Ich liege im Bett und mein rechter Fuß wackelt. Bestimmt einhundertvierzig Mal in der Minute, vielleicht sogar häufiger. Genauso viele Gedankenblitze gehen mir manchmal durch den Kopf. Dabei blicke ich durch den Raum, auf mein Handy, in das schlafende Gesicht meines Kindes, wieder auf mein Handy und ganz viel in mich hinein.
Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft, immer abwechselnd. Wie war das noch gestern, was mache ich jetzt und was bringt wohl morgen? Ich denke und denke und denke und kleinste Geräusche, Einflüsse von außen machen jeden Gedanken zu einem Fluss, der alles mitreißt.
Ich denke und denke und denke und kleinste Geräusche, Einflüsse von außen machen jeden Gedanken zu einem Fluss, der alles mitreißt.
Nun könnte man meinen, dieser Gedankenstrom würde mich in den Wahnsinn treiben und nicht selten ist genau das auch schon irgendwie passiert, aber mich macht genau das rgendwie ja auch aus: meine Schnelligkeit, meine Kreativität, meine Impulsivität und der Wunsch nach Austausch und Weiterentwicklung.
Diagnose im Erwachsenenalter
Meine Freundinnen staunten also neulich nicht schlecht, als ich ihnen eröffnete, an einer Form von Erwachsenen-ADHS zu leiden. Wobei ich das Wort „Leid“ gar nicht mag. Ich würde sagen, diese nette kleine Schrulle macht mich unter denen, die mich lieben und schätzen, sehr gefragt. Ich antworte auf jede Nachricht nicht nur zuverlässig, sondern auch besonders schnell. Ich habe binnen weniger Sekunden eine Idee für ein Projekt oder eine Meinung zu einem Thema.
Manchmal schieße ich natürlich auch über das Ziel hinaus oder laufe Gefahr, Missverständnisse hervorzurufen und muss mich dann herauswinden oder entschuldigen.
Seit ich aber weiß, was meine Superpower ist und weshalb ich so gerne drei bis fünf Stunden am Tag spazieren gehe, fühle ich mich mit mir deutlich häufiger im Reinen. Eine Zeit lang kam ich mir nämlich vor wie ein Alien. Jede Kartoffel backte im Topf an, während ich ganz Supermutti die Wäsche aufhing, meinen Kindern bei den Hausaufgaben half und die Spülmaschine ausräumte. Dabei eine Gesichtsmaske aufgelegt die neusten Spotify-Podcasts hörend.
Eine Zeit lang kam ich mir vor wie ein Alien.
Das Leben ist zu kurz für lange Leitungen, scheint mein Gehirn sich nicht selten zu denken. Das darunter meine Kinder und ihre Mägen leiden mussten, sind wir hier schon gewöhnt. Ich lade uns dann manchmal verschämt grinsend zum Essen ein und entschuldige mich für meine Schusseligkeit.
Freunde, die mit mir mithalten wollen, sollten sich dann auch schonmal auf einen langen Marsch durch die Parks dieser Gegend einstellen. Links ist dieses Museum und rechts gibt es das beste Kaltgetränk … ah, schau mal, ein Eichhörnchen!
Mit mir ist das Leben sehr aufregend. Andere würden vielleicht ergänzen um das Wort ‚anstrengend‘.
Ja, mit mir ist es nicht immer einfach. Meine Partnerschaften gerieten vermutlich auch deshalb ins Schleudern, weil ich unsere Wochenenden von morgens bis abends mit Aktivitäten angefüllt hatte und ein Cafébesuch, eine Architektur-Audioguide-Führung und ein Abend in der Bar nicht genug waren. Stattdessen wurde über das Leben philosophiert, die Arbeit geätzt und im Vorbeigehen Fotos im Automaten geschossen. Mit mir ist das Leben sehr aufregend. Andere würden vielleicht ergänzen um das Wort „anstrengend“.
Das Gefühl, keine Bremse zu finden
ADHS ist aber tatsächlich mehr als eine Störung, die Kindern als Diagnose hinterhergeworfen wird. Es ist eine Impulsivität, die um den Verstand treiben kann, eine innere Unruhe und der Mangel an Konzentrationsfähigkeit, spätestens immer dann, wenn das Thema nicht interessiert. Es ist das lebenslange Gefühl, keine Bremse zu finden für den laufenden Motor und manchmal auch verantwortlich für Depressionen, Ängste und Verluste.
ADHS ist das lebenslange Gefühl, keine Bremse zu finden für den laufenden Motor und manchmal auch verantwortlich für Depressionen, Ängste und Verluste.
Menschen, die gehen, Menschen, die nicht mithalten und Menschen, die sich oft auch zurecht ärgern. Ich habe mich oft über mich geärgert und hielt mich lange für unsicher, unausgeglichen und ein bisschen verrückt. Mein Kopf als Bienenstock und meine Emotionen ablesbar und doch schwer zu ergründen.
Zwischen Wutausbrüchen in meiner Jugend und Erschöpfungszuständen, die auf Episoden großer Anstrengung und Verausgabung folgten. Wir sind nicht nur Zappelphilipp oder brauchen eben ein bisschen Sport, um unsere Mitte zu finden.
Wir sind mitunter hochsensibel und haben ein feines Gespür für jede Empfindung und Stimmung im Raum. Unsere Empathie ist mitunter schmerzhaft grenzenlos und unser Wunsch um Anerkennung und Annahme isoliert uns.
Wir sind mitunter hochsensibel und haben ein feines Gespür für jede Empfindung und Stimmung im Raum. Unsere Empathie ist mitunter schmerzhaft grenzenlos und unser Wunsch um Anerkennung und Annahme isoliert uns immer dann, wenn wir euch tollpatschig zu stark erdrücken und jedes Gegenüber somit verschrecken.
Ich habe erst kürzlich von meiner Diagnose erfahren und verstand plötzlich alles so viel besser. Ich lerne jetzt mit mir und dieser Diagnose umzugehen. Sie anzunehmen. Ich lerne nun aber auch, besser auf mich und andere aufzupassen und mich nicht mehr so vom Fluss mitreißen zu lassen.
Anm. d. Red.: ADHS wir häufig nur bei „hibbeligen“ Kindern vermutet, dabei kann dieses Syndrom sehr viele verschiedene Facetten haben und ist überhaupt nicht auf eine bestimmte Altersgruppe begrenzt. Wenn du das Gefühl „Chaos im Kopf“, oder andere in diesem Text beschriebene Eigenschaften gut kennst und dir Unterstützung wünschst informiere dich gerne hier.
Headerfoto: Alycia Fung via Pexels. (Kategorie-Button hinzugefügt und Bild gecroppt.) Danke dafür!