Kennt ihr diese Situationen im Leben, in denen man auf rationaler Ebene genau weiß, was man tun sollte, aber man schafft es irgendwie in dem Moment trotzdem nicht? Das hier ist die Geschichte von einem Abend in meinem Leben, an dem es immer wieder solche Momente gab, in denen ich mir bewusst war, dass ich eine andere Entscheidung hätte treffen können. In denen ich mich fragte, was wäre, wenn? Wenn ich nur ein kleines bisschen mutiger oder ein kleines bisschen mutloser wäre, was würde jetzt passieren?
Wie es begann
In den ersten drei Sekunden wusste ich sofort:
Er ist viel älter, als er angegeben hatte.
Ich finde ihn keineswegs attraktiv, und:
Ich möchte auf keinen Fall Sex mit dieser Person haben.
Wir hatten auf Hinge gematcht. Er, sein Freund und ich. Ein College-Professor, ein Arzt, eine Studentin.
Wir hatten auf Hinge gematcht. Er, sein Freund und ich. Ein College-Professor, ein Arzt, eine Studentin. Eine Woche zuvor hatte er mich zu einem Swinger-Abend bei ihm zu Hause eingeladen. Kurz hatte ich mir vorgestellt, wie es sich anfühlen würde, diese Wohnung zu betreten, in diese fremden Gesichter zu schauen mit dem Wissen, warum wir alle da waren. Ich lehnte ab. Dann, ein paar Tage später, die Nachricht: Wann treffen wir uns? Erst in einer Bar, dann nach Hause?
Na gut. Die beiden waren erschöpft nach einem langen Arbeitstag, aber wir verabredeten uns. Eine Bar an der Upper East Side, eine Stunde von mir entfernt. Ich erinnere mich, dass ich mir auf dem Weg Uptown noch Gedanken gemacht habe, ob ich jemandem Bescheid sagen soll, dass ich auf ein Date gehe.
Fünf Minuten lang stand ich vor der Bar, die sehr viel kleiner und weniger besucht aussah, als ich es mir vorgestellt hatte.
Egal, dann gehe ich einfach auf Toilette und schreibe einer meiner Freundinnen, dachte ich. Das wird schon. Meine wenigen Online-Dates waren immer ziemlich gut verlaufen. Und die Scham war zu groß, jemandem zu erzählen, was ich vorhatte. Fünf Minuten lang stand ich vor der Bar, die sehr viel kleiner und weniger besucht aussah, als ich es mir vorgestellt hatte.
Ein merkwürdiges Setting
Spaziere ich einfach rein? Aber nein, was ist, wenn ich die beiden nicht erkenne? Ich schrieb, dass ich da bin. Ein paar Minuten später kam ein Mann an die Tür, blitzend weiße Zähne, Ende zwanzig, gutaussehend. Der Arzt.
Wir begrüßten uns und er nahm sofort meine Jacke und hängte sie hinten in der Bar an einen Kleiderständer. Vorne an einem Fenster mit viel Abstand von den anderen wenigen Gästen saß der Professor. Sein Rücken war zu uns gekehrt, bis zur allerletzten Sekunde. In dem Moment, als er sich umdrehte, verstand ich die Situation plötzlich viel besser als davor.
Warum hatten die zwei zusammen nach einem Date gesucht? Die Antwort saß vor mir: Ein Mann, der viel älter war, als er Online angegeben hatte, bestimmt gute zehn Jahre von „Mitte dreißig“ entfernt.
Warum hatten die zwei zusammen nach einem Date gesucht? Die Antwort saß vor mir: Ein Mann, der viel älter war, als er Online angegeben hatte, bestimmt gute zehn Jahre von „Mitte dreißig“ entfernt.
Erst begrüßt sie den Professor. Dann mustert sie die beiden Männer, lächelt etwas verlegen und sagt: „Es tut mir leid, aber ich bin etwas verwundert. Ich möchte lieber gehen.“ Sie dreht sich um, holt ihren Mantel aus der hinteren Ecke der Bar und geht stammen Schrittes nach draußen in die Dezemberkälte, ohne zurückzuschauen, Handy am Ohr, Rufnummer gewählt.
Stattdessen schüttelte ich brav die Hand des Mannes, der so alt war wie mein Vater, und setzte mich zwischen die beiden Männer. Die Strategie des Professors war so transparent wie altbewährt: „Was für eine interessante, kluge und zudem hübsche junge Frau du doch bist! So reif für dein Alter. Ganz anders als die Studentinnen aus meinen Seminaren. So weltoffen. Bist du wirklich erst zwanzig?
Ich lege mal unterbewusst meine Hand auf dein Bein, während ich scheinbar versunken in unser Gespräch bin. Erzähl mir, wo bist du aufgewachsen? Was beschäftigt dich? Wir zwei Akademiker! Wir haben so viel gemeinsam. Das kann man schließlich nicht sagen, ohne dabei deinen Arm dabei zu berühren. Oder deinen Rücken. Und nochmal dein Bein.“
Das muss sie nicht hinnehmen. „Ich möchte nicht, dass du mich berührst“, sagt sie freundlich, aber bestimmt.
Das muss sie nicht hinnehmen. „Ich möchte nicht, dass du mich berührst“, sagt sie freundlich, aber bestimmt.
Aber ich kommentierte diese Berührungen nicht. Lächelnd fragte ich stattdessen, welche Kurse er derzeit gäbe. Der Doktor auf der anderen Seite war derzeit still. Gelangweilt. Sein Gesichtsausdruck leer. Manchmal nickte er, wenn der Herr Professor ihn ins Gespräch einwickelte, sonst sagte er nichts.
Das musste er auch nicht, denn im Gegensatz zu dem Professor brauchte er seinen Komplizen nicht. Für ihn war dies nur Zeitvertreib. Ganz langsam trank ich mein Bier. Mir war klar: Sobald die Flasche leer ist, laden die Beiden mich nach Hause ein. Solange ich noch trinke, wird nichts passieren. Nach einer Weile entschuldigte mich und ging auf Toilette. Mein Herz raste, und gleichzeitig war mir so kalt, dass ich meine Hände nicht stillhalten konnte.
Wie es hätte laufen können
So schaut sie in den Spiegel und muss ein paar Mal blinzeln, um sicherzugehen. Dann tritt sie aus der Toilette, greift mit selbstbewusster Hand nach Mantel samt Handy, ignoriert die überraschten Blicke und Fragen ihrer zwei Dates, und spaziert an den zwei Herren vorbei aus der Bar hinaus in die kalte Dezembernacht.
Ich aber machte die Toilettentür auf und Herr Doktor stand vor mir, den Weg zu meinem Mantel blockierend. Er wollte wissen, ob ich noch einen Drink möchte, während er mich zurück zu unserem Fenstertisch führte. Er war unruhiger geworden, wollte den Abend voranbringen. Beide waren näher zu mir gerückt. Blicke, die fesselten: meine rechte Hand um mein linkes Handgelenk, meine Beine an den Barhocker. Also sorgte ich für mehr Gesprächsstoff. „Wie läuft das normalerweise bei euch ab? Macht ihr sowas öfter?“
Ich nahm den letzten Schluck Bier. Es waren zwei Stunden vergangen und ich wusste, dass es soweit war, der Moment nicht vermeidbar, nichts, dagegen zu machen, keine Zeit mehr zu schinden.
Systematisch legten die beiden ihren Ablauf da. Ich nahm den letzten Schluck Bier. Es waren zwei Stunden vergangen und ich wusste, dass es soweit war, der Moment nicht vermeidbar, nichts, dagegen zu machen, keine Zeit mehr zu schinden. Eine schwere Hand auf meinem Knie, zwei ernste Gesichter, so nah an meinen Lippen, unser Atem eine diffuse Wolke Aporie. Gehen wir jetzt ins Apartment? Vier Augen entblößen mich.
Zu dritt gehen sie zu seinem Apartment, nur ein paar Blocks entfernt. Herr Doktor begleitet sie zuerst ins Bett, während der Professor es sich auf einem Sessel in der Ecke gemütlich macht. Sie kann seinen Blick auf ihrer Haut spüren, als der Arzt sie entkleidet und in Position bringt, während die Hand des Professors sich auf und ab bewegt. Das kalte Lächeln des Arztes über ihr, seine ausdruckslosen Augen. Kurzes Programm, da er ja bald wieder zur Arbeit muss. Sie drückt ihre Lippen zusammen und die Schmerzen weg. Der Arzt ist fertig und steigt aus dem Bett. Der begierige Blick des Professors, als er aufsteht und sich über sie beugt–
Ein kleines Wort mit großer Wirkung
Nein.
Ich hatte bereits zweimal an diesem Abend den Absprung verpasst, aber die Szene, die sich in meinem Kopf abspielte, wollte ich nicht auch noch real erleben. Also ging ich.
Ich kann mich nicht mehr an den Nachhauseweg erinnern. Wenn ich an diese Nacht zurückdenke, habe ich immer noch Angst. Nicht mehr vor dem Erwartungsdruck in dieser Situation oder vor der Reaktion zweier zurückgewiesener, enttäuschter Männer.
Die Angst, die ich kaum erklären kann, ist die Angst vor dem, was fast passiert wäre. Was ich beinahe getan hätte, weil es mir so schwerfällt, „nein“ zu sagen.
Die Angst, die ich kaum erklären kann, ist die Angst vor dem, was fast passiert wäre. Was ich beinahe getan hätte, weil es mir so schwerfällt, „nein“ zu sagen. Weil es so mühevoll für mich ist, die Erwartungen von einer Person zu enttäuschen, geschweige denn, von zweien gleichzeitig.
Weil ich das Gefühl hatte, ich schulde den beiden etwas, allein, weil ich ihre Zeit in Anspruch genommen hatte. Wie absurd das doch ist.
Schlussendlich war es nicht mal das Szenario von Sex mit diesen Männern, den ich nicht möchte, was mir das bisher schwierigste „Nein“ meines Lebens entlockt hat. Es war der Gedanke an das Mädchen, was danach aus diesem Bett steigen würde, sich wieder anziehen und allein die Bahn nach Brooklyn nehmen müsste.
Die Gedanken an das Gefühl auf ihrer Haut, die Erinnerung an diese kalten Augen und begierigen Hände. An die fehlenden Worte, um diese Nacht zu beschreiben, zu erinnern, zu erklären.
Für sie nahm ich den Mut zusammen, den ich nicht habe, erklärte mich, wie müde ich doch sei, log, entschuldigte mich, es täte mir wirklich sehr leid. Schaffte es, unter der Last zweier enttäuschten, gereizten Blicken zu meinem Mantel und Handy zu kommen und die Situation zu verlassen.
zwei Jahre später ist dieses Mädchen so dankbar: Sich selbst, weil sie es irgendwie geschafft hat, für sich einzustehen.
Und zwei Jahre später ist dieses Mädchen so dankbar: Sich selbst, weil sie es irgendwie geschafft hat, für sich einzustehen. Ich habe nicht sofort reagiert, als ich gemerkt habe, wie unwohl ich mich fühle. Und auch danach gab es einige Momente, in denen ich die Situation hätte verlassen können – wie mein Alter Ego es in dieser Geschichte tut – aber ich tat es nicht, bis zum letzten Moment. Für die Zukunft weiß ich: Ich selbst kann ein kleines bisschen mutiger sein, nicht nur in meiner Vorstellung, sondern auch in der Realität.
Headerfoto: Anete Lusina (Kategorie-Button hinzugefügt und Bild gecroppt.) Danke dafür!