Denke ich an meinen Abiball zurück, so erinnere ich mich an Gänsehaut-Momente, große Abschiede, den stolzen Blick meiner Familie und ohrenbetäubendes Robbie-Williams-Gegröle von Eltern sowie Lehrer*innen. Doch ich erinnere mich ebenso an eine ganz bestimmte Rede im Verlauf dieses Abends. Es ist die Rede meines Schulleiters, der erst seit dem letzten Jahr an unserer Schule ist.
Wie an vielen Schulen ist es auch bei uns Tradition, dass die Schulleitung bei der Verabschiedung der frisch gebackenen Abiturient*innen eine flammende Rede zum Thema Engagement und Weltverbessern hält – bis jetzt. Mein Schulleiter jedoch entscheidet sich an diesem Abend dazu, uns eine Lehre zu erteilen.
Vielleicht liegt es daran, dass meine Stufe nur allzu gerne mit ihm diskutierte, vielleicht hat er einfach einen schlechten Tag, doch die Kernbotschaft seiner Rede lautet: Unsere Gesellschaft empört sich zu viel! Hört auf, euch zu empören und beginnt, die Dinge zu akzeptieren.
Mein Schulleiter jedoch entscheidet sich an diesem Abend dazu, uns eine Lehre zu erteilen, die Kernbotschaft seiner Rede lautet: Hört auf, euch zu empören und beginnt, die Dinge zu akzeptieren.
Meine Reaktion auf diese Rede war – wie hätte es anders sein können – Empörung. Ich hatte an diesem Abend weder den Mut noch die Lust dazu, mich offen mit seinem Statement auseinander zu setzen. Vielleicht wurde ich mir der tiefgreifenden Empörung, die aus der Rede meines Schulleiters entstand, auch erst in den Wochen und Monaten nach dem Abiball bewusst.
Deswegen möchte ich nun – ein Jahr und viele Gespräche und Gedanken später – die Gelegenheit nutzen, mich dazu zu äußern. Denn sind wir einmal ehrlich: Ist Empörung wirklich so empörenswert? Oder ist sie nicht viel eher eines der wichtigsten Phänomene einer funktionierenden Gesellschaft?
Um dieser Frage nachzugehen, sollten wir uns zuerst einmal darüber im Klaren werden, was das überhaupt ist, Empörung. Der Duden sagt: „Empörung, die. Von starken Emotionen begleitete Entrüstung als Reaktion auf Verstöße gegen moralische Konventionen“.
Empörung bedeutet also, dass ich realisiere, wenn etwas aus meiner Sicht, also unter Einbezug meiner moralischen Vorstellungen, falsch läuft. Doch nicht nur das: Es bedeutet darüber hinaus, dass ich diese Erkenntnis nicht für mich behalte, sondern – in welcher Form auch immer – zum Ausdruck bringe.
Man sollte hier allerdings zwischen der persönlichen, zwischenmenschlichen Empörung wie ich sie empfinde, wenn mein Mitbewohner mal wieder tagelang den Abwasch vernachlässigt, und der gesellschaftlichen, politischen Empörung unterscheiden.
So führt die zunehmend aggressive Empörung in sozialen Medien häufig zu verletzenden Diskussionen. Doch liegt dieses Verhalten nicht viel eher in der Anonymität des Internets?
Natürlich kann sowohl das eine als auch das andere in eine nicht unbedingt zielführende Richtung gehen. So führt die zunehmend aggressive Empörung in sozialen Medien häufig zu rücksichtslosen und verletzenden Diskussionen, bei denen jegliche Regeln einer gesitteten und lösungsorientierten Debatte missachtet werden. Doch liegt dieses Verhalten wirklich in der Empörung begründet oder nicht viel eher in der Anonymität des Internets?
Einige werden nun vielleicht sagen, dass Empörung auch weitaus drastischere Ausmaße annehmen kann: Der Attentäter von Christchurch beispielsweise, der im März dieses Jahrs über 50 Menschen grausam hinrichtete, tat dies aus Hass auf eine andere Religion.
Aber ist Hass überhaupt eine Extremform der Empörung? Ich glaube nicht. Empörung erfordert eine differenzierte Auseinandersetzung mit moralischen Werten, Hass nicht. Empörung ist sehend. Sehend für gesellschaftliche oder persönliche Problematiken und Missstände. Hass ist blind. Blind für Mitgefühl, Lösungsansätze und Verständnis.
Empörung ist so alt wie der Mensch selbst und so finden sich zahlreiche historische Beispiele für ihre Auswirkungen. Martin Luther King zum Beispiel empörte sich über die Situation der black community in den Vereinten Staaten im 20. Jahrhundert und hatte damit großen Erfolg. Friedrich Engels und Karl Marx empörten sich über die damalige, in ihren Augen inakzeptable Verteilung des Kapitals und erschufen damit eine ganze neue Gesellschaftsform. Oskar Schindler empörte sich über die Massenermordung von Juden im Zweiten Weltkrieg und rettete daraufhin etwa 1200 Menschen das Leben.
Empörung ist der Grundstein der Veränderung. Ohne Empörung, kein Wandel. Ohne Wandel, keine Verbesserung.
Doch auch heute noch können wir sie im gesellschaftlichen Raum finden, die Empörung. Greta Thunberg, das Mädchen mit den zwei Zöpfen. Was ist der Grund für ihr global einflussreiches Engagement, das nicht zuletzt entscheidend zum Ausgang der Europawahlen beitrug? Empörung. Warum schlug dieses Engagement weltweit derartig ein? Warum ließen sich so viele Menschen – inzwischen jeden Alters – von ihr anstecken? Empörung.
Empörung ist der Grundstein der Veränderung. Ohne Empörung, kein Wandel. Ohne Wandel, keine Verbesserung. Oder wie die deutsche Lyrikerin Else Pannek es ausdrückte: „Befreiung beginnt mit Empörung“.
Es ist also keineswegs die Lösung, aufzuhören, sich zu empören und zu beginnen, Dinge, wie sie sind, zu akzeptieren, gerade in diesen Zeiten nicht. Denke ich nun an den Abend meines Abiballs zurück, bereue ich, dass ich nicht aufgesprungen und auf die Bühne gerannt bin, um meinem Schulleiter das Mikrofon aus der Hand zu reißen und diese zwei, wie uns Geschichte und Gegenwart lehren, so unglaublich wichtigen Worte in die Welt hinaus zu rufen: „Empört euch!“
Headerfoto: Stockfoto von Jacob Lund/Shutterstock. („Gesellschaftsspiel“-Button hinzugefügt.) Danke dafür!