„Du musst dich nur selbst glücklich machen?“ – Selbstliebe hört nicht bei einem selbst auf, sondern geht da erst los

Mein Ellenbogen stützt auf dem Tisch, so dass meine Wange in meiner Handfläche liegt, während ich ihr gelangweilt dabei zuhöre, wie sie sich ausführt. Ihr Mund bewegt sich schneller als ihre Augen rotieren. „… Am Ende geht es nicht um die anderen. Nur um dich selbst. Denn jeder muss sich nur selbst glücklich machen. So was kommt nicht von außen. Wenn du glücklich bist, dann ziehst du auch ein postives Leben an und dann kommt das Glücklichsein von ganz allein.“

Ihre Arme wedeln in der Luft. Zwischen uns stehen fast leere Gläser. Ich muss unmerklich seufzen, lächle aber dabei weiterhin und nicke. Es scheint ihr gleich, denn sie redet einfach weiter. „Wie willst du jemanden lieben, wenn du dich nicht selbst lieben kannst? Wie soll dich jemand in deinem Leben glücklich machen, wenn du dich selbst nicht leiden kannst? Und wie willst du jemanden glücklich machen, wenn du es selbst nicht bist?“

Scheiß Tinderdates. Sie zeigt mit dem Finger auf mich. „Niemand kann jemanden glücklich machen, der selbst nicht glücklich ist. Und bist du denn glücklich?“

Ich sehe schon seit geraumer Zeit, worauf das hinausläuft. Scheiß Tinderdates. Sie zeigt mit dem Finger auf mich. „Niemand kann jemanden glücklich machen, der selbst nicht glücklich ist. Und bist du denn glücklich?“ Ich zögere für sie einen Moment zu lange mit der Antwort und sie verschränkt die Arme vor der Brust. „Das dachte ich mir. Du scheinst mir nämlich nicht besonders glücklich.“

Sie zeigt wieder auf mich. „Aber ich brauche diese Negativität nicht in meinem Leben. Ich will Spaß haben, verstehst du das? Ich will das Leben genießen. Ich will viele neue Orte sehen und interessante Menschen kennenlernen. Mich weiter entwickeln. Die Welt ist so ein schöner Ort. Du musst anfangen zu leben.“

Gott, wie mich solche Frauen aufregen. Sie schaut mich einen Moment durchdringend an, dann schaut sie zu Boden. „Ich glaube, ich sollte jetzt gehen.“ Sie spricht langsam und fast flüsternd, aber bestimmt. Ich sitze mit verschränkten Armen und schaue sie an. „Wenn du meinst.“ Sie steht auf und nimmt ihre winzige Handtasche. „Schau, du bist ein toller Mensch und so, aber ich glaube nicht, dass das was wird mit uns. Ich hoffe, du findest einen Weg, glücklich zu sein. Und vielleicht findest du dann auch jemanden, der zu dir passt.“ Ich nicke.

„Getränke übernehm ich dann. War trotzdem nett, dich kennen zu lernen.“ Mein Lächeln überzeugt sie nicht. Einen Moment steht sie noch da, als ob sie etwas sagen wollte, entscheidet sich aber dann doch dagegen und lächelt stattdessen ähnlich gequält. „Mach’s gut.“ Dann geht sie an den anderen Tischen vorbei durch die Tür aus dem Café und ist verschwunden. Ich schaue ihr nicht hinterher. Stattdessen trinke ich meinen letzten Schluck und reflektiere, wie wenig sie verstanden hat.

Schritt 1: Selbst. Bewusst. Sein.

Ich will ja nicht in Abrede stellen, dass man sich erst selbst glücklich machen muss. Dass man herausfinden muss, was einem Spaß macht und wer man selbst ist. Seine persönlichen Grenzen abstecken und einen moralischen Kompass formen. Vorlieben und Abneigunen definieren. Erfahrungen sammeln. Seinen Charackter entwickeln.

Und ich verstehe auch, dass es sehr viele Menschen auf dieser Welt gibt, die diese Reise weder machen werden, noch eine Intention haben, auf wirkliche Selbstsuche zu gehen. Bei anderen wiederum ist der Wunsch da, aber es fehlt der Weg, eine Perspektive, respektive Sichtweise oder schlicht die Hoffnung auf etwas Verbesserung. Was auch immer die Kombination aus all dem sein mag. Sei bewusst du selbst.

Natürlich ist es für viele nicht einfach, dort hin zu kommen. Verstehe ich. Alles schön und gut. Das Basis-Einmaleins muss schon verinnerlicht sein, was sehr viel Zeit, Aufmerksamkeit und Mühe braucht. Man muss zu sich selber finden und sich selbst mögen, so wie man ist, auch wenn es vielleicht manchmal schwerfällt. Weil das unterm Strich völlig ok ist, wie und was man ist. (Mit sich) Selbst. Bewusst. Sein. Hat Priorität. Ist aber eben nicht alles. Bei weitem nicht.

Niemand hat etwas davon, wenn du glücklich bist. Nur du selbst. In deiner Welt.

Im Gegenteil, allein hat das nichts mit Liebe zu tun. Nichts mit wahrer Selbstliebe, sondern ist in meinen Augen, sofern nicht weitergedacht, nicht mehr als stumpfe Egozentrik. Niemand hat etwas davon, wenn du glücklich bist. Nur du selbst. In deiner Welt. (Und das ist doch alles, was zählt.)

Es scheint mir eher ermüdend, zeigt es doch, wieviel unternommen wird, um sich ja nicht auf oder in die dunkle Seite zu begeben, die in jedem Menschen herrscht, um in Ablenkung dem Leid und dem Elend zu entgehen, das sich im eigenen wie in anderer Menschenleben manifestiert. Wohlwissend, dass, solange die dunkle Tür geschlossen bleibt, man die drei Affen praktizieren kann. Das ist mir zu kurz gedacht. Da fehlt mir der Langzeittrend der Glückseligkeit.

Dieses „sich selbst glücklich machen“ ist nur der erste Schritt zur Selbsterkenntnis und wird, durch die Unwissenheit der tieferen Bedeutung, meistens falsch interpretiert und führt meist dazu, dass sich die Menschen trotzdem noch fragen, warum sie sich so allein fühlen. Immerhin haben sie doch alles, was man sich wünschen kann. Das mag sein, dass sie alles haben. Doch eins haben sie nicht. Nämlich alles verstanden. Die restlichen Schritte zum Beispiel.

Schritt 2: Ehrlichkeit

Aber gut, gehen wir also mal davon aus, ein Individuum hat sich selbst glücklich gemacht, was auch immer das heißen mag. Er oder sie (im Folgenden es, „das Individuum“) kennt seine Stärken und Schwächen, hat sein soziales Umfeld, Beziehung, Familie und was noch alles zum persönlichen Wohlbefinden beiträgt in irgendeiner Art und Weise in seinem Leben etabliert. Es ist im Reinen mit sich und seiner Umwelt. Ausgeglichen und fröhlich.

Nun, man sollte an der Stelle doch durchaus davon ausgehen können, hierbei von positiver Energie sprechen zu können, oder? Einer wohltuenden Resonanz von Schwingungen der Freude und Unbeschwertheit. (Mitunter) selbst herbeigeführt. Eine Zufriedenheit. Ein Mensch, der lächelt, steckt auch (zumeist) andere an.

Und diese postive Energie kann man nutzen. Sie enthält Potenzial. Und dieses Potenzial ist sehr mächtig. Auch negative Energie ist sehr mächtig. Merken viele z. B. montagmorgens. Aber gehen wir von einem postiven Energiehaushalt aus. In diesem liegt das Potenzial, etwas Gutes zu tun. Vielleicht für jemanden. Ein Besuch bei jemandem, der gerade etwas Gesellschaft vertragen könnte, oder sich (für sich) selbst in einer der vielen Formen der Kunst auzudrücken, um damit vielleicht auch noch mehrere oder jemand bestimmtes zu erreichen und so jemanden glücklich zu machen. Doch es ist manchmal nicht einfach, herauszufinden, was denn die Menschen (wirklich) glücklich macht.

Denn wenn wir ehrlich sind, dann sind wir nicht wirklich glücklich. Wenn wir wirklich, wirklich ehrlich sind, so spätestens nach der zweiten Flasche Rotwein, können wir festsellen, dass es uns, wenn wir denn ehrlich sind, regelrecht beschissen geht. Und egal, wie lange dieses Gespräch dann geht, steht zumeist an dessen Ende die Antwort, das fundamentale Totschlagargument der eigenen Übergeordnetheit in Form des einen Satzes:

„Sei froh, dass es dir nicht so schlecht geht, wie anderen.“ Wer kann da schon noch argumentieren? Denn immerhin kann man sich ja glücklich schätzen, hier in der ersten Welt. Und es wäre undankbar zu lamentieren. Aber wenn wir ehrlich sind, hilft uns das auch nicht wirklich.

Und dann sehen sie dich. Diese Augen. Und du siehst sie. Und dann könnt ihr euch plötzlich sehen, in dem, was hinter der Fassade liegt.

Wenn wir ehrlich sind, dann stellen wir fest, dass es einerseits viele gibt, die unehrlich sind, andererseits auch wenige, die wirklich ehrlich sind, von denen dazwischen ganz zu schweigen. Je mehr Expertise man jedoch aus Schritt 1 mitbringt, desto klarer kann man jemanden erkennen, der ehrlich ist. Der einfach ehrlich IST. Und die sind von großem Wert. Denn sie sind authentisch, geben passiv einen F… darauf, was andere von ihnen halten, und sehen die Dinge mit ihren eigenen Augen. Und dann sehen sie dich. Diese Augen. Und du siehst sie. Und dann könnt ihr euch plötzlich sehen, in dem, was hinter der Fassade liegt.

Schritt 3: Vertrauen

Ehrliche Menschen müssen sich nicht einem müßigen Nonsens-Geplänkel hingeben, um sich künstlich zu profilieren. Sie müssen nicht übers Wetter, Politik oder Triviales quatschen, um die erdückende Stille zu überbrücken, in denen man sich mal nichts zu sagen hat. Menschen, die sich ehrlich gegenüberstehen, genießen den Moment, auch und vielleicht besonders, wenn darin (eine gemeinsame) Ruhe herrscht. Eine Ruhe, die trotz oder gerade aufgrund ihrer Abwesenheit von Worten, um so viel mehr von Inhalt gefüllt ist.

Anstatt einer künstlich erschaffenen Situation unter der Prämisse der Hoffnung und Suche nach Bindung und dem Entfliehen der Einsamkeit und dem Alleinsein (und sei es auch nur temporär), gibt es plötzlich ein natürliches, ehrliches Lächeln, das deinen ganzen Körper wärmt. Dir die Haut kribbeln lässt. Weil es tiefer geht als der Rest, weil es dein Herz erreicht. Weil es ehrlich ist.

Wer will schon wissen, wie schlecht es uns eigentlich geht, welche Leiden wir haben und wie und was uns alles belastet. Dass die Welt beschissen ist und wir alle bald sterben?

Du fühlst dich ertappt und bist ab jetzt sehr vorsichtig. Denn genau dort, wo dieses Gefühl trifft, sind wir wirklich (und) sehr verletzbar. Das wissen wir. Aus Erfahrung. Denn Ehrlichkeit ist auch vor allem eins: sehr, sehr hässlich. Wer will schon wissen, wie schlecht es uns eigentlich geht, welche Leiden wir haben und wie und was uns alles belastet. Dass die Welt beschissen ist und wir alle bald sterben? Das ist weder sexy noch zeugt es von starkem Selbstbewusstsein.

Also dirigieren wir uns in den „Best of“ Modus und würden damit normalerweise (mal mehr, mal weniger) punkten. Doch nicht hier. Nicht diesmal. Denn da ist diese verdammte Ehrlichkeit, die dich durchbohrt wie ein Pfeil. Doch dieses Mal ist es ok. Denn trotz des stillschweigenden Übereinkommens über das Verständnis der unausgesprochenen Umstände des Gegenübers, scheint es kein Problem zu geben. Keine Veruteilung. Kein von oben herab.

Schritt 4: Demut

Es liegt nun an dir, dich zu öffnen. Kein Verstellen. Sei bewusst Selbst. Niemandem sonst ist diese Fähigkeit gegeben. Du kannst sein, was auch immer du möchtest. Hier sieht man die Auswirkungen von Schritt 1 erneut. Sei traurig. Sei fröhlich. Aber sei ehrlich.

Ein (sich) selbst bewusster Mensch wird dich anders wahrnehmen als die meisten. Er wird sich lange und unentwegt mit sich und seinem Bewusstsein, dem kollektiven Bewusstsein und dem Bewusstsein der anderen auseinandergesetzt haben. Er wird sich seiner eigenen Sterblichkeit und seiner Unbedeutsamkeit im Gefüge von allem bewusst geworden sein und den Moment, in dem du vor ihm stehst, in einer Form der Gleichbedeutsamkeit, einer Gleichgültigeit wahrnehmen.

Er wird von Konzepten wie „Gut und Schlecht“ Abstand genommen haben und verstanden haben, dass diese nur subjektiv sind und das Wunder in jedem Moment liegt, in jedem Atemzug. Und auch in dir. Deswegen schaut er dich so an. Er wird „das Sein“ neutral betrachten und verstanden haben, dass niemand Bedeutung hat. Weder er noch du. Weil nichts Bedeutung hat. Denn Bedeutung wird immer noch gegeben.

Schritt 5: Teil

Und du merkst plötzlich, dass es Bedeutung hat, was du sagst. Dass du dich mitteilst. Dass du dich öffnest. Dass, je mehr du ehrlich zu der Person und vor allem dir selber bist, es sich gut anfühlt. Und richtig. Dass das, was du bist, einen großen Wert hat. Erkannt wird. Und dafür kannst du nicht anders als diesen Menschen zu lieben. Dafür, dass er dir das zeigt. Auch wenn er manchmal nicht mal ganz versteht wie oder warum*.

*Wenn man mag, kann man an dieser Stelle auch den Intimitätsgrad erhöhen und miteinander schlafen, obwohl diese Überspitzung zumeist in Entfremdung endet. Die, mit denen man nie geschlafen hat, kennt man schon ewig. Und die, mit denen man geschlafen hat, die kennt man selten lange. Es gibt Ausnahmen. Aber da bildet sich doch auf Dauer der empirischen Kollektivuntersuchung ein Langzeittrend ab. Sex und daraus resultierende Beziehungen zum ultimativen Ziel erhoben, anstatt sich ehrlich zu öffnen. Lieber die Beine als das Herz. Das reicht doch. Der Rest kommt später. Mehr ein Prozess als eine Basis. Nicht ganz meine Meinung, aber gut, jedem, wie es ihm gefällt. Vielleicht nur ein Symptom der Schnelllebigkeit unserer heutigen Zeit, die es durch wischbare Redundanz fast schon unmöglich macht, sich wirklich auf jemanden einzulassen. Vielleicht ist es auch nur die übertriebene Überinterpretation der gemeinsamen Definition postkoitus. Oder die Angst vor Verletzung. Wer weiß das schon. Jedenfalls ist casual Sex IMO mit Vorsicht zu behandeln, das wird schnell zum Minenfeld.

Aber viel wichtiger für dich ist, dass es diesen Menschen gibt, dass er existiert, dieser Mensch, der dich ansieht und dich schon nur damit abholt. Und du willst, dass er glücklich ist. Weil er dich glücklich macht. Weil er dir etwas bedeutet. Er ist ein Teil von dir und du von ihm. Und was, wenn dieser Mensch dann geht?

Schritt 6: Würde

(Siehe Schritt 4)

Schritt 7: Mitgefühl

Du weißt, wie es dir geht. Und du weißt auch, dass es anderen genauso geht. Du weißt, wie du erreicht wurdest und wie mitunter einfach du Menschen erreichen kannst. Sollte dich dieser Text ereicht oder gar bewegt haben, dann bist du einer von diesen Menschen, die verstehen, dass Selbstliebe nicht bei einem Selbst aufhört, sondern an dessen Grenzen erst losgeht. Die positiven wie negativen Energien aus Schritt 2 können Bewusstsein erschaffen. Langanhaltende Gefühle fernab trivialer Oberflächlichkeit erzeugen. Schönheit kreieren. Hoffnung. Sicherheit. Geborgenheit. Liebe.

Sich selbst glücklich machen heißt, das Gegenüber als einen Teil von sich selbst zu erkennen. Wenn dieser externe Teil von mir nicht glücklich ist, wie kann ich es dann wirklich sein? Ich will, dass es dir gut geht. Aber vor allem will ich, dass es dir nicht schlecht geht. Das würde mich glücklich machen.

Ich schaue hinab auf mein immer noch leeres Glas vor mir. Es sind ein paar Minuten vergangen. Im Café reden Leute. Die Bedienung bleibt neben mir stehen, tippt auf ihrem Pad herum und fragt abwesend, ob ich noch was möchte. Als ich nicht antworte, schaut sie auf, mustert mich einen Moment lang und fragt dann freundlich, ob alles ok sei. Ich schaue sie an, unser Blick trifft sich und ich muss lächeln. Und dann nicke ich.

Headerbild: Cassandra Hamer via Unsplash. („Wahrheit oder Licht“-Button hinzugefügt und zugeschnitten.) Danke dafür!

ROB ist mittlerweile in der neuen alten Heimat eingekehrt und findet dort seinen Frieden im Wissen, dass es nicht so wichtig ist, wo man ist, sondern mit wem.

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