Mein Körper und ich – wie bei so vielen Menschen war das schon seit meiner Kindheit eine sehr schwierige Beziehung. Als ich mit drei Jahren das erste Mal Cortison bekam, und dies für die nächsten 15 Jahre 2x täglich einnehmen sollte, habe ich in einem Tempo zugenommen, dass einem Hören und Sehen verging.
Von da an habe ich meine komplette Kindheit und Jugend damit verbracht, zu versuchen, abzunehmen. Meine Eltern wollten nur das Beste für meine Gesundheit, und sind dementsprechend von Ärzt:in zu Ärzt:in mit mir gepilgert, von denen ich zu Ernährungsberater:innen, Akupunkteur:innen und Kuren geschickt wurde.
Meine Familie hat mit mir jede Ernährungsumstellung mitgemacht und stets versucht, mir beizubringen, dass ich auch als dicker Mensch hübsch und liebenswert bin, es aber eben besser für meine Gesundheit ist, nicht mit acht Jahren 58kg zu wiegen.
Meine Familie hat mit mir jede Ernährungsumstellung mitgemacht und stets versucht, mir beizubringen, dass ich auch als dicker Mensch hübsch und liebenswert bin, es aber eben besser für meine Gesundheit ist, nicht mit acht Jahren 58kg zu wiegen.
Was sie nicht wussten, ist, dass dies aufgrund eines frühkindlichen sexuellen Traumas bereits ein sehr absurder Gedanke für mich war, und ich schon damals eine gestörte Beziehung zu meinem Körper hatte. Also versuchte ich, abzunehmen.
Als Dorfkind war ich immer recht viel draußen und körperlich aktiv und als dickes Kind achtete ich nun eben auch sehr auf meine Ernährung. Nichts davon, nicht einmal die Kur, auf der ich mit 12 Jahren 20kg abnahm, brachte eine langfristige Erleichterung, pun intended.
Eine Odyssee in die Essstörung
Mit 17 Jahren, immer noch sehr dick, zog ich weg vom Zuhause, von meiner Familie, vom Dorf, 800km weit weg von meiner Heimat, einer Ausbildung hinterher. Ich zog zusammen mit fünf mir völlig fremden Leuten, die dann zu einer Ersatzfamilie wurden, in ein Schwesternwohnheim für die Jahre der Berufslehre.
Das Bisschen, das ich damals noch nicht über Ernährung wusste, habe ich dann in der Krankenpflegeausbildung gelernt. Was ich dann aber tat, fing aufgrund finanzieller Knappheit an, und versteifte sich aufgrund meines versteckten Traumas über die kommenden Jahre und verwandelte sich in eine Essstörung.
Ich aß selten, aber wenn, dann viel. Essen war irgendwie Stress.
Ich aß selten, aber wenn, dann viel. Essen war irgendwie Stress – und sobald ich in irgendeiner stressbehafteten Situation war, sei es beruflich und schulisch, Liebeskummer, Unzufriedenheit mit mir selbst, meine posttraumatische Belastungsstörung, Streit mit Freund:innen, missbräuchliche Beziehungen, oder einfach nur viel zu tun: Ich bekam nichts runter.
Und nachdem ich zwei oder manchmal drei Tage nichts oder nichts Anständiges gegessen hatte, überwältigte er mich: Der Heißhunger. Ich habe alles in mich reingestopft, das ich finden konnte, weil ich mich plötzlich, nachdem ich zwei Tage lang keinen Hunger hatte, total ausgehungert gefühlt habe. Somit war ich in meinem ganz eigenen „Jojo-Effekt“ gefangen und nahm weiterhin stetig zu.
Ist mir schlecht, weil ich nichts esse, oder esse ich nicht, weil mir schlecht ist? Oder: Bin ich emotional instabil, weil ich nichts esse, oder esse ich nichts, weil ich emotional instabil bin?
Nach ein paar Jahren wurde dieses Essverhalten für mich zur Normalität. Wenn ich, was aufgrund der Entfernung eher selten vorkommt, zu Besuch in der Heimat war, war es etwas leichter. Ich habe wenigstens täglich eine vernünftige Mahlzeit zu mir genommen – war ich doch entspannt und hatte keine Pflichten, und musste vor allem mein Essen kaum selbst zubereiten.
Selbst während jahrelanger immer wieder stationärer Therapie konnte ich mich oft um richtiges Essen herum winden.
Aber sobald ich wieder in meinem Alltag war, setzte der (nicht-)Essenstrott wieder ein. Selbst während jahrelanger immer wieder stationärer Therapie konnte ich mich oft um richtiges Essen herum winden. Damals wurde ich psychologisch diagnostiziert und behandelt. Was aber nicht so viel brachte, da niemand von meinem Trauma wusste und ich somit gegen Depressionen und nicht gegen PTBS behandelt wurde.
Aber dass ich diese spezifischen Probleme mit Ernährung hatte, habe ich nicht gesehen, und die meisten dachten wohl auch: Wenn jemand dick ist, kann es ja nicht schlecht sein, mal „dann und wann“ nichts zu essen.
Mein Partner Chris, mit dem ich im Alter von 23 Jahren zusammen kam, bemängelte mein Essverhalten oft, aber ich konnte mich meistens aus diesen Diskussionen heraus winden. Irgendwann waren die Grenzen so verschwommen, dass ich schon gar nicht mehr wusste, was nun Ursache und was Wirkung war. Chris jedoch wurde über die Jahre vehementer, bis er mir eines Tages an die Stirn klatschte: „Du hast doch eine Essstörung.“
Von Stagnation und Neuanfang
‚Der erzählt doch Quatsch’, dachte ich mir ‚ich esse ja nicht so, weil ich es beabsichtige, sondern weil mein Körper es nicht anders will‘. Ich trug diesen Gedanken dennoch zu meiner jetzigen ambulanten Therapeutin, weil er mich auf lange Sicht doch nicht ganz in Ruhe ließ.
Diese neigte und wog nach meinen Essensberichten ihren Kopf und sagte: „Ich muss ehrlich sein, ich würde ihm schon zustimmen.“ Das hat erstmal gesessen.
Also dachte ich eines Nachts: ‚Na was soll’s, dann versuche ich eben erstmal das mit dem Essen.‘ Und das tat ich.
Nun war ich aber eigentlich seit einer Weile darauf fixiert, meine zweite Karrierelaufbahn als Fotografin ins Rollen zu bringen – was zum Start von Covid und mit mir als Pleitegeier jedoch ein schwieriges Unterfangen war. Also dachte ich eines Nachts: ‚Na was soll’s, dann versuche ich eben erstmal das mit dem Essen.‘
Und das tat ich. Man kann mir ja viel Prokrastination vorwerfen, aber wenn ich insgeheim mit mir selbst etwas fest ausmache, dann folge ich dem. Und so war es auch hier. Ich fing an, mir kleine Ziele zu setzen: Jeden Tag wenigstens eine kleine Mahlzeit. Daraus wurde dann jeden Tag wenigstens eine anständige Mahlzeit. Und dann zwei. Und dann zwei mit einer gesunden Kleinigkeit zwischendurch. Und dann zwei mit zwei gesunden Kleinigkeiten zwischendurch.
Ach krass – so fühlt sich normaler Hunger an?
Das war gerade im ersten halben Jahr ein schrecklicher Kampf, und es war, um es auf „gutdeutsch“ zu sagen, scheißanstrengend. Mehr als anderthalb Jahre intensiven Auseinandersetzens damit hat es insgesamt, mit der Unterstützung meiner Therapeutin, Hilfestellungen meines Partners und Anfeuern meiner Familie, gedauert, bis ich bei regelmäßigem Essverhalten angekommen bin.
Und plötzlich hat sich so viel verändert in mir – ich verspüre regelmäßig Hunger, dafür weniger regelmäßig Übelkeit, und emotional stabiler bin ich auch.
Und plötzlich hat sich so viel verändert in mir – ich verspüre regelmäßig Hunger, dafür weniger regelmäßig Übelkeit, und emotional stabiler bin ich auch. Gerade letzteres hat mich sehr motiviert und gefreut, und als ich dann zum vergangenen Jahreswechsel begonnen habe, darauf zu achten, mich auch noch ausgewogen zu ernähren, passierten auf einmal mehrere verrückte aber schöne Dinge gleichzeitig.
Ich entwickelte einigermaßen Freude daran, mir Essen zuzubereiten, habe mich meinem eigenen Körper näher gefühlt und: Auf einmal fingen die Kilos an, zu purzeln.
Darf ich mich jetzt einfach so besser finden, weil ich abnehme?
Nach den ersten zehn Kilos stellte sich mir plötzlich eine Frage in den Weg: Darf ich, die immer so darauf bedacht war, body positivity zu predigen und gerade auch im Rahmen meiner Fotografie, anderen Leuten zu zeigen, dass sie schön sind und sich mögen dürfen, egal wie sie sind, mich jetzt schuldfrei gut fühlen, weil ich langsam, aber konstant abnehme?
Ich merke, wie ich es ohne Pause und Atemlosigkeit in den vierten Stock schaffe. Ich erfahre, dass ich weniger Rückenprobleme habe. Und ich freue mich darüber, wenn ich abends in meinem Bett liege und mein Herz pochen spüre, dass ich eben diesem Herzen etwas Gutes tue.
Aber die Antwort ist: Ja. Ja, natürlich darf ich das. Ich merke, wie ich es ohne Pause und Atemlosigkeit in den vierten Stock schaffe. Ich erfahre, dass ich weniger Rückenprobleme habe. Und ich freue mich darüber, wenn ich abends in meinem Bett liege und mein Herz pochen spüre, dass ich eben diesem Herzen etwas Gutes tue.
Ich habe nicht angefangen, abzunehmen, weil ich „schöner“ sein wollte, sondern ich esse ausgewogen und deshalb nehme ich ab. Und das ist völlig in Ordnung so, und sowohl mein Kopf als auch mein Körper freuen sich darüber.
Und plötzlich lag ich nackt im hohen Gras und hab mich gut gefühlt
Nicht nur die Ernährung, sondern natürlich auch jahrelange Therapie haben mich an diesen Punkt gebracht (Frau L., Sie sind ein Engel auf Erden) – denn am Ende hat es ja auch die Therapie erst möglich gemacht, mich mit vernünftiger Ernährung vertraut zu machen.
Ich bin mittlerweile 31 Jahre und 20kg leichter, und ich komme so langsam wirklich gut klar mit mir selbst.
Therapie, in der ich an meinem Trauma und mit meinem verletzten inneren Kind arbeite, und die beizeiten verdammt hart und anstrengend ist, aber sich für mich wirklich lohnt. Ich bin mittlerweile 31 Jahre und 20kg leichter, und ich komme so langsam wirklich gut klar mit mir selbst.
Der körperliche Aspekt war ein Extra obendrauf, allerdings ein recht großes Extra. Es ist quasi die Kirsche auf der Sahnetorte, die ich mir trotz aller ausgewogener Ernährung ab und an gönne. Ich bin, mental gesehen, noch lange nicht da, wo ich irgendwann sein möchte. Aber ich bin auf dem Weg, und ich hab ja noch mein ganzes Leben lang Zeit.
Und da kam er neulich, der Moment, in dem ich in Feld und Wald unterwegs war, es fing an, ein wenig zu stürmen, kein Mensch weit und breit, und ich bekam total Lust, mich nackt ins hüfthohe Gras zu legen. Also hab ich das getan. Nackt sein früher? Schrecklich. Überall Körper, Körper der vernarbt ist, und voller Schmerz und hässlicher Dinge, die über ihn gesagt und empfunden, die ihm angetan wurden – auch von mir selbst. Aber dann mein nackter Körper in der Natur, mein Körper, der mein Leben lang dafür arbeitet, dass ich leben kann – etwas leichter in der Bewegung und sehr viel liebevoller Behandelt als in der Vergangenheit: Und ich hab mich gut gefühlt.
Headerfoto: jasmin chew (Kategorie-Button hinzugefügt und Bild gecroppt. ) Danke dafür!