Der Schneidezahn meiner Schwester

Würde man mich fragen, wie meine erste Erinnerung an Weihnachten aussieht, so gäbe es nur eine wohlig-warme Antwort: Traumatisch.

Weihnachten 1993. Wir liegen Mutter den gesamten Tag in den Ohren, bis sie nachgibt und wir so schon vor dem Abendessen unsere Geschenke auspacken dürfen. Wir bekommen das Gleiche in verschiedenen Größen. Schuhe. Sie sind schwarz mit bunten Schnürsenkeln, die silberne Fäden drin haben und deswegen hypnotisierend glitzern. Sie haben eine weiße Kappe und einen Kreis mit einem Stern in der Mitte. Weil ich noch nicht lesen kann, muss ich meine Schwester fragen, die schon in der ersten Klasse und schlau ist, was darauf steht und so liest sie vor: „Konferse, all schtar, schuck teilor.“ Ich weiß nicht, was das heißen soll, aber ich weiß, es ist die Sprache aus den amerikanischen Filmen, mit den Menschen der schönen geraden Zähne. Mutter sagt, die sind für Zuhause oder für den Sommer. Ich bin fünf, es ist Dezember und der Sommer scheint so weit weg wie der Mond. Zum Abendessen gibt es Bockwurst mit Kartoffelsalat, von dem ich weiß, dass er aus Kartoffeln und Fleischsalat besteht. Viel Fleischsalat. Und Bockwurst aus Wurst.

Nach dem Essen dürfen wir rüber zu Mutters Freundin und dort laufen wir, genauso wie die Frauen mit den langen Beinen und den oft lächerlichen Kleidern, im Wohnzimmer auf und ab. Ich bewundere meine Schwester, denn so gut wie sie das macht, bin ich mir sicher, dass sie irgendwann auf diesen „Kett-Works“ entlangläuft und dann kann ich sagen: „Das ist meine Schwester, das ist sie!“
Mutter und ihre Freundin rauchen Filterzigaretten und lachen und husten. „Schau sie dir nur an, die Zwei“, sagt Mutters Freundin, „das schönste Geschwisterpaar, das die Welt gesehen hat.“ Meine Schwester und ich setzen uns Motorradhelme auf, die wir im Flur finden, und das bringt die beiden aus den Mündern qualmenden Frauen so aus der Fassung, dass sie sich beieinander festhalten und ihre Kehlen nur so rasseln.

Der Heimweg, das Treppenhaus runter, über die Straße, rüber ins Haus, wird zum Wettrennen und während ich noch den letzten Absatz hinunterhetze, ist meine Schwester schon durch die schwere Schwingtür und zur Straße raus. Drei Stufen später quietschen Reifen und dann ist da ein Schrei, der mir bis in die Knochen fährt. Ich weiß nicht, was passiert ist, aber ich weiß, dass ich Angst habe.
Draußen steht meine Schwester an unserer Hauswand mit einem Gesicht, das so rot und voll mit Blut ist, dass man das Weiße ihrer Augen in dieser Nacht noch besser sieht. Dieser Mann, den ich nicht kenne, steht vor ihr und plärrt und flucht und fuchtelt mit den Händen. Ich stelle mich vor ihn, und schreie, weil ich zu klein bin, diesem Mann die Stirn zu bieten, aber weiß, es wird jemand kommen und uns retten, wenn ich nur laut genug bin.

Ich warte eine unerträgliche Unendlichkeit darauf, dass Mutter mir meine Schwester zurückbringt, mit der sie ins Krankenhaus gefahren war, wegen dem Blut und dem was, wie Mutter sagt, man nicht sehen kann. Als es soweit ist, geht es ohne Zähneputzen und jedes weitere Wort ins Bett, das wirklich nur eins ist, weil wir, seit ich denken kann, gemeinsam in einem großen Ehebett schlafen.

„Na, frag schon, ob’s weh tut“, sagt sie nach einer Weile, in der ich immer wieder laut ein- und ausgeatmet habe, um ihr zu zeigen, dass ich nicht schlafe. Und ich bin froh, dass meine Schwester immer in meinen Kopf schauen und wissen kann, was ich denke. Sie nimmt meinen Daumen und den Zeigefinger und führt die zwei in der Dunkelheit unseres Zimmers zu ihrem Mund. Ich berühre ihren Schneidezahn und sie fragt: „Hürs hu has, hie her hackel?“ – so wie ein Mensch spricht, wenn die Hand des Bruders den gerade angefahrenen Zahn hin und her bewegt. Ein Gefühl wie Blitz zieht mir durch den Rücken, als ich den lockeren Hauer im Fleisch bewege, und obwohl mir schlecht davon wird, lache ich laut auf, wegen der Art, wie meine Schwester spricht, mit meinen Fingern in ihrem Mund, dass sie mir eine Hand auf die Lippen legt, damit Mutter nichts hört, denn sonst gäbe es sicher noch viel mehr Ärger.

Die Schuhe meiner Schwester hatten den Unfall nicht ganz blutlos überlebt und Mutters Bemühungen, sie wieder rein zu bekommen, scheiterten grandios in einigen cholerischen Wutanfällen während der Feiertage, weswegen es mir noch größere Freude bereitete, jede Gelegenheit dazu zu nutzen, mit meinen sauberen Tretern vor meiner Schwester herzuflanieren, was sie mit ihrer schon damals unglaublich analytischen Art lapidar kommentiere: „Na und? Ich hab das Rennen gewonnen!“

Headerfoto: Sad girl via Shutterstock.com. (Gedankenspiel-Button hinzugefügt, Bild gespiegelt.) Danke dafür!

MARKOURT ist 27 Jahre alt und weiß, dass das beste Album der Nullerjahre “Give up” von Postal Service ist. Er und Alkohol sind das Rezept für wochenlangen Gesprächsstoff und Witze auf seine Kosten. Für ihn gilt: Lieber brechend volle Tram als Individualverkehr, lieber telefonieren als Kurznachricht und für immer Francis „Frank“ McCourt. Jedes verdammte Katzenvideo findet er besser als pseudopolitische Diskussion in WG-Küchen und sozialen Netzwerken. Immer wenn es Winter wird, wünscht er sich, dass da eine Person an seiner Tür klingelt, der von Kälte und Wind die Nase läuft. Und dass diese kalte Nase sein Gesicht berührt, wenn er sie küsst.

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