Fast dreißig – Ich bin nicht das, was ich mit achtzehn dachte zu sein

Mein Name ist Susan und ich bin in zwei Monaten dreißig Jahre alt. Ich bin die erste Generation, welche noch gerade in der DDR geboren wurde, aber mit allen Freiheiten aufwuchs – damals, als man entweder im Internet war oder telefonieren konnte. Gleichzeitig gehöre ich wohl zur letzten Generation, bei der es normal war, dass Pittiplatsch noch auf Vinyl angehört und seine Kassetten später mit einem Bleistift wieder repariert wurden. Ich verbrachte meine Kindheit im Garten meiner Eltern und durfte mich alleine maximal einen Kilometer von zu Hause entfernen. Dafür kannte ich jeden Zentimeter von diesem Umkreis. Ich gehöre zu den Kindern, welche in Büschen Zimmer bauten und mit ihren Freundinnen daraus jeden beliebigen Ort formten. Ich hatte meinen ersten Kuss hinter Mülltonnen, damit es keiner sah.

Ich gehöre zur Generation Praktikum. Mein erstes hatte ich in meiner Schulzeit in einem Werbebüro (weil ich irgendwie dachte, ich sei kreativ), später in einem Tattoostudio (weil‘s halt cool war). Ich verbrachte meine Schulferien damit, in einem Kindergarten unbezahlt zu arbeiten (vielleicht will ich ja mal Au-Pair machen – macht man ja so), ich arbeitete unentgeltlich in einem Mehrgenerationenhaus (die vor allem meine abgeschlossene Ausbildung ausnutzten).

Ich habe festgestellt, dass Monogamie ein veraltetes Modell ist.

Ich gehöre zur Generation Beziehungsunfähig. Männer gab’s einige wenige, die mich wirklich beeindruckten. Mit Mitte zwanzig dachte so ziemlich jeder in meinem Umfeld ich sei „angekommen“. Über drei Jahre Beziehung, gemeinsame Wohnung, zwei Hunde, Kinderplanung (weil man das halt so macht), kaum öffentliche Streitigkeiten (weil ich das halt nicht so mache). Ich trennte mich als ich völlig alkoholisiert war, zog aus und ging wieder feiern. Mr. Perfect habe ich bis heute nicht gefunden, hab ihn aber auch nicht gesucht, dafür festgestellt, dass scheinbar perfekte Beziehungen es im seltensten Fall wirklich sind und Monogamie ein veraltetes Modell ist. Damit kann ich nicht leben und tingel so in meinem Singleleben mal gut und mal schlecht hin und her.

Ich gehöre zur Generation Lebenslauf. Grundschule, Gymnasium, Mittelschule (weil Absichern halt nicht ganz schlecht ist), wieder Gymnasium (weil Abitur irgendwie doch intelligenter klingt), Ausbildung, Freiwilliges Soziales Jahr in der Kultur, 1. Studium, 2. Studium. Dazwischen rumjobben. Jobben ist ja allgemein so eine Sache, mehr Mittel zum Zweck, als für den Lebenslauf. So habe ich in einem Museum gearbeitet, in o.g. Mehrgenerationenhaus, als Immobilienverwalterin, als Verkäuferin, Barkeeperin, habe Inventuren gemacht, hab mich an hässliche Grills gestellt, habe Pizzas gemacht, habe Autos gezählt, war noch mal in einem anderen Tattoostudio (weniger weil‘s cool war, sondern weil‘s diesmal Geld gab), habe Flyer gebastelt oder die der anderen verteilt, habe Plakate gebastelt, habe Internetseiten gebastelt, habe Computer ausgetauscht, eigentlich habe ich so ziemlich alles gemacht, für was es Geld gab, solange ich dafür meine Klamotten anbehalten konnte.

Dazwischen der Versuch, seinen Lebenslauf und sein Ego zu pushen. Als Kind habe ich getanzt (auf der Bühne zu stehen während die Eltern im Publikum sitzen, macht ein Kind stolz und die Eltern gleich mit), ich war das Vorzeigekind im Gitarrenunterricht, ich war im Theater und zum ersten Mal damit im Fernsehen, ich hab an x Kunstwettbewerben teilgenommen, an einer Matheolympiade, ich habe Sommerakademien besucht, ich habe eine Auszeichnung für Arrangement in puncto Kultur im Brennpunkt, Zeitungen haben über mich geschrieben, weil ich Projekte entwickelt habe oder weil sie ein Portrait von mir wollten, welche dann einseitig rausgegeben wurden.

Ich gehöre zu einer Generation von Selbstdarstellern. Ich mache Selfies von mir, die ich dann solange mit Hipsterfiltern bearbeite, bis das eigentlich nichts mehr mit mir zu tun hat. Deswegen treffe ich mich kaum mit Männern, die ich nicht im wahren Leben kennengelernt habe. Ich teile auf Facebook und Instagram jedes blödsinnige Festival, auf dem ich arbeite, weil das nun mal interessanter ist, den anderen zu zeigen, dass das eigene Leben nicht still steht. Ich reiße mich zusammen, dem Mann, den ich mag, dies nicht spüren zu lassen, weil ich weiß, dass ich für ihn nur das bin, was neunzig Prozent der Männer für mich sind, und weil irgendwelche Klatschpresse sagt, dass ich das so machen muss, um mich interessanter zu machen, obwohl ich das für völligen Unfug halte.

Inzwischen habe ich 384 enge Freunde, von denen 370 nicht mal meinen richtigen Nachnamen kennen.

Und trotzdem poste ich irgendwelche Scheiße, damit er denkt, dass es mir am Arsch vorbei geht, was es natürlich eigentlich nicht tut. Ich hatte mal einen neuen Facebook-Account nur für enge Freunde angelegt. Inzwischen habe ich 384 enge Freunde, von denen 370 nicht mal meinen richtigen Nachnamen kennen. Warum? Weil man das halt so macht. Und weil es lustig ist, wie man andere mit einem solchen Account verarschen kann. 370 Leute, die denken, sie würden dich kennen, es aber nicht im geringsten tun, weil dieser blödsinnige Account kaum was mit mir und meinem wirklichen Leben gemeinsam hat, dafür eine Phantasie von mir erschafft, welche ich selbst konstruieren kann.

Ich bin fast dreißig Jahre alt, mein Lebenslauf passt nicht auf eine Seite, ich habe keinen Vollzeitjob, bin aber tendenziell trotzdem mehr mit Arbeiten beschäftigt als mit allem anderen. Ich bin Single, ich habe keine Kinder, kein Haus mit Vorgarten, ich studiere immer noch, ich lese Bücher immer noch nicht als E-Book, ich kaufe mir meine Musik immer noch auf Vinyl und stell sie neben Pittiplatsch. Ich verbringe meine Wochenenden in Diskos und Clubs. Entweder weil ich da arbeite oder weil ich feiere, flirte, mich betrinke und den nächsten Tag feststelle, dass ich keine zwanzig mehr bin.

Ich laufe öfter mal in Sackgassen, kehre um und versuch die nächste Straße.

Ich bin nicht das, was ich mit achtzehn dachte zu sein. Mein selbstgesetztes Ultimatum fürs Kinderbekommen ist abgelaufen. Ich lass mir von anderen sagen, dass ich langsam sesshafter werden sollte und habe doch keine Lust dazu. Ich lebe im Hier und Jetzt, ohne mir wirklich Gedanken darüber zu machen, was in zehn Jahren sein wird. Ich habe auch aufgehört, mir große Pläne und Ultimaten zu setzen. Ich habe Phantasien, Wünsche, grobe Vorstellungen, ich hasse es, verliebt zu sein, weil es entweder in die Falschen ist oder weil sie nicht das sind, was ich am Anfang dachte, und gleichzeitig liebe ich es. Ich laufe öfter mal in Sackgassen, kehre um und versuch die nächste Straße.

Ich bin nicht perfekt und ich werde es nie sein, aber ich bin meistens glücklich und ich habe mir die Freiheit genommen, mein Leben so zu leben, wie ich es für richtig halte – auch wenn ich dabei Fehler mache.

Susan ist keine Autorin und schreibt auch nur, wenn sie zu viel Wein konsumiert hat, aber trotzdem nicht schlafen kann. Sie ist gestaltungstechnische Assistentin, welche Wirtschaftswissenschaften studiert und dies mit vier Jobs gleichzeitig finanziert, warum sie auch im seltensten Fall in der Uni ist. Ach so, sie wohnt mit ihren zwei Hunden in einer WG in Chemnitz und ist derzeit auf der Suche nach Wohnung Nummer 12.

Headerfoto: Via Shutterstock. Danke dafür. (Gesellschaftsspiel-Button hinzugefügt.)

imgegenteil_Susan

6 Comments

  • Ich denke wir sind eventuell eine besondere Generation.in der DDR unsere Kindheit erlebt.sehr behütet aufgewachsen.alle waren damals mit zwanzig verheiratet und hatten Kinder.weil man das damals so machte!und es eben auch nicht diese Möglichkeiten wie heute gab.Ich selber wurde 1990 eingeschult. Und nun war alles voller Möglichkeiten. Das durfte ich mir aus jeder Ecke anhören.nutze deine Möglichkeiten. Du kannst alles werden. Ja nur dass unsere Eltern doch selber keine Ahnung von all den (angeblichen) Möglichkeiten hatten und haben. Geschweige denn dass sie uns vermitteln konnten wie man das denn bitte machen soll alle möglichkeiten zu nutzen. Niemand kann alle möglichkeiten nutzen. Man muss sich immer entacheiden und irgendetwas bleibt auf der strecke. Aber wir sind mit diesem Leitsatz aufgewachsen und setzen alles daran dies umzusetzen. Nur gleichzeitig sind wir eben auch mit dem familien- und Lebens Bild von damals gross geworden.an dem wir uns heimlich selber messen und nur scheitern können.

  • Interessant wäre es mal hierzu ein Statement von einem Arbeitgeber zu hören. Ich find es zwar auch schön zu sehen, dass es auch so iwie geht und dass 30 das neue 20 ist und man sich keineswegs diese Ideallebensläufe und Vergleiche antun muss, in denen man schlecht ist, wenn man noch nicht mit 25 Papa oder mit irgendwas fertig ist und demnach auch dann sich selbst das Leben davor verbieten muss wie es manche tun nach dem Motto „dafür sind wir jetzt zu alt“ als wenn das (jugendliche) Leben mit 25 endet. Dennoch glaube ich, dass es in der Arbeitswelt nicht gut ankommt und die Gesellschaft dafür kein Verständnis hat.

  • ich werde nach paar Monaten auch 30j., mein Lebenslauf ähnelt ziemlich zu diesem Artikel, ist auch gut so, denn Freiheit ist für mich auch wichtigste. Mit Kinderwunsch werde ich aber erst mit 35j. abschließen, wenn ich den Mr.Right auch ich treffe, eher abhängig davon, ob ich finanziell stärker werde oder nicht, deswegen studieren mit diesem Alter schadet nie 🙂

  • Das schlimmste ist, wie andere einem solchen „Lebenslauf“ gegenübertreten:
    dieser mitleidige Blick meiner verheirateten Freundin mit Bausparvertrag oder dieser unverständliche Blick Mutter über enttäuschte Kinderwünsche in der Familie!
    Ich mache -irgendwie- mein Ding und überlebe ohne Katastrophen auf dieser Welt und bin dabei zufrieden, ich finde das reicht zunächst einmal…

  • Stadt, Alter, Lebenslauf… den Artikel hätte auch ich schreiben können. Ich schließe mich an: Danke liebe Autorin!

  • Hallo,
    ich bin jetzt etwas erschrocken als ich das Kinderbild von Susann nach dem Lesen des Artikels gesehen habe. Sie sieht eins zu eins aus wie ich als Kind zudem werde ich auch bald 30.
    Selbst die Gegend stimmt…

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