Auf dem Weg zur Arbeit fühlt ich unsere Autorin von der inneren Schwere fast erdrückt. Ist das ein Rückfall in eine Depression oder sollte sie stolz sein, dass sie es überhaupt aus dem Bett geschafft hat?
TW: Depression
Mein schwerer Umhang
Der Wecker klingelt. Dank der vollen Blase fällt mir das Aufstehen nicht all zu schwer. Ich hieve mich aus dem Bett und mit mir eine Schwere. Eine Schwere, welche sich an mich hängt. Sie hängt an mir, wie ein schweres Tuch, wie ein Umhang, den ich nicht ablegen kann. Ich gehe ins Bad und richte mich für die Arbeit. Jeden Schritt mache ich unter meinem schweren Umhang.
Ich verlasse die Wohnung. Den Umhang würde ich gerne zurücklassen. Bloß für ein paar Stunden. Bloß, bis ich von der Arbeit zurück bin. Doch ich trage ihn weiterhin. Er nimmt so viel Platz ein. So als ob es sich nicht um meinen Umhang handeln würde, sondern als ob ich lediglich umgehängt wäre. So viel Platz für die Schwere und so wenig Platz für mich.
So viel Platz für die Schwere und so wenig Platz für mich.
Auf dem Weg zur Arbeit frag ich mich, wie normal diese Empfindung ist. Fühlt sich das Aufstehen und zur Arbeit gehen so schwer an, weil es früher Morgen, dunkel und kalt ist? Ist es eine angemessene Empfindung für diese Umstände? Oder ist es eine depressive Phase? Vielleicht ist es auch ein Trigger, weil mich die Schwierigkeit aufzustehen an die vielen Tage erinnert, an welchen ich nicht aufstehen konnte.
Gedankenversunken befinde ich mich auf meinem Arbeitsweg und stehe plötzlich am Hauptbahnhof inmitten der Menschenmenge. Ich stehe hier und frage mich, ob ich stolz auf mich sein soll. Stolz, dass ich es trotz des schweren Umhangs aus dem Bett und aus der Wohnung geschafft habe. Stolz, dass ich hier stehe und auf dem Weg zur Arbeit bin.
Ich frage mich, ob der Weg hier zum Hauptbahnhof auf meinem Genesungs- und Entwicklungsprozess ein Schritt nach vorne oder einer zurück ist. Stehe ich hier, weil ich gesünder und gestärkt bin und es mir nun gelingt, mit dem schweren Umhang aufzustehen? Oder stehe ich hier, weil ich in die alten Muster zurückfalle und wieder eher funktioniere, statt auf mich zu achten?
Funktionen schaffen Klarheit
Mein Kopf bleibt beim Wort «funktionieren» hängen. Ich mag Funktionen. Sie schaffen Klarheit. Sie sind beständig. Sie definieren eine Beziehung zwischen zwei Variablen. Sie verbinden das Veränderbare. Der unabhängigen Variable wird eine abhängige Variable zugeordnet. Darauf ist dann Verlass. Es ist einfach.
Funktionieren ist einfach. Ich nehme meinen zugeordneten Platz an und erfülle die entsprechenden Erwartungen. Ich muss es nicht hinterfragen.
Funktionieren ist einfach. Ich nehme meinen zugeordneten Platz an und erfülle die entsprechenden Erwartungen. Ich muss es nicht hinterfragen. Es ist eine Funktion. Eine Funktion im System. Ein kleiner Teil inmitten eines größeren Systems, dessen Wert und Platz definiert wird und besteht. Keine Sinnfrage und keine Existenzkrise. Die Variablen werden nicht danach gefragt, ob ihnen die Zuordnung passt. Sie können und müssen keine Verantwortung dafür übernehmen. Es wird nicht diskutiert und so hat es in einer Funktion immer diese eine abhängige Variable.
Diese abhängige Variable, welche gemäß der Zuordnung funktioniert und nicht aus ihrer Abhängigkeit ausbrechen kann. Auch die unabhängige Variable kann nicht mitentscheiden, welche Variable ihr für die Funktion zugeordnet wird. So werden die beiden einander zugeordnet und funktionieren dann.
Ich fühle mich verloren und erdrückt. Verloren in diesem riesigen System, in welchem ich gerade meinen Platz am Finden bin.
Ich stehe immer noch am Hauptbahnhof inmitten der vielen Menschen, inmitten des Stoßverkehr-Systems. Ich bin die kleine Variable inmitten dieses Systems, die hier steht und sich irgendwie verloren fühlt. Ich fühle mich verloren und erdrückt. Verloren in diesem riesigen System, in welchem ich gerade meinen Platz am Finden bin. Erdrückt von meinem schweren Umhang, welcher mir wohl als Variable zugeordnet wurde. Mein Umhang und ich – eine Funktion. Variablen sind veränderbar und ich hoffe, dass sich mein schwerer Umhang irgendwann bloß noch wie ein leichtes Tuch anfühlt.
Headerfoto: Jonathan Borba (Kategorie-Button hinzugefügt.) Danke dafür!