Heute früh stehe ich auf und weiß, ich will gut sein. Ich muss gut sein, muss perfekt sein. Der erste Blick in den Spiegel zeigt einen Pickel, groß und rot, mitten im Gesicht. Ein Stich. Ein Stückchen weniger makellos. Meine Waffe: Make-Up. Sie hilft, den für dich kleinen Fleck, der für mich so viel Angriffsfläche bietet, zu überdecken. Meine Waffe überdeckt mein Stück Menschlichkeit, dass mich verwundbar macht. Doch wie lange wird sie halten?
Mein Tag geht weiter. Ein Anruf von meiner Mutter. Sie erzählt von dir. Wie es in deinem Leben gerade aussieht, denn ich habe seit einem Jahr nichts mehr davon mitbekommen. Ich will es nicht hören, denn ich weiß genau, ich werde mich mit dir messen wollen. Mein Ziel: besser sein als du. Innerlich fange ich schon an, Vergleiche zu ziehen. Mein Leben gegen dein Leben. Wer gewinnt?
Wer verbringt mehr Zeit mit unseren noch verbliebenen Freunden? Wessen Studium läuft besser?
Ich will, dass sie aufhört zu reden, denn ich weiß, ich werde mich nicht gut fühlen danach. Mein Ego pumpt. Wer verbringt mehr Zeit mit unseren noch verbliebenen Freunden? Wessen Studium läuft besser? Meine Angriffsfläche wird immer größer. Meine Waffe: Gleichgültigkeit. Giftige Kommentare über die Erzählungen von dir. Ich will nicht, dass sie merken, was mich eigentlich beschäftigt. Habe ich die richtigen Entscheidungen getroffen? Meine Waffe hält nur nach außen. In mir drinnen, da herrscht Chaos, dass so schnell nicht verschwinden wird.
Beim Mittagessen sitzen wir auf der Wiese. Ich schaue mich um, wie ihr dasitzt. Und ich merke, dass mein Bauch eine Speckrolle mehr wirft. Das Wort „fett“ schießt mir durch den Kopf. Ich weiß genau, heute Abend werde ich schneller sein auf dem Laufband, mehr Gewichte heben, länger meinen Körper knechten. Doch jetzt in dem Moment, da fühle ich mich hässlich.
Meine Waffe: ich lache mit euch mit.
Der Drang aufzustehen und zu fliehen wird immer penetranter. Meine Waffe: ich lache mit euch mit. Ich versuche die zu sein, deren Lachen am lautesten ist. Deren Leben am besten scheint. Die, die mit sich selbst im Reinen ist. In mir drin, da kreisen die Gedanken, aber keiner von euch merkt es.
Am Abend schreibt mir ein Freund. Macht dumme Witze bei denen er mich auf die Schippe nimmt. Er lacht. Ich weine. Er führt mir vor Augen, was ich den ganzen Tag über wusste: Ich bin nicht perfekt. Meine Gedanken wirbeln schneller und immer aggressiver. Ich bin ganz allein mit ihnen in meinem Kopf. Ich frage mich, wieso ich dieses Gefühl habe. Mich diesem ständigen Druck aussetze. Ich will den Aus-Knopf für das ständige Wettbewerbsgefühl finden. Wieso kann es mir nicht egal sein, was die anderen von mir denken?
Es sind die Gedanken, die ich jetzt runter schreibe, da ich nachts in meinem Bett liege und nicht schlafen kann. Weil ich zu viel nachdenke: über die Fehler, die ich gemacht habe, die Freunde, von denen ich nicht weiß, was ich ihnen bedeute, mein Leben, das am Ende vielleicht doch nicht perfekt ist. Ich weiß, was die Waffe für dieses Problem ist: Selbstliebe. Doch habe ich sie noch nicht gefunden. Jeden Tag suche ich nach ihr. Wie finde ich sie? Oder muss ich sie vielleicht erlernen?
Der Weg dahin scheint mir noch unendlich lange vorzukommen. Bis dahin fange ich jeden Tag von vorne an. Ich versuche es. Versuche den Druck auszublenden, die Menschlichkeit zuzulassen, die Perfektion abzuschreiben. Vielleicht läuft sie mir dabei über den Weg, die Selbstliebe, vielleicht ist es aber gerade auch dieser Prozess, der sie mich erlernen lässt. Denn Perfektion liegt am Ende immer im Auge des Betrachters. Und das wichtigste Auge ist doch bloß das eigene.
Headerfoto: Kiyun Lee via Unsplash. („Gesellschaftsspiel“-Button hinzugefügt.) Danke dafür!