Einmal alles, bitte: Von der Angst, etwas zu verpassen und der Angst, nicht anzukommen

Wenn ich einen oft wiederholten Rat meiner Mutter an mich nennen müsste, wäre es wahrscheinlich: „Du kannst nicht auf allen Hochzeiten gleichzeitig tanzen.“ So häufig ich diesen Satz gehört habe, zu Herzen genommen habe ich ihn mir nie. Meine Devise ist: „Einmal alles und alles auf einmal, bitte.“

Ich würde immer versuchen, verschiedene Termine am selben Abend wahrzunehmen, verzweifelt über Busplänen hängen, um nach dem Konzert noch auf eine Geburtstagsfeier zu kommen. Die Wahrheit ist, ich würde mir ein Bein ausreißen, um überall gleichzeitig zu tanzen.

Die Wahrheit ist, ich würde mir ein Bein ausreißen, um überall gleichzeitig zu tanzen.

Seit ich denken kann, jongliere ich Hobbys, Freundschaften und diffuse Interessen. Ich spielte Volleyball und Gitarre, malte, zeichnete und las, aber konnte auch eine akute – und flüchtige – Leidenschaft für Schnabeltiere oder die Heiligen der katholischen Kirche entwickeln. Obwohl ich Sprachen den Naturwissenschaften immer vorzog, konnte ich mich mit allen Schulfächern anfreunden.

Ich hatte und habe wenig Ahnung, wohin mein Weg mich führt. Aber eins wusste ich immer: Ich will alles ausprobieren, alles mitnehmen, alles erleben. Der Gedanke daran, dass das nicht möglich sein könnte, machte mich nervös.

Die Angst, nicht ich zu werden

Heute trägt dieses Gefühl den schönen Namen FOMO, kurz für fear of missing out. Doch bin ich mir nicht ganz sicher, ob diese Bezeichnung mein Gefühl wirklich vollumfänglich beschreibt. Ich habe keine Angst, eine coole Party oder ein Treffen mit Freund:innen zu verpassen – zumindest keine besonders große.

Ich habe vielmehr Angst, nicht die zu werden, die ich sein will. Nicht mein Ding zu finden, meine Kunstform und Ausdrucksweise, gewissermaßen meine Essenz: nicht nur die Juristin, sondern auch die Schreiberin, die Forscherin und die Aktivistin – und wer weiß, vielleicht morgen die Hobbygeologin, die Schmuckdesignerin oder die Bassistin in einer Punkband.

Deshalb besuche ich Gesangskurse und Theaterworkshops, schaue in Vereins- und Parteitreffen rein, werde in WhatsApp-Gruppen und Emailverteiler aufgenommen. Dabei geht es mir neben der Suche nach dem, was wirklich zu mir passt, auch um das Erleben. Neue Orte und Leute inspirieren mich und lassen mich zur Beobachterin werden, zeigen neue Denkansätze und Perspektiven.

Neue Orte und Leute inspirieren mich und lassen mich zur Beobachterin werden, zeigen neue Denkansätze und Perspektiven.

Ich liebe Großstädte des freien Gefühls, vor allem aber der Möglichkeiten wegen. Spontan in die Fotoausstellung, essen beim Nepalesen und dann schnell noch zu einem Vortrag? Kein Problem. Hier finde ich alles, und genau das möchte ich.

Entspannter suchen

Aber das Hin- und Hergerenne hat mehr als eine Schattenseite. Denn zur Angst, etwas zu verpassen und dadurch nicht ich zu werden, gesellt sich eine zweite Angst dazu: die Angst, nicht anzukommen. „Mein Ding“ vielleicht gerade deshalb zu übersehen, weil ich dem Ganzen keine realistische Chance gegeben habe. Immer nur Mittelmaß zu sein, weil ich mir keine Zeit zum Üben genommen habe. Freundschaften oder tiefere Begegnungen zu verpassen, weil ich so schnell wieder weg war. Vor allem ist es die Angst, dass die Suche zum Selbstzweck geworden ist.

Dennoch: Grundsätzlich denke ich, dass es nicht schlecht ist, viel zu wollen – solange wir uns eben nicht in der Suche verlieren, auch mal stehenbleiben und unsere nächsten Schritte hinterfragen. Und solange wir auf uns selbst und unsere Bedürfnisse achten. Immerhin habe ich in den vielen Jahren des alles-auf-einmal-Wollens schon häufig erkannt, dass ich etwas nicht will. Aber auch, dass etwas anderes in mein Leben und zu mir gehört – wie das Klettern und das Schreiben.

Grundsätzlich denke ich, dass es nicht schlecht ist, viel zu wollen – solange wir uns eben nicht in der Suche verlieren, auch mal stehenbleiben und unsere nächsten Schritte hinterfragen.

Es tut mir leid, Mama: Ich werde weiterhin versuchen, auf vielen Hochzeiten zu tanzen. Aber vielleicht werde ich mir mehr Zeit nehmen, um mich dort umzuschauen. Werde mit den anderen Gästen plaudern und mich an der Deko erfreuen. Und womöglich gefällt es mir irgendwo so gut, dass ich meine Jacke über den Stuhl hänge und beschließe, hierzubleiben. Für den Abend oder länger.

Helen ist in Gedanken eigentlich immer auf einem Roadtrip, klettert oft auf Bäume und macht irgendwas mit Jura. Ihre Gedanken packt sie gerne in Textform und dann meistens auf ihren Blog. Was ihre Vorlieben angeht, schwankt sie stets zwischen Punk und Pop, Tanzen und Teetrinken, Kunst und Katzenvideos. Am glücklichsten ist sie, wenn die Sonne scheint und patriarchale Strukturen aufgebrochen werden. Mehr von Helen findet ihr auf ihrer Webseite.

Headerfoto: Marlon Schmeiski via Pexels. (Kategorie-Button hinzugefügt, Bild gecroppt und gespiegelt.) Danke dafür!

1 Comment

  • Es geht mir ähnlich wie dir nur das ich aus lauter Angst davor nicht alles ausprobieren zu können und immer wieder neu in einer Gruppe zu sein und evtl. wunderlich wahrgenommen zu werden, nichts probiere…

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