Das ist sie. Ohne jeden Zweifel. Ich erkenne sie an ihren Augen. 20 Jahre ist es her, seit wir uns zum letzten Mal gesehen haben. Es muss der Abi-Ball gewesen sein. Ich weiß genau, dass das auf meinem Monitor die Augen von Conni sind. Ich war damals sehr in sie verliebt. Wie so viele. Mehr als eine Hand voll Kurzdialoge im Bio-Kurs, wo ich neben ihr saß, sind dabei nicht rumgekommen. Alle Typen waren neidisch auf ihren kolportierten Freund, eine Art männliche Mrs. Columbo, natürlich ein paar Jahre älter. Keiner hatte ihn je gesehen. Conni spielte die Hauptrolle in zahllosen feuchten Träumen unfertiger junger Männer. Wie sehr habe ich mir gewünscht, dass sie meine erste Freundin wird. Nach Jahren einer sexuell dürren Jugend schien es mir immer folgerichtig, irgendwann den großen Treffer zu landen, mit ihr Hand in Hand über den Hof zu schlendern und das Knutschverbot auf dem Schulgelände kühn zu ignorieren. Ich hatte immer an Gerechtigkeit geglaubt, aber ich blieb am Ende des Tages immer nur einer ihrer vielen notgeilen Mitschüler, noch dazu mit Kassengestell und zwei bis drei Jahre jünger aussehend. Ich glaube, sie mochte mich dennoch ein bisschen und einmal konnte ich ihr sogar aus der Patsche helfen, als die Lehrerin sie unaufgefordert dran nahm und ich ihr die richtige Antwort zuraunte. Dafür strich sie mir unter dem Tisch flüchtig über meinen Oberschenkel. Das zweite und letzte Highlight kam nur ein paar Wochen später, als ich mich im Unterricht ohne Hintergedanken zu ihr rüber beugte, um dem Typ neben ihr meinen Locher zu leihen. Unsere Gesichter hatten nur noch wenige Zentimeter Abstand und dann war es auch schon wieder vorbei. „Du riechst gut“, sagte sie zu mir. An diesem Tag bekam ich eine 5- in der PW-Klausur zurück (Thema verfehlt), aber ich schwebte dennoch auf einer großen rosa Wattewolke nach Hause. Ich roch also gut. Das war wirklich ein Geschenk. Gereicht hat es nicht. Man war aber genügsam in dieser Zeit. Es reichte mir die Gewissheit, ihre Sinne nicht verfehlt zu haben, wenn auch nur für einen kurzen Moment. Das war das viel entscheidendere Thema als die Weimarer Republik, an der ich so vorbeigeschreiben habe. Conni war meine heimliche Göttin und ich montierte ihr Foto aus dem Jahrbuch wahlweise auf Miss September, Miss Oktober und Miss November 1993, wobei letztere in meiner Vorstellung das stimmigste Bild ergab. Was hätte ich darum gegeben, meinen Teenager-Körper an ihren zu montieren? Vermutlich meine Seele, wenn der Teufel sie dafür hätte haben wollen.
Ein fünftel Jahrhundert später kann ich mit Conni schlafen. Vielleicht war es doch ganz gut, meine Seele behalten zu haben. Wunder dauern eben etwas länger. Neben ihrem Profil steht in einer Art Liste mit Häkchen, was sie anbietet. Das, was damals lange in meinem frisch volljährigen und doch so verpeilten Kopf rumspukte, bekommt einen Namen und hört sich sehr technisch an: Verkehr mit Schutz, Französisch mit Aufnahme, Fußerotik, Dildospiele, Dirty Talk, intuitive Massagen, 69, Körperbesamung, Küsse (bei besonderer Harmonie), Rollenspiele, Escort (Hotel), Kamasutra-Stellungen und noch eine Reihe anderer Dinge, die wir Jungs munter auf sie drauf projizierten, als gäbe es kein Morgen. Conni war unser imaginäres Spind-Luder. Ich frage mich, woran es liegt, dass all das in unserer Fantasie irgendwie geiler war. Diese aufgeführten Porno-Skills hätten als typische Klotürverzierung getaugt, als Ausdruck pubertärer Lyrik und jugendlicher Romantik. Auf der Website des Clubs klingt es so nach Dienstleistung. Ist ja auch nichts anderes. Französisch mit Aufnahme? Bei uns hieß das damals „blasen“. Körperbesamung? Das war ein schönes Bild, klang aber eher wie ein Anklagepunkt. So wie Körperverletzung. Es hörte sich so an, als würde man drangekriegt wegen mutmaßlicher gefährlicher Körperbesamung in Tateinheit mit Analstimulation und Fußerotik im mittelschweren Fall.
Immerhin, Conni, die jetzt Amber heißt, wird als „charmante Dame von Welt“ deklariert, was nichts anderes als „jenseits der Dreißiger“ bedeutet. Sie ist telefonisch jederzeit buchbar. Ich werde einen Teufel tun, diese Zeitreise nicht anzutreten und mache einen Termin für Dienstagnachmittag aus. Höchst unwahrscheinlich, dass sie mich wiedererkennt. Mein Äußeres hat sich doch stark verändert, Brille weg, Haare weg. Zehn Kilo mehr. Und ich war nicht mal ausgewachsen mit 18. Ich hätte kein Zeugenschutzprogramm der Welt gebraucht, die Jahre haben mich extrem verändert. Außerdem hatte sie an jedem Finger zehn Verehrer und die Erinnerung an die Vorsageszene ist nur meinem fotografischen Gedächtnis geschuldet, einer geradezu autistischen Begabung. Ein Date mit Conni. Okay, ein bezahltes Date aber mit Sexgarantie. Ich kann es immer noch nicht fassen. Das Leben schlägt manchmal Kapriolen. Ich versuche, meine Erwartungen zu zügeln. Bisher kam alles meistens ziemlich anders, als ich es mir vorgestellt habe. Der Projektor hat sich allerdings schon ganz von alleine aufgebaut und schmeißt meine Diashow ‘91/‘92 an die Wand. Mein kleiner Neffe fragt mich immer, wie oft er noch schlafen muss, bis der Weihnachtsmann kommt, bis sein Freund bei ihm übernachten darf oder bis er Geburtstag hat. Sein kleiner Kopf rechnet in Nächten, die er noch schlafen muss. Bei mir sind es noch genau drei, bis ich Conni wiedersehe. Der Tag kommt mit der gleichen Zuverlässigkeit wie jeder andere in den letzten 20 Jahren. Ich werde verrückt vor Nervosität. Ich dusche vor dem Termin ausführlich und leg Fahrenheit auf. Eigentlich will ich in der anonymen Rolle bleiben, diesen Ball muss ich ihr trotzdem zuspielen. Ich roch schließlich gut. Damals wusste ich nicht, dass Christian Dior eine Waffe sein konnte. Heute setze ich sie bewusst ein.
Die Empfangsdame bestätigt meinen Termin mit Amber und weist mir einen Raum zu. Ich sitze im Sessel und warte auf Conni. Dann kommt sie rein.
„Hallo, ich bin Amber.“
„Nein, du bist Conni“, sage ich nicht. Stattdessen: „Hi“
Der erste Eindruck ist positiv. Etwas dünner als auf den Fotos. Sie wirkt in dem Nutten-Outfit nur irgendwie verkleidet. Ich sehe sie halt noch in den engen Witboy-Jeans und dem Angora-Pulli vor mir. Ich hätte mich als Fetischist ankündigen, ihre Maße erfragen, Retromode mitbringen und sie da reinschlüpfen lassen können. Das würde wohl unter das Modul Rollenspiele fallen und sie ist solche Individuen bestimmt gewohnt. Den Aufpreis und die damit verbundenen Auslagen kann ich mir heute leisten. Aber ich bin doch lieber ein sympathischer, gut riechender Freier als ein kranker Freak-Kunde.
„Wie lange willst du bleiben?“ Ihre Stimme hat sich nicht verändert. Ist immer noch dieselbe Conni. Als würde sie mich fragen, ob sie mal kurz meinen Tintenkiller haben könne.
„Äh, dreiviertel Stunde.“
„Irgendwelche Extras?“
„Ähm, Küssen?“
„Ist mit drin.“ Sie lächelt mich an. Ich hab den Sympathietest bestanden.
Tausend Bilder und Gedanken schießen mir durch den Kopf und hemmen meine Fähigkeit zur flüssigen Konversation. Auch aufgeregte und sprechgestörte Kunden sind sicher kein Novum für Conni und sie fordert mich auf, mich auszuziehen. Währenddessen breitet sie zwei große Handtücher auf dem Bett aus. In meiner Girlfriend-Fantasie wurde sich immer gegenseitig ausgezogen, aber nichts liegt mir ferner, als ihr Anweisungen zu geben. Ich packe meine Sachen auf den Stuhl in der Ecke und lege mich neben sie. Wir liegen seitlich auf zwei Handtüchern, das könnte auch eine klassische Anbahnungssituation am Pool sein. Und als sie tatsächlich ihre Hand über meinen Schenkel gleiten lässt, komme ich augenblicklich auf Touren. Dann wird Conni zu Amber und flüstert mir ins Ohr: „Na du geiler Hengst…“.
Ich trau mich nicht zu fragen, ob wir die Vorsageszene von früher noch mal nachstellen können. Sie hat ja keine Ahnung, dass sie nur sich selber spielen soll. Dann küsse ich sie und berühre sie leicht, wovon ich früher so geträumt habe. Ich mag ihre Haut, sie ist weich und samtig. Ihre Körperzellen wurden schon dreimal komplett ausgetauscht, das haben wir gemeinsam im Bio-Kurs gelernt, aber die 40-jährige Conni gefällt mir nicht weniger als die 18-jährige. Wir schauen uns in die Augen und ich bin mir nicht sicher, wie viel Amber und wie viel Conni ich darin sehe. Sie spürt, dass ich mehr der Zärtliche als der Rohrverleger bin und lässt mich gewähren. Wir streicheln uns und ich kann nicht anders, als ihr immer in die Augen zu schauen. Ich hab mir das damals immer so romantisch vorgestellt, dass man sich erst mal richtig kennenlernt und von Mal zu Mal einen Schritt weitergeht. Der krasse Gegenentwurf zum handelsüblichen Bordellbesuch. Wir quatschen und berühren uns sittlicher als es der Rahmen vermuten lässt, aber doch unsittlicher als damals unterm Tisch. Sie fragt zum Glück nicht, ob ich mal zu Potte komme. Streicheln, küssen, reden. Die Zeit ist fast um.
„War schön mit dir, ich glaub, ich muss jetzt los.“
Ich find es doch spannender, mir auch die nächsten 20 Jahre nur vorzustellen, wie es denn gewesen wäre, mit Conni zu schlafen. Als sie mich am Ende umarmt, flüstert sie mir drei Worte ins Ohr. Ich schwebe, zwar geladen, aber doch irgendwie voller Leichtigkeit, auf einer großen Wattewolke nach Hause. An meinen glänzenden Augen ändert sich auch nichts, als ich auf der Schildhornstraße in der 30er-Zone einmal mehr geblitzt werde.
Headerfoto: Les Anderson via Unsplash.com. („Gedankenspiel-Button“ hinzugefügt.) Danke dafür.
bewundernswert mutig von dieser conny, daß sie dem abdruck des photos zugestimmt hat und somit alle aus ihrer schule nun wissen können, was sie macht. sie hat doch, oder?
Hach Mensch, da fragt man sich, was wohl die drei ins Ohr geflüsterten Worte waren..? „Komm bald wieder“? „Hab dich erkannt“?