Abschied von Babcia: Wie ich meine Großmutter beim Sterben begleitete Teil I

„Ich will nicht, dass Babcia stirbt“, war das Erste, was ich rausbrachte, als ich erfuhr, dass bei meiner Oma ein Hirntumor gefunden wurde. „Ich auch nicht“, antwortete meine Mutter.

Sie fing an, schlechter zu sehen. Ärzte wussten nicht, woran es lag. Sie bekam eine neue Brille und, weil sie von Stimmungsschwankungen berichtete, Antidepressiva. Verdacht auf Schlaganfall war auch ein Griff daneben. Schlussendlich ein Hirnscan. Mir brach es das Herz, sie in den Sprachnachrichten die wir uns zusandten, weil sie nicht mehr gut genug sehen konnte um zu tippen, immer öfter Schwierigkeiten hatte, Worte zu finden und ihre Stimme immer erschöpfter klang.

Noch schlimmer fand ich es, dass sie sich dafür entschuldigte und die Worte immer wirrer wurden und ich in den letzten Sekunden der Nachrichten immer öfter hörte, wie ihre Stimme brach und sie den Tränen nahe war.

Meine geliebte Babcia

Meine geliebte Babcia, die so eine starke selbstbestimmte stolze Frau war, verlor die Kontrolle. Ich wusste schon damals, dass es nicht mehr lange dauern würde und so pendelte ich acht Monate lang zwischen Polen und Deutschland.

Das erste Mal, als ich über die Türschwelle in ihre Wohnung trat, zerriss mein Herz auf eine neue Art. Sie weinte einfach nur in meinen Armen, als ich sie begrüßte.

„Ich liebe dich“ zu sagen war das Einzige, was ich in dem Moment als Antwort auf die Situation beitragen konnte.

„Ich liebe dich“ zu sagen war das Einzige, was ich in dem Moment als Antwort auf die Situation beitragen konnte.

Am nächsten Morgen bereitete ich für die nächste Woche ihre Tabletten vor. Dexamethason wird immer einen bleiernen Nachklang in meinen Ohren haben. Irgendwie war es aber auch meditativ, diese Unmengen an Pillen aus ihren sterilen Alupackungen und Glasflaschen zu holen, um sie fein säuberlich zu zerschneiden und in ihr Tablettendöschen einzusortieren.

Mein 21 Geburtstag war bis jetzt der Traurigste, weil ich insgeheim wusste, dass es der letzte mit ihr sein würde. Vier Wunderkerzen und drei Gläser Weißwein auf dem Balkon. Kalte Nachtluft und Mondschein zwischen den Plattenbauten. Traurig, aber dennoch schön. Ich konnte meine Großmutter durch die Fensterscheibe auf dem abgenutzten Sofa sitzen sehen.

Ihre Gesichtszüge hatten sich verändert, als ob sie nichtmehr ganz in der physischen Realität wäre.

Polnisches Cabaret lief, so wie immer, wenn sich die drei Generationen versammelten. Ihre Gesichtszüge hatten sich verändert, als ob sie nichtmehr ganz in der physischen Realität wäre. Zu Hause fühlte sich da auf eine ganz andere Weise geborgen an. Schon merkwürdig, wie viele Nuancen Heimat haben kann. Die Luft ist dort anders. Geräucherte, stechende, eisige Schwermut, Liebe und Vertrauen. Das beschreibt meine Mutterlinie am ehesten.

November

In dieser Zeit sah ich meine Großmutter das erste Mal nackt. Es hat sich so natürlich angefühlt. Als ob sich die Rollen vertauscht hätten und meine Mutter, ihre Schwester und ich jetzt die Mutterrolle einnehmen würden und sie in unterschiedlichen Abständen, wenn es wieder schlimmer wurde, wie ein kleines hilfloses Ding beschützen mussten.

Ich habe sie gerne gewaschen, ihr gerne wunde Stellen eingecremt, gerne beim Einlauf geholfen, gerne Windeln gekauft, sie gerne gefüttert.

Ich habe sie gerne gewaschen, ihr gerne wunde Stellen eingecremt, gerne beim Einlauf geholfen, gerne Windeln gekauft, sie gerne gefüttert. Es war meine letzte und einzige Chance ihr das zurückzugeben, was sie mein ganzes Leben für mich selbstlos getan hatte.

Auch für mich gab es gute und schlechte Tage. Manchmal dachte ich, ich könnte nur durch die Kraft des Vertrauens in das Jetzt bewirken, dass sich die Realität verändern könnte. Dass ich plötzlich in einer Version der Realität lande, in der sie Heilung erfährt. Ich weiß noch nicht, ob ich diese Funken an Hoffnung bereue, weil sie sich als sinnlos herausgestellt haben. Oder ob sie gut waren, weil sie in den schwersten Momenten Kraft gegeben hat.

Ich hatte meine Mutter mittlerweile zum ersten Mal in meinem Leben seit einem Monat nicht gesehen. Als ich wieder zurückflog nach Polen, war es komisch, sie am Flughafen zu sehen. Sie schien irgendwie euphorisch und glücklich. Es war schön, sie so zu sehen. Meine Großmutter hatte ihr am selben Tag die Haare gemacht. Ihr ging es erstaunlich gut.

Sie konnte alleine duschen, essen und sehr deutlich sprechen. Sogar beim Kochen konnte sie helfen. Wir misteten sehr viel aus, wogegen sie sich erstaunlicherweise erstmals nicht wehrte. Die Sammelsurien an Zeug, die über Jahrzehnte entstanden sind, verschwanden nach und nach.

Weihnachten

Ihre Leidenschaft, Ikonen zu malen, nahm ihr Ende mit der letzten, die wir beide zusammen malten. Die Skizze hatte sie schon vor längerem angefertigt und sie bat mich, diese nach einer Vorlage zu malen. Bis zuletzt war es die Ikone, die in ihrer Sichtweite hängen durfte. Denn mit der Zeit wollte sie von uns, dass wir immer mehr ihrer Werke von den Wänden nahmen.

Ich glaube, sie haderte damals mit ihrem Glauben, der ihr über 77 Jahre hinweg so viel Kraft in ihrem komplizierten Leben gegeben hatte.

Diese waren über und über gefüllt mit Heiligendarstellungen. Ich glaube, sie haderte damals mit ihrem Glauben, der ihr über 77 Jahre hinweg so viel Kraft in ihrem komplizierten Leben gegeben hatte. Sie verstand nicht, warum ihr das passieren musste und ich glaube, sie rang viel mit dem Gott, an den sie glaubte.

Silvester

Wir wurden immer mehr zu ihren verlängerten Armen. Die einzige Möglichkeit, noch Kontrolle über die Außenwelt zu haben. Es wurde immer schwerer sie zu verstehen, weil der Tumor ihr Sprachzentrum übernahm. Und das Traurigste war, dass sie sich dessen bewusst war. Ich hasste es, diese Verzweiflung in ihren Augen zu sehen, weil ich nicht verstand, was sie mir sagen wollte und sie ganz genau wusste, was sie wollte, aber ihre Zunge nicht gehorchte.

In besonders klaren Momenten konnten wir zusammen über den Quatsch lachen, der aus ihrem Mund kam. Sie schüttelte manchmal nur tränenlachend ihren Kopf darüber, was sie für einzigartige Fehler machte.

Die direkteste Art, die ich herausfand, um mit ihrem Innersten zu reden, war Berührung.

Ich bewundere meine Tante so sehr dafür, dass sie irgendwie diese Geheimsprache mit ihr fand und sehr gut mit ihr kommunizieren konnte. Die direkteste Art, die ich herausfand, um mit ihrem Innersten zu reden, war Berührung.

Ihre Hände sauber machen, wenn sie unbewusst mit der anderen Hand im Essen rumgematscht hatte, oder ihr Gesicht einzucremen. Ihr den dicken Zeh zu massieren, was angeblich bei der Verdauung helfen soll.

Irgendwann besorgten wir einen Rollstuhl und tauschten ihr Bett gegen ein Pflegebett. Ich fuhr manchmal mit ihr den Flur hinunter, an den Nachbarwohnungen vorbei durch die Glastür. Und ich hielt sie fest, wenn sie sich heraushievte, um ein wenig aus dem Fenster zu schauen, um die dunkel gekleideten Menschen oder den Sonnenuntergang zu beobachten. Irgendwie traurig und gleichzeitig schön, wie der Mensch mit immer weniger zufrieden sein kann oder gar Glück verspürt.

Den zweiten Teil des Texts findet Ihr hier.

Victoria, als wandelbare Gestalterin, die sich im poetischen, fotografischen und illustratorischen Bereich zuhause fühlt, ist ihr oberstes Gebot die Unzensiertheit. Sie interessiert der Kern einer Thematik. Sie verarbeitet ihre Umwelt in der Auseinandersetzung mit sich selbst und dem Gegenüber. Bei ihr ist Platz für das Experiment, für Schräges, für Absurdes, für Wildes, für die Schönheit im Kleinen. Kurz gesagt: für das Intimste, was der Mensch als seltsames Universum mit seinen diversen Gefühlskosmen hergibt. Ohne Ehrlichkeit und Authentizität ergibt es keinen Sinn, in die Psyche einzutauchen oder die Umwelt zu beobachten. Deswegen zeigt sie sich und ihre Gegenüber (mit Einverständnis) gerne verletzlich.

Headerfoto: cottonbro (Kategorie-Button hinzugefügt und Bild gecroppt.) Danke dafür!

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