Ein Neues Jahr, aber ohne dich: Als mein Großvater ging

Der Dezember liegt vor uns. Der Monat, in dem mein Opa geboren ist. In dem er seit Jahrzehnten Tannenbäume abschlug und sie als Weihnachtsbäume verkaufte. Und in dem wir jetzt alle am 26. in der guten Stube unserer Großeltern sitzen, Knödel und Rotkohl essen und feierlich Geschenke auspacken.

Jetzt ist es nur noch der Monat, der mit seinem Tod eingeläutet wurde. Ab jetzt wird mein Kopf mich jedes Jahr daran erinnern, wie ich meiner Schwester mit tränenüberströmtem Gesicht die Tür öffne und sie bei meinem Blick weiß, warum ich hier in ihrer WG stehe. Stundenlang sitzen wir in ihrem Flur steuern von einem Heulkrampf zum nächsten. Wir hoffen, bitten und beten.

Ich frage mich, ob ich es je begreifen werde. Den Tod.

In dem Dämmerzustand, in dem wir uns befinden, können wir nicht begreifen, was kurz vor Mitternacht passiert. Ich frage mich, ob ich es je begreifen werde. Den Tod. Ob ich es jemals realisiere, weil ich mich dagegen entschieden hab, ihn nochmal zu sehen. Ich weiß nicht, ob ich es später bereue, ob es besser gewesen wäre, für meinen Verstand. Aber in dem Moment entschied ich aus meiner Intuition heraus.

Wollte mir nicht mein Bild, was ich von ihm hatte, das laute Lachen, die Witze, den Schelm in ihm, nehmen lassen und durch einen blassen kalten Körper in einem Sarg liegend ersetzen. Also redete ich mir ein, dass es nicht mehr er wäre, den ich anfassen würde. Weil sein Körper nur noch die Hülle dessen ist, was längst ging.

Das Leben. Sein Leben und mit ihm sein charmanter Charakter, seine rauchige Stimme, seine faltigen Hände und sein weicher Bauch. Seine Art mich „Mein Mädchen“ zu nennen oder mit mir zu scherzen.

Haben wir jemals gelernt wie trauern funktioniert?

Wie geht trauern? Bereits seit langem beschäftigt mich der Gedanke des „Trauerns“. Wie werde ich trauern, wenn ich muss? Wie werde ich damit zurechtkommen, dass auf einmal, mit einem Fingerschnips, ein Mensch verschwunden ist? Von der Bildoberfläche. Weg aus meinem Leben, in dem er gerade eben noch einen so entscheidenden, so großen Raum eingenommen hat.

Zwar ist die Person jetzt gerade noch da, nur eben anders. Die Stimme klingt noch im Ohr, aber mit der Gewissheit, sie nur noch aus der Erinnerung heraus zu hören.

Die Angst trieb mich seit Jahren um. Eine Angst, von der wir wissen, dass sie irgendwann Realität werden wird. Jede:r kennt diese Angst. Die Angst vor dem Tod. Nicht unbedingt vor dem eigenen. Sondern vor dem, mit dem wir lernen müssen umzugehen. Der Tod von den uns so geliebten Menschen. Aber wie? Wie, wenn wir uns der Thematik verschließen? Den Themen „Sterben, Tod und Trauer“ nur am Rande der Gesellschaft, hinter vorgehaltener Hand und mit runtergeschluckten Tränen begegnen.

Natürlich gibt es nicht den einen richtigen Weg. Aber woher wissen wir, welcher der richtige für uns ganz persönlich ist, wenn wir gar nicht wissen, wie wir uns mit einem Tod auseinandersetzen sollen?

Seit Wochen sagen mir viele, dass ich mich gut verhalte. Gut mit meinem Verlust umgehe. Aber was heißt „gut“?

Seit Wochen sagen mir viele, dass ich mich gut verhalte. Gut mit meinem Verlust umgehe. Aber was heißt „gut“? Denn gut fühlt sich das hier absolut nicht an. Ich fühle mich nicht gut. Ich weine jeden Abend. Die Tränen trocknen erst, wenn meine Augen längst zugefallen sind. Wenn ich mich leeren Träumen hingebe, immer mit der Hoffnung, vielleicht in dieser Nacht von ihm zu träumen. Ich trauere jeden Tag. Denke noch so viel mehr an ihn als zu der Zeit, als er noch hier war.

Ich weiß nicht, ob mein Weg, sein Fortgehen zu verstehen, richtig ist. Was ich weiß, ist, dass mir reden und weinen hilft. Immer abwechselnd. Weinen, wenn ich allein bin und dabei anscheinend auch so laut zu hören bin, dass kürzlich Schokolade in meinem Briefkasten landete. Und reden mit meiner Familie, aber besonders mit mir nahestehenden Menschen. Mit Menschen, die gerade jetzt keine Betroffenen sind.

Weil sie mir von ihren Opas und Omas erzählen. Von ihrem Schmerz, ihrer Liebe, ihren Erlebnissen. Mein Schmerz wird dadurch nicht weniger, aber er bekommt einen Sitznachbarn, der ihm einfach für einen Moment Gesellschaft leistet. Ich glaube, darum geht es. Hin und wieder Gesellschaft zu haben, die einem zuhört, die angemessene Nähe schenkt und ein paar warme Worte hinterlässt, bevor sie wieder verschwindet.

Manchmal kommt eine Welle auf mich zu, die ich in dem Ausmaß nicht erwartet habe.

Ich trauere in Wellen. Manchmal, wenn auch selten, da ist es still in meinem Meer. Da lache ich, da komme ich zur Ruhe, lenke mich ab, habe eine gute Zeit. Und manchmal da kommt eine Welle auf mich zu, die ich in dem Ausmaß nicht erwartet habe. Die eine jedoch, die habe ich kommen sehen. Wenn auch nicht erahnen können, wie sehr sie mich trifft. Es ist der Tag seiner Beisetzung. Ich kann meinen Blick nicht abwenden, von dieser gräulichen Urne mit dem goldenen Schriftzug. Ich sehe nur sie.

Und am Rande die vielen Blumen, Kerzen und Worte. Ich sehe sie und mein Kopf will nicht begreifen, dass das er sein soll. Von diesem stattlichen starken Mann, soll nur noch das übrig sein?

Wo geht die Liebe hin, wenn ein entscheidender Teil der Familie stirbt?  

Ich sehe ihn genau vor mir, die ganze Zeit steht er daneben und schaut zu uns. Aber ich kann nicht zu ihm. Kann ihn nicht nochmal berühren, umarmen, seine Hand nehmen, über sein rosiges Gesicht streichen. Ich sitze hier auf meinem Stuhl, mit der weißen Rose in der Hand und passe auf, dass kein Rosenblatt abfällt. Ich halte sie so vorsichtig in meinen Händen, als könnte sie jeden Moment zerbrechen.

Ein Taschentuch nach dem anderen wird von meinen Tränen getränkt. Als wir uns gemeinsam an seinem so gelebten Leben entlanghangeln, weiß ich, wie dankbar wir uns schätzen können. Für eine so gute, lange Zeit. Aber das verringert nun mal nicht meinen Schmerz. Er war doch unser Lachen. Unser Witz. Wer wird das in Zukunft übernehmen? Der Platz oben am Tisch wird leer bleiben, auf seinem Sofa wird bald jemand anderer Platz nehmen.

Der Tod will einfach nicht in meinen Kopf. Er kann doch nicht gegangen sein. Und wohin denn auch?

Der Tod will einfach nicht in meinen Kopf. Er kann doch nicht gegangen sein. Und wohin denn auch? Ich wünschte, ich könnte voller Überzeugung sagen, da gibt es einen Ort. An dem er seinen besten Freund Otto trifft. An dem er frische Mettwurst isst und einen Haufen Zigarillos raucht. An dem er nie abtrocknen muss, aber eine ganze Taubenschar züchten kann. Ich wünsche es mir so sehr.

Vielleicht wäre alles einfacher, wenn ich wüsste, ich werde ihn irgendwann wieder sehen. Dass dieser Abschied nur einer auf Zeit ist, wie wir ihn doch so oft schon hatten. Weil ich doch immer diejenige war, die es in die Ferne zog und vor allem für meine Großeltern immer wieder zurückkam, auf Zeit und zu Besuch.

Sie waren die, die auf mich warteten, mich freudig in die Arme schlossen und die ich direkt wieder vermisste, wenn ich in mein Auto stieg und sie von der Haustür aus winken sah. Er war der Heimatverbundene, der in seinem Elternhaus geboren wurde, den Hof übernahm, den Feldern immer treu blieb und nur einmal den Fuß in ein Flugzeug setzte. Gemeinsam mit mir. Und jetzt ist er so weit weg, dass ich nicht weiß, wie ich es aushalten, es akzeptieren soll. Wie ich mit diesem Verlust leben kann, weil mein Herz so weh tut, wie es das noch nie tat.

Ich weiß, ich werde mich daran gewöhnen. An den Schmerz und seinen leeren Platz. Aber all das wird Zeit brauchen, und das darf es auch.

Madita ist 25 und schreibt beruflich mit großer Neugier und Motivation als Volontärin über alles, was andere Frauen und sie interessiert. Privat widmet sie sich mehr ihrem Kopf und ihrem Herzen und schreibt frei heraus, was sie bewegt und ihr nahe geht. Sie mag es zu reimen, Wortfetzen und Gedankenschnipsel aneinander zu reiben, sodass sie wilde Geschichten miteinander treiben. 

Headerfoto: cottonbro (Kategorie-Button hinzugefügt und Bild gecroppt.) Danke dafür!

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