Es ist ein grauer Montagmorgen in Berlin, als ich mit Anke Stelling (*1971) verabredet bin. Ich sehe aus dem Fenster und habe gar keine Zeit, mir Unsinnigkeiten für einen Gesprächsanfang auszudenken. Es klingelt. Pünktlich, auf die Minute genau, ein viel besserer Einstieg für ein erstes Telefonat.
Das würde nichts bedeuten, sie sei sowieso schon lange wach und ich spüre, dass etwas Tröstliches in ihrer Stimme liegt. Bemerkenswert, wenn man die latente Bitterkeit in ihrem Schreiben beachtet. Doch das sage ich ihr nicht. Mir geht es um ein wichtigeres Thema. Wenn man mit jemandem darüber diskutieren kann, ob man selbst oder das eigene Umfeld seltsam geworden ist, dann mit ihr.
Anke Stelling ist Autorin von Bestsellerromanen wie Bodentiefe Fenster oder Schäfchen im Trockenen. Besonders sind hier vor allem die Figuren, die nie von globalem, dafür aber von höchst privatem Leid betroffen sind. Ich bin mir sicher, so kann doch nur jemand schreiben, der über besondere Menschenkenntnisse verfügt …
Ich beobachte in meinem Umfeld momentan zwei Streben. Erstens: das Streben nach Struktur. Sehr nachvollziehbar, wenn auch hin und wieder als „spießig“ belächelt. Aber wer stolz von Struktur spricht, wird bewundert. Influencer:innen reden in ihren Stories von kreativ gestalteten Arbeits- und Ernährungsplänen. Freund:innen teilen iCloud-Kalender miteinander. Wenn ich mir Gedanken über die romanhaften Erzählungen des linken Berlins der 80er und 90er mache, klingt das Gegenwärtige – zugegeben – eher spießig. Du hast zu dieser Zeit noch in Leipzig gelebt, aber der Städtegeist ähnelt sich sicher. War „strukturiert sein“ damals spießig?
Anke Stelling: Struktur kann Halt und Gefängnis sein, Strukturlosigkeit Freiheit und Lähmung. Ich höre das mit der Struktur, den Plänen, Kalendern und Trackern jetzt auch öfter, aber vor allem von kinderlosen Freiberufler:innen. Von denen gibt’s in deiner Generation bestimmt noch mehr als in meiner. Und von denen gab’s in meiner bestimmt mehr als in der meiner Eltern, und im linken Berlin der 80er und 90er mehr als im rechten Böblingen derselben Dekaden – insofern hat sich da sicherlich was verschoben.
Struktur kann Halt und Gefängnis sein, Strukturlosigkeit Freiheit und Lähmung.
Ich fand aber schon damals auffällig, wer sich das lässige In-den-Tag-hinein-Leben leisten konnte und wer nicht. Wir haben Anfang der Neunziger in einer WG in Friedrichshain gewohnt, und es gab die, die studiert haben, die hatten so eine grobe Struktur aus Vorlesungs- und vorlesungsfreier Zeit, aber weil sie von den Eltern finanziert wurden, gab’s echten Druck erst ab dem fünfzehnten Semester circa. Dann gab’s die Krankenschwesterschülerin im Schichtdienst, die hatte ganz schön Mühe, bei ihrer Ausbildungsstruktur auch noch die Nicht-Struktur des Party- und WG-Lebens mitzumachen. Ich selbst hab damals in verschiedenen Jobs gearbeitet, die ich mir so hinlegen konnte, dass es relativ strukturlos aussah, denn ja, das Ideal war schon, unbegrenzt Zeit zu haben für die eigentlichen Projekte, die alle unbezahlt waren und eher aus Lust und Laune, statt aus Arbeit und Struktur heraus entstehen sollten.
In Berlin ist diese Form der Linken zwar noch vertreten, aber die linksliberale Jugend- und junge Erwachsenenszene hat ein neues Lifestyle-Wort hervorgebracht, überraschenderweise von eben jenen geprägt, die Struktur vorleben. Nämlich: Spontanität. Das zweite Streben. „Lass uns das spontan sehen“, „nicht alles planen“, „spontan treffen“, „wir können ja spontan schauen“. Rein theoretisch klingt das fast nach einer Wehr. Gegen das Vorherbestimmte, gegen digitale Planungen und Kontrollen, gegen Prognosen, die in Sekundenschnelle auf Endgeräten angezeigt werden können. Ist Spontanität eine Laissez-faire-Einstellung und überhaupt eine neue Sehnsucht? Oder ist das ein Berlin-/ Großstadtblasenphänomen der Generation Y und Z, also der 1985er bis 2010er?
Anke Stelling: Ich glaube auch, dass das eine Gegenwehr ist. Der Selbstgestaltungs-, Selbstoptimierungs- und überhaupt Kontrollzwang ist schon immens. Da muss Spontanität, Faulheit und Laissez-faire als Gegengift her. Und ja, ich beobachte auch, dass das die Leute, die später geboren sind, eher betrifft als die, die Kulturtechniken wie Nicht-erreichbar-sein und Nicht-beobachtet-werden-können noch aus alten Zeiten kennen und deshalb zumindest als Kinder auch noch geübt haben.
Es ist ja auch immer ziemlich einfach, Selbstoptimierung auf die Digitalisierung zu schieben. Als hätte die Technologie erst Menschen diesen Drang beschert. Ich bin mir sicher, dass dieses Phänomen auch lange davor zu beobachten war, oder?
Anke Stelling: Ich glaube schon. Also Selbstoptimierung kannte ich sogar schon als Kind.
Inwiefern?
Anke Stelling: Ich hatte gestern darüber nachgedacht, wie wichtig es mir früher war, was für eine Figur ich hatte, oder wie lange es gedauert hat, bis meine Haare wieder wachsen … So etwas zum Beispiel. Ich habe immer davon geträumt, Perücken zu besitzen. Um mich auszutauschen. Ich glaube es geht dabei darum, dass man mehrere Menschen oder Bilder verkörpern will. Gleichzeitig. Und ich glaube, dass es durch Social-Media einfacher geworden ist, genau so etwas zu inszenieren.
Ich glaube, dass es nichts Neues ist, dass Menschen verstärkt über sich nachdenken. Aber wenn man andere dabei beobachten kann, dass sie das auch machen, indem sie eben Selfies und Videos von sich posten, dann sieht man sich vielleicht bestätigt, dass dieses verstärkte über sich Nachdenken andere betrifft und einen Sinn besitzt?
Anke Stelling: Ja, glaube schon. Ich glaube, es gibt jetzt einfach einen Tempowechsel. Ich hatte als Jugendliche mehr Pausen von dieser Selbstoptimierung als meine Kinder. Wenn der Schulfotograf zum Beispiel kam, dann war das natürlich noch wichtiger, aber der kam ja nur einmal im Jahr. Man konnte immer leichter unter den Radar schlüpfen als jetzt.
Du bist ja in der Provinz aufgewachsen, oder?
Anke Stelling: Kann man so oder so sehen.
Hm?
Anke Stelling: Na ja, Stuttgart …
Oh, entschuldige. Ich dachte, du bist, wie ich auch, auf dem Land aufgewachsen.
Anke Stelling: Nein, nein. Aber du bist also in der Provinz aufgewachsen?
Ja, genau! Und ich weiß nicht, ob das eine problematische These bedeuten könnte. Aber irgendwie habe ich das Gefühl, wenn weniger passiert, dann verbrüdert sich die Langeweile mit dem Drang zur Selbstoptimierung. Bestes Beispiel: Schulferien.
Anke Stelling: Genau, ganz wichtige Zeit! Da muss man ganz anders aussehen.
Ja, das war mein Hauptprojekt. Das Ich-Projekt, bereit zur Präsentation vor der Klasse.
Anke Stelling: Aber dass nicht so viel passiert, ist ja eigentlich das Gegenteil davon, dass man die ganze Zeit online verfügbar ist … Aber vielleicht hast du Recht und der Selbstoptimierungsgedanke war früher genau der gleiche wie jetzt. Nur dass man halt jetzt hundert Möglichkeiten hat, sich anzugucken, wie man gerne wäre. Zu überlegen, wie man gerne anders wäre … das hat sich, glaube ich, gar nicht geändert.
Wir haben eigentlich über Spontanität gesprochen. Bist du denn gerne spontan?
Anke Stelling: Ja, sehr gerne. Ich treffe gern Leute auf der Straße und geh dann mit ihnen wohin oder werde gern unangemeldet besucht. Ich mag weder Kalender noch Einkaufslisten, und Vergünstigungen für Frühbucher* sind mir ein Graus. Aber man muss dann halt auch mit der Schattenseite leben: teure Tickets, liegengebliebene Vorhaben, keiner da trotz des weiten Weges, keine Geschenke unterm Baum. Keine Remoulade zu den Fischstäbchen.
Vielleicht kommt dieser Drang nach Spontanität auch daher, dass sich viele nicht festlegen wollen. Der Gedanke, ein und dasselbe sein ganzes Leben zu machen, verängstigt. Auch wenn sich die Bedingungen und Erfahrungen natürlich immer ändern können. Wenn ein Alltag strukturiert ist, werden die Dinge erwartbarer. Ich bin freier Künstler und habe wenig Erwartbares und auch keinen richtigen Mehrjahresplan. In meinem Freundesumfeld beobachte ich bisher nicht das, was ich dich über deinen Freundeskreis fragen will. Vielleicht weil grundlegende Zukunftsfragen neben der Karriere für viele noch unbeantwortet bleiben. Keine:r würde sich wirklich als „gesettled“ sehen. Selbst wenn sie einen 9-to-5 Job haben. Beobachtest du bei Freund:innen, die einem geregelten Job nachgehen, dass sie dich mit zunehmendem Alter „beneiden“, dass sie ihren Alltag mit etwaigen Unstetigkeiten kompensieren wollen?
Anke Stelling: Ja, ich glaub schon, dass mich Leute um die Möglichkeit zu spontanem Handeln beneiden. Ich erlebe die auch als großes Privileg. Aber auch als Bürde: Ich muss mich stets selbst motivieren und selbst strukturieren. Dass ich fast alles, was ich beruflich mache, auch morgen oder in zwei Wochen machen kann, heißt ja, dass ich heute einen intrinsischen Grund brauche, um es zu tun.
Dass ich fast alles, was ich beruflich mache, auch morgen oder in zwei Wochen machen kann, heißt ja, dass ich heute einen intrinsischen Grund brauche, um es zu tun.
Angst vorm Chef* oder alberne Präsenzpflicht finde ich aber nicht besser, die kenne ich noch aus den Jobs. Tatsächlich glaube ich, dass wie immer eine Mischung am besten tut. Und ja, vielleicht ist es kein Zufall, dass alle meine Bekannten, die Extremsport machen und riskante Hobbys haben, festangestellte Gutverdiener* sind.
Fernab von Stipendien, Preisgeldern oder Vorschüssen kommen doch aber immer unvorhersehbare Dinge hinzu. Wenn die Umstände deiner Arbeit aber unvorhersehbar sind, beobachtest du dann bei dir selbst, dass du nach anderen alltäglichen Stützen suchst?
Anke Stelling: Ja, ich glaube tatsächlich, dass ich bei der Arbeit genug Abenteuer erlebe, um private Sicherheit zu schätzen. Ich bin seit fünfzehn Jahren verheiratet und lebe seit siebzehn Jahren im selben Kiez. Gut, das hat vielleicht auch mit den Kindern zu tun – aber die sind natürlich auch so eine Stütze. Dass die da sind und zu mir gehören.
Kann Unregelmäßigkeit Rebellion sein oder liegt, wenn man dies als seine Rebellion denkt, schon etwas „anderes“ im Argen?
Anke Stelling: Du meinst Wohlstandsverwahrlosung? Naivität? Ich denke, wer Regelmäßigkeit als Gefängnis empfindet, soll unbedingt dagegen rebellieren. Und dann mal schauen.
Ist der Schlüssel das Mittelmaß?
Anke Stelling: Davon rede ich ja die ganze Zeit und versuche es eigentlich anders zu formulieren, weil ich schon glaube, mich zu wiederholen. Aber es stimmt.
Das ist so ein negativ besetztes Wort …
Anke Stelling: Ja, Mittelmaß … die goldene Mitte. Mir geht es ganz oft so, dass ich mich nicht festlegen kann. Und wahrscheinlich ist die Mitte am angenehmsten.
Dann kommt aber wieder der Gedanke, dass man anders sein könnte.
Anke Stelling: Genau. Es bleibt einfach beim Ausprobieren. Eigentlich ein schöner Gedanke. Das denke ich aber total oft. Dass man eine Veränderung doch erst einmal ausprobieren und dann am Ende nachjustieren kann.
Ich glaube, die Frustrationstoleranz ist dafür zu niedrig. Weil das Ausprobieren nicht sofort einen Effekt bringt. Das Aushalten ist dann schwierig.
Anke Stelling: Ich habe meistens eher Angst vor der Stagnation. Und merke dann, eine richtige Veränderung macht dann doch Angst!
Aber kommt in der Unplanbarkeit eines freischaffenden Berufs nicht automatisch Unsicherheit? Also zumindest gibt es genug Raum dafür …
Anke Stelling: Ja, ich glaube schon. Je mehr man* zur Norm gehört, desto natürlicher und selbstverständlicher erscheint man sich selbst. Ich träume manchmal, ich wäre echter Mainstream. Alle, oder sagen wir: die absolute Mehrheit wäre plötzlich so wie ich. Das würde ich schon gern mal erleben. Ein ganz klein bisschen war es so auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Aber dann war ich am selben Tag mit dem Rad unterwegs und schon wieder die Doofe, die gefälligst Platz machen soll.
Reden hilft! Muss man über die scheinbar „banalen“ Alltagsunsicherheiten erst reden lernen? Eben weil sie so gewöhnlich erscheinen?
Anke Stelling: Reden lernen, zuhören lernen, ernstnehmen lernen. Wie geht’s mir? Was will ich? Wie könnte ich es kriegen? Und wenn ich’s nicht kriege: Wie halte ich das aus? Was gibt’s vielleicht stattdessen?
Aber diese Alltagsunsicherheiten können doch wiederkommen, eben weil sie ja im Alltag stecken …
Anke Stelling: Ich glaube, der Schlüssel liegt darin, das Ganze nicht als Projekt zu sehen, das dann einen Abschluss hat. Dass es keine Lösung gibt. Eine Freundin, die auch meine Dramaturgin ist, ist wahnsinnig allergisch gegen dieses „Lösungsorientierte“.
Was ist die Alternative?
Anke Stelling: Na, sich zu arrangieren. Das Schöne liegt ja auch in der Wiederholung.
Wogegen die Lösung dann einen Cut bedeutet …
Anke Stelling: Ja! Auflösung wohl eher. Aus der Lösung heraus. Und das ist inzwischen auch so ein Fetisch. Und dass man redet. Eigentlich dürfen alle nur reden, wenn alle lösungsorientiert sind.
Dazu fallen mir wieder deine Buchfiguren ein. Sind die sich eigentlich tief im Inneren bewusst, dass es ihnen „eigentlich ja gut geht“, aber ist es ihnen egal?
Anke Stelling: Ich lehne es ab, Leid zu hierarchisieren. Wem es schlecht geht, dem geht es nicht „eigentlich gut“, dem geht es schlecht. Dem geht es sogar noch schlechter, wenn er sich selbst und ihm andere dauernd sagen, dass es ihm doch eigentlich gut geht. Was soll diese Abwehr? Wem nützt die?
Vielleicht ja denen, denen es gut geht, aber ein bisschen schlecht. Dass sie nicht zu emotionalen Hypochonder:innen werden und am Ende glauben traurig zu sein, dabei war es doch nur ein wenig Sorge. Quatsch. Aber das drüber Reden kann ja auch Angst machen, für die Gesunden oder Sich-gut-Fühlenden, wenn sie hören, wie verletzt die menschliche Psyche sein könnte.
Anke Stelling: Ja, das glaube ich eher. Wer sich mit den Problemen meiner Figuren nicht identifizieren kann, kann sie ja ruhig lächerlich oder uninteressant finden. Und was anderes lesen. Oder nichts. Aber genau das, was du beschreibst mit den Hypochonder:innen, das finde ich total interessant. Wo ist da die Grenze, wer entscheidet darüber? Wer hilft wem raus, wer gerät immer tiefer hinein und warum? Ich will mich mithilfe meiner Figuren auf die Suche begeben und besser verstehen, was so abläuft auf dieser Welt und zwischen und in den Menschen.
Beneidet die Generation, von der du schreibst, irgendeine andere?
Anke Stelling: Generation ist mir zu groß. Generation ist wie Nation. Die Deutschen beneiden die Franzosen, weil die besser zu leben wissen. Aber was soll das heißen? Genauso ist es mit meiner Generation auch. Sie beneidet die Millennials, weil die besser tanzen können. Aber wer geht schon noch in den Club?
Wenn ihr nach diesem geistreichen Interview noch mehr von Anke Stelling lesen wollt, wie wär’s dann mit ihrem neuen Erzählband Grundlagenforschung? Die Autorin schafft im schnellen und scharfen Erzählststil Symbolszenen einer Gesellschaft, die so literarisch erforscht werden kann, was ziemlich viel Witz und vor allem Spaß mit sich bringt.
Anke Stelling – Grundlagenforschung
Verbrecher Verlag, Berlin, 2020
Hardcover, 192 Seiten, 20,00 €
ISBN: 9783957324474
Headerfoto: Foto von Anke Stelling: Havannah Skriva, Foto von Aron Boks: Ken Yamamoto. („Gesellschaftsspiel“-Button hinzugefügt und Bilder gecroppt.) Danke dafür!