bei Frauen nur schwach bis gar nicht auf. Tatsächlich sind die typische Anzeichen bei Frauen vollkommen anders: Übelkeit, Atemnot, Erschöpfung.
Diese Symptome werden oft von Frauen selbst nicht als Herzinfarkt erkannt und auch von den Ärzt:innen in erster Linie nicht als Alarmzeichen für einen Infarkt gewertet. Eine Studie zeigt, dass der weibliche Herzinfarkt sieben Mal öfter fehldiagnostiziert wird als der männliche, da die gezeigten Symptome als „untypisch“ wahrgenommen wurden.
Eine Studie zeigt, dass der weibliche Herzinfarkt sieben Mal öfter fehldiagnostiziert wird als der männliche, da die gezeigten Symptome als „untypisch“ wahrgenommen wurden.
Doch hier offenbart sich der springende Punkt. Frauen zeigen keine „untypischen“ Anzeichen, diese sind einfach anders als beim männlichen Organismus. Medizinisches Personal sollte schon bei der Ausbildung für die auftretende Symptomatik sensibilisiert werden.
Frauen bekommen weniger Schmerzmittel
Das Nicht-ernst-genommen-Werden ist nicht nur bei Herzinfarkten der Fall. Auch in anderen medizinischen Notfällen kommt es zu einer Ungleichlage. Zum Beispiel bei der Bewertung von Schmerzen.
Untersuchungen fanden heraus, dass Frauen bei gleicher Schmerzrate seltener Hilfe und Schmerzmittel erhielten als Männer und im Schnitt länger darauf warten mussten, bis ihnen schmerzlindernden Medikamente zur Verfügung gestellt wurden (eine andere Studie fand heraus, dass eine Frau in der Ambulanz im Schnitt eine volle Stunde länger warten muss, bis sie behandelt wird, und ihr Fall generell als weniger dringlich eingestuft wird).
Spielt hier etwa mit rein, dass Frauen oft als übersensibel und eher emotional als rational gelten? Nicht umsonst prägte der Hysteriebegriff jahrzehntelang die ärztliche Behandlung von Frauen.
Endometriose – mehr als nur Periodenschmerzen
Ein anderes weitreichendes Beispiel ist ein Krankheitsbild, das vielen nicht bekannt ist und somit sehr selten festgestellt wird. Endometriose. Endometriose ist eine Wucherung des Gewebes an der Gebärmutterschleimhaut, die vor allem beim Auftreten der Periode wachsen und immer wiederkehrende, unsägliche Schmerzen und Einschränkungen verursacht.
Schätzungsweise sind bis zu 15 Prozent aller Menstruierenden betroffen und trotzdem dauert es im Schnitt bis zu zehn Jahre, bis Endometriose erkannt und richtig behandelt wird. Und selbst die Behandlungsmethoden können viele nicht ganz von den Schmerzen erlösen.
Schätzungsweise sind bis zu 15 Prozent aller Menstruierenden betroffen und trotzdem dauert es im Schnitt bis zu zehn Jahre, bis Endometriose erkannt und richtig behandelt wird.
Es ist, so viele Betroffene, die von ihren Erfahrungen berichten, ein Teufelskreis: Viele der aufgesuchten Ärzt:innen nehmen ihr Leiden nicht ernst, stempelten es als normalen Periodenschmerz ab, man solle sich nicht so anstellen, man selbst verunsichert, schämt sich, dass man angeblich natürliche Periodenkrämpfe nicht ertrage und sieht von weiteren Ärzt:innenbesuchen ab.
Eine einfache Lösung: aufklären, ernst nehmen und vor allem forschen.
Der Zyklus steht der Untersuchung im Weg – ein Grund, nicht zu forschen?
Denn das eigentliche Problem sind sicherlich nicht ignorante Ärzt:innen, und hier haben wir wieder unseren herrlichen Begriff des Data-Gaps, sondern viel mehr das fehlende Fachwissen über Frauengesundheit. Aus dem einfachen Grund, dass nicht genug daran erforscht wurde.
Warum existiert so wenig Wissen über die medizinischen Unterschiede zwischen Frauen und Männern? Kann es wirklich nur daran liegen, dass man davon ausgeht, die Daten, die an Männern erhoben wurden, könnten eins zu eins auf Frauen übertragen werden? Dass Frauen wie Männer nur mit einigen Extras sind?
Nein. Ursache hierfür werden oftmals auch die zyklusbedingten Unterschiede im Hormonhaushalt genannt, die die Ergebnisse der Untersuchung verändern würde, da das getestete Produkt zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Zyklus anders wirken kann. Das bedeutet einen komplexeren Forschungsaufbau und die Möglichkeit, dass die Ergebnisse hormonell bedingt anders ausfallen als erwartet.
Denn das eigentliche Problem ist das fehlende Fachwissen über Frauengesundheit. Aus dem einfachen Grund, dass nicht genug daran erforscht wurde.
Perez fügt zu diesem Umstand hinzu, dass, werden Frauen mit in die Studie genommen, sie meist in einer frühen Phase ihres Monatszyklus untersucht wurden. Ein Zeitpunkt, in der das Hormonlevel an Estradiol und Progesteron am niedrigsten ist, sodass der Haushalt dem des männlichen Organismus am ähnlichsten ist.
Aber Frauen befinden sich nicht immer in dieser einen Zyklusphase und werden de facto unterschiedlich hormonell beeinflusst und verdienen eine adäquate medizinische Behandlung. Man hat bereits herausgefunden, dass sich Psychopharmaka, Antihistaminika, Antibiotika und Herz-Medikamente in den unterschiedlichen Stadien des Zyklus‘ anders auswirken. Frauen haben ein Recht darauf, dass sie abhängig von ihrem natürlichen Zyklus adäquat behandelt werden und man dementsprechend forscht und behandelt.
Intersektionalität im Gender Data Gap
Die Wissenslücke ist allerdings nicht nur gender-basiert. Verschiedene Studien zeigen, dass People of Color ebenso mit vielen Diskriminierungen in der Medizin zu kämpfen haben. Es konnte in den USA aufgezeigt werden, dass viele angehende und bereits praktizierende Mediziner:innen Falschinformationen haben und sich dadurch ihre Behandlung je nach Hautfarbe unterscheidet.
So fand eine Studie heraus, dass viele Medizinstudierende dachten, schwarze Haut sei dicker als weiße, POCs seien generell weniger schmerzsensibel und die Menge ihres Blutverlustes unterscheide sich von dem weißer Patient:innen. Solch fatale, rassistische Annahmen führen zu falschen Behandlungen und im schlimmsten Fall zum Tod der Behandelten.
Die Wissenslücke ist allerdings nicht nur gender-basiert. Verschiedene Studien zeigen, dass People of Color ebenso mit vielen Diskriminierungen in der Medizin zu kämpfen haben.
Auch ist Rassismus in der Geburtshilfe ein großes Problem und diskriminiert Women of Color mit einer minderwertigeren medizinischen Betreuung während des Geburtsvorgangs, so zeigt es dieser Bericht. Die Folge ist, dass das Risiko, an den Folgen der Geburt zu sterben, 60 Prozent höher ist als für weiße Frauen.
Der Gender Data Gap wirkt sich nicht nur in der Medizin aus, sondern auch in Technik und Infrastruktur, zu Teil 1, Teil 2 und Teil 3 der Mini-Kolumne hier entlang.
Headerfoto: Frankie Cordoba via Unsplash. („Gesellschaftsspiel“-Button hinzugefügt.) Danke dafür!