„Ich bin froh, dich als meine/e Freund/in bezeichnen zu dürfen!“ oder „du bist ein/e wahrhaft gute/r Freund/in für mich, danke, dass du Teil meines Lebens bist“ – mit solchen Floskeln werfen wir meist um uns. Wieso eigentlich? Was steckt eigentlich konkret hinter diesen Sätzen und sind wir uns der Bedeutung unserer ausgesprochenen Worte überhaupt bewusst? Ich meine, sind wir uns wirklich dessen bewusst, was sie bei unserem Gegenüber auslösen oder was sie damit assoziieren?
Sozialpsychologisch betrachtet ist eine Freundschaft eine Beziehung. Eine Beziehung kann wachsen und gedeihen, wenn wir ein ausgeglichenes Maß an Geben und Nehmen erfüllen. Ich gebe dir Kraft und erhalte im Gegenzug von dir Treue, Zuneigung und ebenso Kraft, Energie. Wir sind füreinander da – wie du mir, so ich dir. Ich brauche Mut, du gibst mir einen Ratschlag. Du trauerst, ich spende dir Trost. Du sendest mir ein Signal, dass Aufgeben keine Option sei und ich wandle dein Zwinkern in Energie um, um aus meinem Loch zu gelangen.
Ich nehme deine Hand und signalisiere dir, dass ich da bin, egal wann, egal wo, allzeit bereit, um die Herausforderungen der Welt mit dir gemeinsam zu meistern. Und dann gibt es da noch die Zeit, den Stress, die Verpflichtungen, ein Abenteuer hier, eine soziale Verpflichtung dort, einen Zeitpunkt der Erschöpfung, einen Gipfel des Tatendrangs, gefolgt von einer Phase der Besinnung. Das Leben ist so vielseitig und ebenso unsere gemeinsame Zeit.
Eine Freundschaft bedeutet für mich nicht nur, das mir offene Ohr in Anspruch zu nehmen.
Eine Freundschaft bedeutet für mich nicht nur, das mir offenbarte offene Ohr in Anspruch zu nehmen, sondern gleichzeitig ebenso meine Hand zu reichen – gerade dann, wenn du sie brauchst, lasse ich alles stehen und liegen, um für dich da zu sein, denn in genau diesem Moment wärst du es auch für mich.
Viele verstehen die Freundschaft widerum als eine Einbahnstraße, einen Kanal, ein Ventil, in dem du deine Emotionen unselektiert herauslassen lassen kannst, wann immer es dir passt, wann immer genau du es möchtest, denn du hast ja von mir den Freifahrtschein mit der Besiegelung unserer Freundschaft erhalten, als ich dir mein Wort gab.
Stehst du mir auch dann zur Seite, wenn ich nicht mehr weiterweiß?
Was ist aber, wenn ich mit einer Gegebenheit nicht umgehen kann, weil sie für mich unbegreifbar ist und die Emotionen nicht zu bändigen sind? Was ist, wenn ich durch einen Schicksalsschlag in die Ebene eines anderen Ichs verfalle und du mich nicht wiedererkennst? Was ist, wenn ich zerfressen von Wut und bestimmt durch Argwohn, Hass und wieder Traurigkeit oder Verzweiflung bin und nicht mehr zu mir selbst finde? Bist du dann mein Wegweiser an einer einsamen Kreuzung zwischen Gut und Böse? Stehst du mir auch dann zur Seite, wenn ich nicht mehr weiterweiß, wenn sich meine Gedanken in einer riesigen Blase sammeln und zu platzen drohen?
Das sind alles Fragen, die ich mir ab und an stelle, wenn auch ich am Ende meiner Möglichkeiten als Rolle einer guten Freundin stehe. Wenn du an mir saugst wie ein Blutegel, meine Seele befüllst mit Emotionen, Problemen, Selbstzweifeln, wenn meine Ratschläge an einer Mauer aus Trotz, Sturheit und wieder Selbstzweifeln abprallen? Ehrlich, jeder von uns kennt diese/n Freund/in, der/die auf Hilfe mehr als angewiesen ist, für den/die das emotionale Ventil zur Nährquelle ihres/seines Lebens wird, deine Ratschläge jedoch über das Stadium des Keims nicht herauswachsen.
Es entsteht ein ganz neues Bühnenbild, in dem du auf einmal die Hauptrolle des schicksalhaften Romeos spielst.
Und dann bist du auf einmal auf ihre/seine Hilfe und Zuneigung angewiesen, weil du ausnahmsweise einmal die Rolle der/des Starken ablegen musst, weil dein Herz nicht mehr Leid ertragen kann und du dich nach etwas Halt sehnst. Dann entsteht ein ganz neues Bühnenbild, in dem du auf einmal die Hauptrolle des schicksalhaften Romeos spielst und aufgefangen werden möchtest. Genau dann bist du nicht da. Genau dann bist du mit meinem Überschwall überfordert und fremd in deiner Rolle des Starken.
Dann treffen zwei Disharmonien aufeinander. Dann trifft Wind auf Welle und ein Sturm entsteht, obwohl du eigentlich nur ein harmonisches Grau am Himmel erzeugen wolltest. Wie steht es dann um unsere Freundschaft? Auf welche Art und Weise können dann die dynamischen Spannungen entzerrt werden?
Eigentlich ist es doch ganz einfach: Indem wir das Szenario aus der Perspektive unseres Gegenübers sehen, können die anfänglichen Spannungen unterbunden werden. Durch eine enge Verbindung zu sich selbst merkt man schnell, wenn es an der Zeit ist, dass der Fokus sich von sich selbst hin zur Freund*in verschiebt, weil grade der/die Freund*in der wichtigste Mensch ist.
Stell deine Bedürfnisse ausnahmsweise mal an zweite Stelle.
Hör zu, sei da, spende Zuneigung und Aufmerksamkeit und wende dich ab von all deinem alltäglichen Stress, deinen Verpflichtungen, die dein Leben jeden Tag neben der Arbeit, deiner Passion, deiner Familie und Freunden füllen. Scheiß auf dein Müdigkeitslevel, deinen Argwohn gegenüber Kleinigkeiten, deinen Problemen, die beim Überdenken nichtig wirken und stell deine Bedürfnisse ausnahmsweise mal an zweite Stelle.
Dann sticht Empathie die Egozentrik aus. Es ist wichtig, dir dieses Gegenspiel vor Augen zu halten, dir dessen bewusst zu werden, dass eine Freundschaft keine Einbahnstraße ist. Vielmehr ist es ein Schwimmen im horizontlosen Gewässer voller Aufs und Abs – gerade so wie die Strömung fließt, benötigst oder spendest du eine helfende Hand, um nicht in einer Welt voller Möglichkeiten und Reizen unterzugehen.
Empathie sticht Egozentrik aus.
Wenn ihr dann gemeinsam an einem Ufer angekommen seid und wieder eine abenteuerliche Etappe überstanden habt, dann sei dir gewiss, dass dieser besondere Mensch dir bei noch so größeren Herausforderungen zur Seite stehen wird, so wie du ihm auch.
Headerfoto: Andressa Voltolini via Unsplash. („Wahrheit oder Licht“-Button hinzugefügt, Bild gecroppt.) Danke dafür!