Ein Jahr, drei Monate und vier Tage sind wir jetzt getrennt. Du hast mich verlassen. Damals. Weil wir beide nicht mehr konnten. Weil unsere Beziehung nur noch aus unausgesprochenen Erwartungen und tiefen Enttäuschungen bestand. Resultierend auseinander oder im Wechsel aufkommend. Dazu unsere gegensätzlichen Leben in zwei so unterschiedlichen Städten. Wir vermissten uns so sehr. Und wenn wir uns dann endlich sahen, versuchten wir, das lang Ersehnte zu kompensieren und scheiterten oft auch daran.
„Willst du mich heiraten?“, fragtest Du manchmal übermütig.
„Wenn Du auf einem weißen Ross geritten kommst und mich noch einmal fragst, vielleicht…“
Liebe reicht eben nicht aus, um miteinander glücklich zu werden. Du warst es, der die Notbremse gezogen hat. Oder besser: vom fahrenden Zug gesprungen ist. An diesem Sonntag Anfang Dezember stand ich plötzlich alleine da. Ohne Dich. Das erste Mal seit wir uns knapp fünf Jahre zuvor kennen gelernt hatten.
Von dem Scherbenhaufen und dem Meer aus Tränen hast Du nichts mehr mitbekommen. Es gab keinen Rosenkrieg. Keine nächtlichen Anrufe. Keine flehenden SMS. Kein E-Mail-Bombardement. Alles, wozu ich im Stande war, war nichts zu tun. Nichts zu tun und Dich zu vermissen. Gedanklich in Zeiten zu versinken, die schon lange nicht mehr waren. Und mich zu zwingen. Zwingen, weiter zu machen. Tag für Tag. Und mir immer wieder einzureden, dass es eines Tages für etwas gut gewesen sein würde. Ich wünsche mir, dass Deine Auffassung über meine Zukunft stimmt: „Irgendwann wird einer kommen, der besser zu dir passt.“
Irgendwie wurde es dann ja auch besser. Stück für Stück. Dauert eben einfach, so ein gebrochenes Herz. Und außer Zeit hilft nichts. Bier manchmal. Und gute Freunde. Die sich alles immer und immer wieder anhören. Mitweinen.
„Du bist wirklich tapfer.“
Über ein Jahr lang hat es gedauert, bis mein Lachen wieder echt war. Es ist wohl doch etwas dran an dem Spruch mit dem Trauerjahr.
Und dann dieser Abend. Wieder Sonntag. Ich bin viel zu spät dran. Alle warten schon im Club auf mich. Ein rotes P über dem Eingang. Ich renne fast. Keine Schlange mehr. An der Kasse nenne ich meinen Namen, bekomme einen Stempel, ziehe die Jacke noch im Gehen aus. Vorfreude.
Die Vorband spielt bereits, aber kaum einer hört hin. Es ist laut in dem Laden, eine Mischung aus Stimmen, Flaschengeklirr und Lachen. Von der Bühne her Musik. Ein Singer-Songwriter vor einem Singer-Songwriter. Ich entdecke meine Freunde an einer Säule beisammen stehen, Marie kommt auf mich zu und umarmt mich. Fest. Dann drückt sie meine Hand und lässt sie nicht mehr los. Da stehen wir, händchenhaltend und ich frage mich: „Geht es ihr nicht gut?“
Und dann sehe ich Dich. An der Bar. Ganz in schwarz.
Mein Herz setzt für drei Schläge aus, um dann viel zu schnell das Versäumte aufzuholen. Es ist über 15 Monate her. Du hast mich noch nicht gesehen. Ich lasse Maries Hand los und gehe auf Dich zu. Ich muss, auch wenn es selbstzerstörerisch ist.
Was tust Du hier?
Der Club fasst vielleicht 300 Leute.
Schweres, dunkelrotes Licht. Wie vernebeltes Blut hängt es in der Luft.
Singer-Songwriter.
Unbekannt.
Schnulzig.
Nur Gitarre und Stimme. Keine Drums.
Berlin an einem Sonntagabend.
Gibt es da nicht bessere Beschäftigungen?
Tatort vielleicht?
Was zur Hölle willst Du hier?
Obwohl ich seit unserer Trennung noch immer jeden Tag an Dich denke, seit 459 Tagen jeden verdammten einzelnen Tag, war mein Leben doch gerade wieder so schön. Ich habe alles, was man braucht, um glücklich zu sein. Ich bin glücklich.
Was willst Du hier?
Dann siehst Du mich, kommst auf mich zu. Lächelst. Wir haben sie sofort wieder, unsere solide, vertraute Basis. Es fühlt sich so normal an, Dich zu umarmen. Neben Dir zu stehen und Deine Blicke zu spüren. Wir flachsen, machen Scherze, lachen laut. Du berührst meinen Arm, um Deine Hand sofort zurückzuziehen. Bloß keine Grenzen überschreiten – Du hast ja mich verlassen.
Dann beginnt der Hauptact. Marie kommt, fasst mich wieder an der Hand.
„Komm.“
„Okay.“
Zur Dir sage ich: „Bis später“ und verschwinde mit Marie in der Menge.
Das Konzert ist großartig. Aber ich kann mich nicht darauf konzentrieren. Ich denke an Dich – und an den anderen. Den Architekten, den ich vor 3 Monaten kennen gelernt habe. Mit ihm bin ich später noch verabredet. Wie gut, alleine nach Hause zu gehen wäre mir heute nichts. Zu traurig.
Dann ist das Konzert vorbei. Kurze Zugabe. Wirklich vorbei. Die Garderobe ist jetzt der Hauptattraktionsort. Klar, Sonntagabend, da wird nichts ausgedehnt. Lieber Tatort nachstreamen und dann früh schlafen.
Die anderen reihen sich in die Schlange für ihre Jacken ein. Ich gebe die leeren Flaschen an der Bar zurück. Da laufe ich Dir wieder in die Arme. Du bleibst stehen. Ich auch. Da stehen wir und sehen uns an. Du und ich. Ich und du. Wir beginnen wieder, uns zu unterhalten. Reden über Alltägliches und Vergangenes. Über Pläne und Missgeschicke. Über Deinen Hauswart und meine Kakteensammlung. Dazwischen fallen Sätze mit wenig Inhalt, aber viel Gelächter.
Der Club leert sich. Das tiefrote Licht wird heller. Unsre Freunde sind auch noch da – aber sie lassen uns in Ruhe. Ich finde das gut. Du wahrscheinlich auch. So können wir weiter reden, lachen und uns hin und wieder einen Ticken zu lange ansehen. Dann sagst Du: „ Komm, ich fahre dich noch nach Hause, liegt doch auf dem Weg.“ Nein, denke ich, denn ich muss in die komplett entgegengesetzte Richtung – zu meiner Verabredung, und sage: „Ja, sehr gerne.“
Wir sitzen in Deinem Auto. Weiße Limousine. Mein Telefon habe ich ausgeschaltet. Es hat nicht mehr aufgehört zu klingeln. Aber ich will vor Dir nicht mit ihm sprechen. Er ist so unwichtig geworden, warum noch mal wollte ich ihn besser kennen lernen? Wir sind zu viert im Auto. Dein bester Freund und seine Freundin fahren auch mit. Selbstverständlich darf ich vorne sitzen. Du startest den Motor, ein vertrautes, tief glucksendes Geräusch. Die Scheibe beschlägt, die Lüftung funktioniert erst ab der vierten Stufe. Alles wie immer.
Du siehst mich hin und wieder von der Seite an. Dein bester Freund erzählt irgendetwas von einem neuen Running Gag. Ihr werdet davon inflationär Gebrauch machen – ich nicht. „Ich gehöre nicht mehr dazu“, sage ich mir und sauge diesen Moment in mir auf, als sei ich noch immer Teil des Ganzen.
Als würde man in Berlin nicht schon genug Zeit darauf verschwenden, von A nach B zu gelangen, lasse ich mich von Dir in den absolut falschen Teil der Stadt bringen. Du setzt mich vor meiner Haustür ab. Ich gehe hinein, um Dich glauben zu lassen, dass mein Abend hier endet. Allein.
Dann drehe ich um und fahre zu ihm. Wieder vierzig Minuten. Diesmal mit der Bahn. Vor seinem Haus frage ich mich: „Was tue ich hier eigentlich?“ Aber die letzte Bahn ist bereits weg. Ich habe keine Wahl. Also versuche ich mich ganz pragmatisch doch noch für meine Hals-über-Kopf-Entscheidung zu begeistern. Keine Chance.
Ich liege neben einem fremden Mann, der mich plötzlich nicht mehr interessiert, und denke an Dich. Immer wieder nur an Dich. An Deine kastanienfarbenen Augen, die Art, wie Du Dir beim Sprechen hin und wieder kurz an das dreieckige, tiefschwarze Bärtchen unter Deiner Unterlippe fasst, wie Du mich manchmal ansiehst, durch einen Raum hinweg und dann lächelst, bevor du zu Boden blickst.
In der Dämmerung fahre ich zurück nach Hause. Ich bin unendlich müde. Und leer.
Aus der Bahn eine Nachricht an Marie.
„Alles ist gut.“
„Wirklich?“
„Ja!“
Das stimmt nicht. Aber ich will mir meinen Rückfall nicht eingestehen. Ich fühle mich wie ein Alkoholiker nach einer Packung Mon Chéri. Ich fühle mich schuldig.
Den Architekten sehe ich nicht wieder. Und ich warte auch nicht darauf, dass Du Dich meldest. Denn ich weiß, Du wirst es nicht.
Headerfoto: Toa Heftiba via Unsplash.com. (Gedankenspiel-Button hinzugefügt.) Danke dafür.
Oh, so wundertoll! Aber: so muss es wohl manchmal einfach sein. Das Gesetz will es so!
Liebe Lila,
Danke für diesen wunderschönen Text. Ich hab die ganze Zeit gehofft, dass etwas passiert, nette Worte, ein Kuss. Aber das ist nicht passiert und das ist wohl gut so, denn das Leben geht weiter. Wenn nicht der Architekt, dann jemand anders. Diese Einsicht tut auch mir gut 🙂
Grandios ehrlich!!!
Irgendwie ziemlich souverän. Eine tolle Botschaft mit viel Stil. Vielleicht braucht genau dies 459 Tage… ein wenig vorbildhaft: verarbeiten, nachdenken, ehrlich sein. zu sich! und die Trauer überstehen. nicht unbedingt schon jetzt…
Das Wiedersehen gehört ja nun doch zu den spannensten und womöglich zugleich übelst nachhaltigsten Momenten. ich bin mir sicher: für beide.
Ich habe noch nie einen Kommentar unter Blogeinträge gesetzt, weder hier noch woanders. Aber der Text hat so wahnsinnig gut widergespiegelt, wie es in mir aussieht, dass ich ab dem vierten Absatz meinen Tränen kullerten und nicht mehr aufhörten. Danke, dass Du es so schön in Worte gepackt hast.
Dieser Text hat mich so wahnsinnig berührt..meine achtjährige Beziehung ist vor einigen Tagen gescheitert und ich fühle gerade genauso..kenne das Gefühl des plötzlichen Alleinseins, besonders Abends, an jedem Sonntagabend.. ich wünsche mir ein Wiedersehen..irgendwann..wenn ein wenig Zeit vergangen ist..obwohl ich es war, die unsere Beziehung als gescheitert erklärt hatte..ob es mir dann auch so ergehen wird?!
„..und so bleiben Erinnerungen und der in Angst getränkte Wunsch, ihn irgendwo mal zufällig wiederzusehen..“
(R)
Der arme Architekt. Ich fühle mit ihm. Er mochte dich…
Vielleicht weil ich selber dieser Architekt immer und immer wieder bin. Es fällt mir so schwer, mich in die Situation hineinzuversetzen, dass eine kleine Begegnung mit dem/ der Ex so viel in einem auslöst, dass man fähig ist, einen anderen Menschen komplett auszublenden und sogar stehen zu lassen.
Wie lange muss man warten, bis man die ehrlich gemeinte, aufrichtige Chance erhält, nicht mehr plötzlich sitzen gelassen zu werden…
Aber an sich ist es nachvollziehbar, wenn auch für mich nicht verständlich.
Wenn es die ganz große Anziehung und Zuneigung ist, bist du sicher nicht der Architekt, der stummgeschalten wird, sondern der Kerl in schwarz für den sie alles vergisst. Das passiert einfach nur sehr viel seltener, dass man jemanden trifft mit dem man sich so gut versteht…
Ich mag deinen Text.
Erinnert mich so sehr an mich selber.
Ich wünsche mir nur doch, dass das Ganze anders ausgeht.
Das Leben lehrt uns, egal wie hoch der Scherbenhaufen, wie groß das Tränenmeer: Es geht weiter. Das ist die traurigste und brutalste Wahrheit. Brutal auch, weil sie diese große Liebe unbedeutend erscheinen lässt.
Da steht man da und fragt sich, wieso musste es mich so hart treffen? Vielleicht wünscht man sich, eine fremde Kraft würde das eigene Leben beenden, aber es passiert nicht. Das Leben ist eben auch sadistisch. Als ergötze es sich an unserem Leid…
Seit diesem Tag hadere ich mit Walt Disney. Hat er uns nicht gezeigt, man solle für jede Liebe kämpfen und am Schluss bekommt selbst das Biest die Schöne? Laut meinen Freunden ist sie es nicht wert, dass ich kämpfe.
Und so, bleiben Erinnerungen und der in Angst getränkte Wunsch, sie irgendwo mal zufällig wiederzusehen. Vielleicht an einem Sonntag, vielleicht auch nicht – egal.