991 Tage

Die Augen geschlossen. Der Mascara verwischt. Strähnen liegen dir im Gesicht. Du schnaufst. Wahrscheinlich träumst du. Der Wind zieht sanft flüsternd durch die Räume. Die Vorhänge schweben. Unten vorm Haus hat der Tag bereits begonnen. Ich lasse dich schlafen und denke, das habe ich wirklich nicht kommen sehen. Vor zweihundertsiebenundzwanzig Tagen.

Damals, als ich vor dieser Bar stand und wenige Sekunden zuvor meinen besten Freund nach einer Umarmung in die Nacht entließ. Du hast uns beobachtet und kamst lasziv rauchend auf mich zu. Du trugst einen weiß-schwarzen Raglan, Bluejeans und die weißen Chucks, die du ständig trägst und liebst. Du sagtest: „Meine Güte, wie schlecht bist du denn im Abschied? Es wird weh tun. Das muss so!“ Ich ahnte noch nicht, dass es deine Art ist, dich immer derart kryptisch und wahrsagend auszudrücken.

Damals, als du, wie heute auch, nicht um deine Schönheit wusstest, keinen blassen Schimmer hattest, wie erlegen ich dir und deiner Handlungen war. Als du die Wohnung verließt, nachdem wir miteinander geschlafen hatten oder an der Tür geläutet hast, um mir einen Kuss auf die Lippen zu drücken und danach gleich wieder zu verschwinden. Du wusstest nicht um den Sprung, den mein Herz machte, wenn du in deinem Kleid das Treppenhaus auf und ab tanzen wolltest. Nein, da hatten wir noch nichts von alldem kommen sehen.

Ich wusste noch nichts von den dunklen Wolken in meinem Kopf, die aufziehen würden, wenn wir durch die Nächte, Bars, Kneipen und Clubs zogen, und du die Männer umgarntest, um Scheine zu besorgen, die wir gar nicht brauchten. Für Drinks, die ebenfalls absolut redundant waren. Ich konnte an jenem Abend vor der Bar nicht wissen, wie es dich verzückte, die Männer wild zu machen, um dann mit mir zu verschwinden. Und keiner hatte ahnen können, dass mir einer dieser geprellten Typen irgendwann Schläge anbot und ich annehmen würde, und du mir dafür die ganze Nacht sagen würdest, wie absolut unsouverän ich sei.

Und hätte ich kommen sehen, welche Unterhaltung in der letzten Nacht auf mich gewartet hat, so wäre ich damals in der Weserstraße einfach gegangen und hätte dich und deine Unnahbarkeit anderen überlassen.

Denn vor sieben Stunden sagtest du, du willst nicht, dass man sich an uns erinnert. Wir seien nicht richtig. „Schau uns nur an“, sagtest du.

Kein Krach. Kein Fluch. Nur Licht – von der Straße hoch in mein Zimmer.
Die Mobiltelefone lagen auf dem Küchentisch.
Deine Uhr daneben.
Der Schlüssel steckte von innen im Schloss.
Meine Hose hing ordentlich über dem Stuhl.

Und du lagst vor mir. In meinem Bett. Deine kalten Füße zwischen meine Oberschenkel geklemmt. Sagtest, glücklich seist du schon, aber das sei nicht genug. Du willst wissen, ob es da mehr gibt. Du weinst nicht, denn du fühlst nicht. Du kannst es nicht erklären und ich kann es noch weniger verstehen. Alles, was du noch wolltest, war ich. Ein letztes Mal für dich.

Die Augen geschlossen. Der Mascara verwischt. Strähnen liegen dir im Gesicht. Du schnaufst. Wahrscheinlich träumst du. Der Wind zieht sanft flüsternd durch die Räume. Die Vorhänge schweben. Unten vorm Haus hat der Tag bereits begonnen. Ich lasse dich schlafen und denke, das habe ich wirklich nicht kommen sehen. Vor zweihundertsiebenundzwanzig Tagen.

Wir umarmen uns an der ochsenblutroten Tür. Du weinst nun doch. Ich nicht. Du sagt: „Es war schön“. Ich sage nichts und ich kann nichts von dem, was auf mich wartet, erahnen. Ich weiß noch nicht, dass ich in wenigen Wochen durch meinen Nachbarkiez laufen und du in diesem Café sitzen wirst. Dass du eine weiße Bluse mit dunklen Knöpfen trägst. Dein Haar ordentlich gesteckt, wie ich es nie zuvor an dir gesehen habe. Ich werde den Mann, der sich neben dich setzt und den Arm um dich legt, verprügeln wollen. Ich weiß noch nicht, dass ich Nathaniel Rateliff mit Still Trying hören und einfach weitergehen werde.

Ich weiß eigentlich gar nichts. Nicht, dass ich in siebenhundertvierundsechzig Tagen nach der Arbeit nach Hause kommen, meinen Briefkasten öffnen und einen cremefarbenen Umschlag herausnehmen werde. Ich weiß nicht, dass ich keine Wut, keinen Zorn und keine Enttäuschung empfinden werde, wenn du es bist, die mich einlädt. Zu ihrer Hochzeit. Und ich kann nicht ahnen, dass du mich am Fenster des Cafés hast stehen sehen und schreibst, dass er es sei.

In diesem Moment, in dem du die Treppen heruntergehst, ich dir nachschaue und warte, bis du unten durch die Tür steigst, mir das Wasser nun doch so langsam hinter den Augen drückt und ich die Schmerzen, die auf mich warten, fast schon fühlen kann … in genau diesem Moment scheint es undenkbar, dass ich in etwas mehr als zwei Jahren auf dem Balkon stehen, eine Filterzigarette rauchen und wissen werde, dass ich auf der DIN A7 Antwortkarte in meiner linken Hand, den Haken dort setze, wo ich mitteile, dass ich auf jeden Fall erscheinen werden.

Nur eben nicht allein.

Headerfoto: Angel Monsanto III via Unsplash.com! (Gedankenspiel-Button hinzugefügt, Bild gespiegelt.) Danke dafür!

MARKOURT ist 27 Jahre alt und weiß, dass das beste Album der Nullerjahre “Give up” von Postal Service ist. Er und Alkohol sind das Rezept für wochenlangen Gesprächsstoff und Witze auf seine Kosten. Für ihn gilt: Lieber brechend volle Tram als Individualverkehr, lieber telefonieren als Kurznachricht und für immer Francis „Frank“ McCourt. Jedes verdammte Katzenvideo findet er besser als pseudopolitische Diskussion in WG-Küchen und sozialen Netzwerken. Immer wenn es Winter wird, wünscht er sich, dass da eine Person an seiner Tür klingelt, der von Kälte und Wind die Nase läuft. Und dass diese kalte Nase sein Gesicht berührt, wenn er sie küsst.

4 Comments

  • Das ist bei weitem eine der besten Stories, die ich in einer langen Zeit gelesen habe. Ich hab Gänsehaut. Ich spüre jedes einzelne Wort und habe durch den Text neuen Mut geschöpft.
    Ich danke dir dafür, liebster Autor, und hoffe, dass du mittlerweile keine Tage mehr zählen musst, sondern den Moment genießt, ohne Angst zu haben ihn zu verlieren.

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