„Dobranoc Babciu“ – „Dobranoc, Zabciu“. Ich war immer ihr Fröschchen gewesen. Das ist etwas, was ich am meisten vermisse. Ihr „Gute Nacht“ zu sagen.
Juni
Nun ging es rapide bergab. Sie schlief fast nur noch. Ich wusste, dass es der letzte Flug dieser Art sein würde. Und trotzdem saß die Hoffnung wie ein giftger Teufel auf meiner Schulter.
Ich strich meiner Oma über die Stirn und über ihre Wange und versicherte ihr nur, dass ich hier sei. Sie schloss wieder die Augen. Es sollten ihre letzten Worte sein.
Eingefallene Lippen, trockene Haut, Blasenkateter. Ein Heulkrampf durchschüttelt mich an ihrem Bett. Sie machte langsam die Augen auf und sprach leise „Jak fajnie“ – „wie schön“, als sie meine Mama, meinen Papa und mich erblickte. Ich spürte die Hand meiner Tante auf meiner Schulter. Ich strich meiner Oma über die Stirn und über ihre Wange und versicherte ihr nur, dass ich hier sei. Sie schloss wieder die Augen. Es sollten ihre letzten Worte sein.
An dem Tag pflückte ich abends unterschiedliche Feldblumen. Auch Mohn war in dem kleinen Strauß. Ihre und meine Lieblingsblumen. Die erste der drei Knospen hatte sich schon geöffnet. Ihre Blütenblätter fühlten sich an wie ihre Haut. Zart und zerbrechlich.
Ich werde nie ihren Körper vergessen. Seine Veränderung während dieser intensiven Monate. Zuletzt konnte ich sehr genau mit meinen Augen die Knochen abfahren, die sich unter ihrer fast durchsichtigen Haut abzeichneten. Angeschwollene Füße, Verbände, weiche, hängende Haut.
Einen Tag vor ihrem Tod schauten wir uns alte Fotos an. Ich bin mir sicher, dass sie jede einzelne Anekdote in ihrem Dämmerschlaf mitbekommen hat. Sie hat bestimmt mit uns um die vergangene Jugend gelacht und geweint.
Einen Tag vor ihrem Tod schauten wir uns alte Fotos an. Ich bin mir sicher, dass sie jede einzelne Anekdote in ihrem Dämmerschlaf mitbekommen hat. Sie hat bestimmt mit uns um die vergangene Jugend gelacht und geweint.
Es war vier Uhr morgens, ich hatte seit einer Woche nicht wirklich schlafen können, was bestimmt auch der Tatsache geschuldet war, dass ich auf dem Boden schlief. Das Telefon klingelte. Ich konnte nur in die Ecke des dunklen von Straßenlaternenlicht beleuchteten Zimmer starren, in der tiefen Gewissheit, dass sie nicht mehr atmete. Zu dem Zeitpunkt pendelten wir zwischen der Wohnung meiner Tante und der meiner Großmutter, in der eine Pflegerin mit ihr wohnte, um ihren Sterbeprozess zu begleiten.
Ich rang sehr lange mit mir, ob es stimmt, dass man Menschen so in Erinnerung behält, wie man sie zuletzt gesehen hat. Denn ich wollte sie nicht leblos in meiner Erinnerung eingebrannt wissen. Aber andererseits war in den letzten Monaten immer weniger Lebendigkeit in ihr. Ich kann mich heute immer noch schwierig an die wirklich ehrlich lebendigen Momente mit ihr erinnern. Es ist, als ob die Erinnerungen auf transparente Folien gedruckt wären, die übereinander liegen. Eine Folie überlagert immer alles andere, egal wie tief ich grabe, wie sehr ich mich in die Vergangenheit zurückversetze.
Ich entschied mich zum Glück dafür, mitzufahren. Wahrscheinlich hätte ich es sonst ein Leben lang bereut.
Ich entschied mich zum Glück dafür, mitzufahren. Wahrscheinlich hätte ich es sonst ein Leben lang bereut.
Die letzte der drei Mohnknospen öffnete sich buchstäblich in dem Moment, in dem wir ihr Zimmer betraten. Sie lag friedlich da, mit leicht geöffnetem Mund. Eine einzelne Träne lief mir über die Wange und durchdrang die schönste Stille mit einem dumpfen Geräusch, als sie auf ihre Decke fiel. Ich werde diese letzte Blüte für immer erinnern, die sich an ihrem Totenbett öffnete.
Ich spüre immer noch die Gegenwart ihrer schwebenden Seele irgendwo zwischen der Zimmerecke und den Laken. Wir zündeten zwei Kerzen an. Ihre Flammen waren so still wie ihr Herz, das zu schlagen aufgehört hatte. Es war ein schöner, aber verstörender Anblick. Ich hätte nie erwartet, sie so früh in diesem Zustand zu sehen. Ich erinnere mich noch so genau, wie mein Kopf auf ihrer Schulter ruhte, wenn wir schlechte polnische Komödien schauten. Wie wir Arm in Arm durch den Park spazieren gingen.
Dann war sie weg…
Die Nachbarin von gegenüber kam, um sich zu verabschieden. Sie kannte mich von klein auf, aber sie war einer dieser Menschen, die einfach da sind. Du kennst ihre Hülle, du weist wie sie sich bewegen, was sie für Eigenarten beim Reden haben, aber wirklich kennen tust du sie nicht.
Der Arzt kam, um den Tod festzustellen. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich, wie er sehr unberührt in ihre Augen leuchtete. Ich wandte den Blick ab. Kurze Zeit später wurde ihr Leichnam abgeholt. Meine Brust schmerzte als ich sah, wie die beiden Männer sie in einen Sack auf einer Bahre hievten und den Verschluss mit einem Ruck zuzogen. Diese ganze Szene war so surreal. Hinfort rollte der Körper, der 77 Jahre auf dieser Erde weilte.
Übrig blieben wir und die Wohnung mit ihrem Inventar. Diese Wohnung war ab jetzt nur ein Schatten ihrer selbst.
„Z bogiem, z bogiem, z bogiem.“ – „Mit Gott, mit Gott, mit Gott“ sprachen die Männer noch laut, bevor sie die Wohnung verließen. Übrig blieben wir und die Wohnung mit ihrem Inventar. Diese Wohnung war ab jetzt nur ein Schatten ihrer selbst.
Nachdem wir die Wohnung verlassen hatten, fuhren wir zur Bestatterin. Ich suchte ihre Urne aus. Meine Tränen hörten nicht auf. Zwischen allen Pflichten war keine Zeit zu trauern oder zu spüren.
Auf dem Weg zum Friedhofswärter schaute ich mir in der Reflexion des Taxifensters in die Augen.
Es ging alles viel zu schnell. In fünf Tagen sollte die Beerdigung statt finden.
Was hat sich verändert? Irgendwie alles, aber auch nichts.
Uns wurde mitgeteilt, wann die Kremation stattfinden würde und ob wir uns noch verabschieden wollten. Das hatten wir aber schon zu oft getan.
Noch nie hatte ich eine solche Migräne wie an diesem Tag. Meine Augen schmerzten. Uns wurde mitgeteilt, wann die Kremation stattfinden würde und ob wir uns noch verabschieden wollten.
Das hatten wir aber schon zu oft getan.
So schaute ich auf die Uhr und stellte mir vor wie ihre Haut, ihre Knochen, ich schwarzes Kleid unter der unfassbaren Hitze zu Asche wurden.
Die Beerdigung war neutral. Für mich sehr emotional, aber ich dachte, es würde sich besonders anfühlen, weil sie ein besonderer Mensch in meinem Leben gewesen ist. Zurückhaltend, irgendwie einfach, war dieses Ereignis. Ich legte ihr einen Brief mit ins Grab. Wahrscheinlich ist dieser heute schon zersetzt und meine Worte Teil der Erde, die ihre Überreste umgibt.
Nachdem sich die Trauergesellschaft aufgelöst hatte spazierten wir noch ein wenig durch die Stadt. Meine Mutter, mein Vater, meine Tante und ich. Meine Familie. Und jetzt fehlte da ein Teil. Es ist auch hier in meiner deutschen Heimat komisch, durch die Straßen zu gehen, weil ich mich in den ruhigsten Momenten an diese Leere erinnere, die ihr Tod hinterlassen hat.
Die Gerüche ihrer Kochkünste im Hochsommer, ihr sanftes Aufstehen am Morgen, um das Frühstück vorzubereiten, Busfahrten durch Dörfer, meine Hand in ihrer.
Wir fingen an ihre Wohnung auszuräumen. Dinge zu verkaufen, zu verschenken, einzupacken, mitzunehmen. So wollte sie es, die Wohnung schnellstmöglich an jemanden zu verkaufen. Das machte mir Angst, aber ich wusste, dass ich meine Kindheit und alles, was ich mit dem Ort verband, loslassen musste. Die Gerüche ihrer Kochkünste im Hochsommer, ihr sanftes Aufstehen am Morgen, um das Frühstück vorzubereiten, Busfahrten durch Dörfer, meine Hand in ihrer.
Erinnerungen
Wie heilt man von so einem tiefgehenden Verlust? Wie kann ich ihn in Gewinn umwandeln? Klare Gedanken scheinen oft leicht benebelt zu sein. Ob ich aktiv vernebelt wahrnehme, weiß ich noch nicht. Irgendwo habe ich mal gehört, dass man nur lernt mit der Leere zu leben, wenn jemand plötzlich nicht mehr da ist. Die meisten Menschen gehen langsam und leise aus dem Leben, aber die Stille hallt so plötzlich nach.
Es wird einfacher, bestimmt wird es einfacher, aber die Gewissheit der Endgültigkeit beschwert jedes Lachen. Irgendwie scheint es mir auch egoistisch, diese Endgültigkeit so für mich zu beanspruchen, anstatt sie denjenigen zuzugestehen, die nicht mehr da sind.
Ist das überhaupt etwas, was man jemandem zugestehen sollte?
Ich fühle mich schrecklich alt, ohne, dass es schrecklich ist. Aber irgendwie finde ich es unfair, denn so habe ich mir meine Zwanziger nicht vorgestellt.
Der Boden unter meinen Füßen ist nicht mehr fest. Das, was ich als zuhause oder Heimat beschreiben würde, hat sich aufgelöst oder merkwürdig verschoben.
Ich würde sagen, der Boden unter meinen Füßen ist nicht mehr fest. Das, was ich als zuhause oder Heimat beschreiben würde, hat sich aufgelöst oder merkwürdig verschoben. Ich weiss, dass es noch da ist, aber in einer höflich, reservierten Form.
Wenn ich innehalte und versuche, einfach zu sein, bin ich orientierungslos. Alles, was ich tue, fühlt sich wie Ablenkung an. Körperlich bin ich ein Teil der Abläufe. Andererseits weiss ich nicht, was zu tun ist, um wieder an Land zu kommen, sicher stehen zu können, mir meine eigene Heimat zu basteln.Vielleicht werde ich zum ersten mal Zeugin meines Erwachsenwerdens. Ist das eine normale Abnabelung?
Manchmal fühlt es sich eher wie eine Operation an, bei der der Nabel entfernt wird.
Zum ersten Mal bemerke ich eine zarte Falte, die sich von meinen Nasenflügeln zu den Mundwinkeln abzeichnet. Sie ist schön, aber sie war vor Kurzem noch nicht da.
Ich habe Angst davor, meine Mutter zu beerdigen, deswegen nehme ich mir vor, das Sterben zu lernen.
Ich habe Angst davor, meine Mutter zu beerdigen, deswegen nehme ich mir vor, das Sterben zu lernen.
Es ist nun fast ein halbes Jahr her, seit ich mich von meiner geliebten Großmutter verabschieden musste. Vieles in mir hat sich verändert. Ich lerne immer noch, die Flüchtigkeit des Lebens anzunehmen und mich nicht festzuhalten an Situationen und Menschen, die sich permanent bewegen. Das Beobachten fällt mir immer leichter, aber die verdunkelnden Folien liegen dennoch oft über der Leichtigkeit, nach der ich mich sehne. Es ist okay nicht okay zu sein.
Weiterleben
Wir haben die Wohnung an eine Familie verkauft. Wenn ich daran denke, schnürt sich mir manchmal meine Kehle zu, aber dann erinnere ich mich an alles, was ich kann und fühle, was ein so viel wertvolleres Erbe ist als all ihre Reliquien. Ich denke nicht mehr jeden Tag an sie und ich glaube, das ist in Ordnung. Es kommt vor, dass ich das Gefühl habe, als ob sie bei mir wäre. Wenn ich in meinen Gedanken zu ihr rede und sie auf Spaziergängen bitte mir etwas Schönes zu zeigen passieren manchmal kleine Wunder.
Mein Blick für die Details und kleinen Glücksmomente hat sich durch den Schmerz geschärft. Dafür bin ich sehr dankbar.
Mein Blick für die Details und kleinen Glücksmomente hat sich durch den Schmerz geschärft. Dafür bin ich sehr dankbar.
Die Wertschätzung der eigenen Lebendigkeit und jeder anderen Lebensform gegenüber ist nur möglich, wenn wir uns unseres eigenen Todes bewusst werden und diese Tatsache in den Alltag integrieren. Da dieser Gedanke in der westlichen Gesellschaft überwiegend als makaber wahrgenommen wird und jegliche Zensur und Ablenkung dankend angenommen wird, ist es umso schwieriger, ein bewusstes Leben zu leben und somit auch einen bewussteren Umgang mit der Erde, ihren begrenzten Ressourcen und unseren Mitmenschen. Die Wirkung, sich dem Geschenk des Lebens, aber auch seiner Vergänglichkeit, bewusster zu werden, ist für das Individuum, aber auch für das menschliche Miteinander und die Verantwortung für die Mitwelt essenziell, um unsere Lebensgrundlage mit tiefem Verständnisses um das „Warum“, zu schützen.
Dieser Todesfall hat mir wie kein anderer Schicksalsschlag meinen Autopiloten vor Augen geführt. Ich möchte lernen, jeden Tag bewusst zu begehen, als ob es der erste wäre. Zumindest will ich es versuchen. Vielleicht kehrt dann irgendwann wieder die wohlige Wärme und Geborgenheit ein, weil ich im Hier und Jetzt alles habe, was ich brauche.
Den ersten Teil des Texts findet Ihr hier.
Headerfoto: cottonbro (Kategorie-Button hinzugefügt und Bild gecroppt.) Danke dafür!