Du fehlst mir so sehr, doch es sollte nicht sein – Herz aus Zement

Ich parke meinen kleinen, blauen Mazda vor deinem Fenster. Mein Lieblingsparkplatz, schon lange bevor ich dich kannte. Heute parke ich da, weil ich deinen Kopf, zumindest das obere Drittel, durch das Fenster sehe. Du sitzt am Schreibtisch, es brennt Licht. Ich schaue in den Rückspiegel und rücke die Mütze zurecht.

Es ist der 5. November, kurz nach 13 Uhr, die Tage sind schon erschreckend kurz und dunkel und heute, passend zur Stimmung, wurde es gar nie richtig hell. Ich krame die Einkäufe von der Rückbank, extra langsam. Natürlich will ich, dass du mich siehst. Als ich wieder zu deinem Fenster blicke, ist dein Kopf verschwunden. 

Ich schließe die Tür zum Treppenhaus auf. Mein Treppenhaus. Deins auch. Unseres – nicht mehr.

Ich schließe die Tür zum Treppenhaus auf. Mein Treppenhaus. Deins auch. Unseres – nicht mehr. Und dann stehe ich dort, wo alles begann, die schwere Einkaufstüte schneidet sich in meine Handfläche, aber den Schmerz nehme ich nicht mehr wahr. Wie angewurzelt stehe ich da, vor einer Flasche Bier. Dieses viel zu süße, süffige glutenfreie Bier, das ich nur trinke, weil – ehrlich gesagt, keine Ahnung warum, es schmeckt scheiße. Aber ich drifte ab.

Wo alles begann

Ich stehe da, vor dieser Flasche Bier auf dem grau melierten Betonboden vor deiner Tür im Erdgeschoss, da, wo alles begann, am 25. November vor fast einem Jahr. Es vergehen – Sekunden, Minuten? Ich weiß es nicht, sondern starre. Dann öffnet sich deine Tür und du siehst mich an und ich dich. „Ist das das scheiß Ernst?“, frage ich ich dich und du lachst und mir rutscht das Herz in die Hose, in die Hemdsärmel, es kriecht die Beine hinab bis in die Socken und erstarrt zu Zement.

Ich will der Nähe zu dir entfliehen, weil ich es nicht ertrage, so nah bei dir zu sein, aber nicht mit dir sein zu können.

Du fliegst morgen weg, sagst du, nach Portugal, für einen Monat. Wenn du wiederkommst, denke ich, bin ich weg, für einen Monat. Ich will der Nähe zu dir entfliehen, weil ich es nicht ertrage, so nah bei dir zu sein, aber nicht mit dir sein zu können. Dass du mir nun zuvorkommst, mit der Flucht, das lässt das Zementherz in meinen Socken bersten und ich verliere den Halt.

Es ist das erste Gespräch, das wir führen, seitdem du beschlossen hast, dass es „das“ nicht ist, mit uns. Dass dir etwas fehlt, obwohl doch alles, sagtest du, perfekt sei. Was fehlt dir, habe ich gefragt, deine Antwort steht noch immer aus. Und ich, ich glaube dir noch immer nicht, dass du nicht verliebt bist in mich. Vielleicht bin ich naiv und vermutlich einfach noch viel zu sehr verschossen in dich, aber ich sehe den Schmerz in deinem Blick, jedes Mal, wenn wir uns begegnen.

Ich sehe einen Blick, der mir sagt, jedes verdammte Mal: „Du fehlst.“

Ich sehe einen Blick, der mir sagt, jedes verdammte Mal: „Du fehlst.“ Und wegen dieser Blicke und vermutlich auch wegen meiner Naivität und der vermaledeiten Verschossenheit in dich, war da bis jetzt, bis zu diesem Moment vor der Flasche Bier auf dem grau-melierten Betonboden vor deiner Tür, in deinem und auch in meinem Treppenhaus, immer noch ein Fünkchen Hoffnung, dass doch noch alles wird, wie es mal war. Aber das wird es nicht. 

Abschied bis zum nächsten Jahr

Wir verabschieden uns. Ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen. Wir lachen, über das Bier, das du mir geben wolltest, bevor es nicht mehr genießbar ist. Das Verfallsdatum sagt: Mai 2022. Mir wird schlecht, und heiß und kalt zugleich. Ich wanke, die Risse im Zement werden zu Kratern. Ich umarme dich, aber du stehst da wie angewurzelt und rührst dich nicht. Ich verliere den Halt, komme mir blöd vor. Ich greife den Türrahmen, gerade noch rechtzeitig, bücke mich und greife nach der Flasche viel zu süßem, glutenfreien Bier. Der grau-melierte Boden flirrt und flimmert. 

Du schließt die Tür, vorsichtig, aber der Boden bebt und die verbleibenden Brösel Zementherz in meinen Socken beginnen zu vibrieren. 

Bis nächstes Jahr, sage ich. Tschüss, sagst du – und siehst mich wieder an, mit diesem Blick, der tausend Worte spricht, ohne die passenden zu finden. Du schließt die Tür, vorsichtig, aber der Boden bebt und die verbleibenden Brösel Zementherz in meinen Socken beginnen zu vibrieren. 

Die Einkaufstüte frisst sich immer tiefer in meine Handfläche. Ich gehe die Stufen in den 3. Stock. Der Schlüssel dreht sich im Schloss. Ich sitze in meinem Wohnzimmer, in dem du nicht mehr mit mir sitzen wirst. Es ist zu heiß, das Rauschen der Heizung verschwimmt mit dem Tinnitus in meinem Ohr. Und wie ich da so sitze, das Bier in der linken, die Einkaufstüte noch immer in der rechten Hand, kann ich das alles noch nicht glauben.

 myhatismissing, mag Buchstaben, in der Zeitung, im Internet – und auch in der Suppe. Privat als auch beruflich. Mehr findet Ihr auf ihrem Instagram Account.

Headerfoto: Pavel Danilyuk via Pexels. (Kategorie-Button hinzugefügt und Bild gecroppt.) Danke dafür! 

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