Szenenwechsel

Ich habe das erste Mal seit langem wieder richtige Freude empfunden. Wir haben ausgelassen getanzt und uns nicht darum geschert, was andere denken/fühlen/glauben. Ich fühlte mich wie in einem Traum, der am nächsten Tag nur noch verschwommen im Gedächtnis schwebt. Doch dann kam es noch besser, ich war Teil eines Kitschfilms geworden. Ohne vorgewarnt worden zu sein, fiel ich in eine große Pfütze auf dem Asphalt. Sie war so tief, wie nur ein Ozean es sein kann. Ich war nun eingetaucht in den Film, den ich schon so lang zu sehen wünschte. „Normalerweise würde ich Dich nicht anmachen, aber Du bist so süß und wundervoll auf Deine Art.“ Ich falle nicht schnell auf einen solchen Kitschkram rein. Ich bin skeptisch auf meine Art und kann dem keinen Glauben schenken. Erzähl mir keine Geschichten, es sei denn sie handeln von freundlichen Zwergen, die Zuckerwatte in einem Zuckerwattenbergwerk abbauen. Nun sind wir allein und die Menschen um uns herum sind Statisten, die beliebig besetzt wurden. Dort sind sich küssende Pärchen oder Barkeeper, die Getränke ausschenken. Das ist alles inszeniert. Nichts ist echt.

Szenenwechsel.

Wir sitzen auf der Treppe eines Hauseingangs, Du legst deinen Kopf auf meine beiden Knie. Ich weiß mit der Situation nicht umzugehen und schaue lieber weg. Du erzählst mir schöne Dinge über das Lächeln der Menschen. Ich höre Dir gern zu, vergesse nichts. Und Du willst mich küssen, aber ich bin gebunden. Es wäre nicht richtig, nicht fair. Meine Gedanken schweifen um Berlin, ich weiß, dass dort jemand auf mich wartet. Aber mich bindet nichts dort, ich bin dort nicht glücklich. „Ich ziehe wahrscheinlich bald wieder um“, sage ich zu Dir. Adieu, Berlin. Du schaust meine Hände an, alles im Detail. Als würdest Du bald ein Bild davon zeichnen wollen. Berührst meine Füße, als hättest Du die Form schon gekannt. Wir gehen die Straßen entlang, auch wenn die Füße schmerzen, nehme ich das nur entfernt wahr. Eben wie unter Wasser.
Am Hafen rattern die Motoren der schweren Dampfer und die Möwen kreischen in einem regelmäßigen Takt. Ein paar Statisten laufen hin und wieder durch das Bild. Eine schöne Kulisse wurde da gewählt! Ich laufe nun barfuß über den feuchten Betonboden, setze mich auf die Treppe und lausche. Du liegst vor der Treppe und schaust mich an. Du schaust mich schon den ganzen Abend an. Ich glaube, es hat mich noch nie jemand so lang angeschaut. Keine Anekdoten aus dem Leben, nur Gedanken. „Du siehst traurig aus.“  Und ich bin es. Traurig, dass ich mich viel zu lang versteckt habe, vor der Welt und ihren Überraschungen. Ich habe es mir lieber vorgestellt, weil ich dachte, in der Wirklichkeit passieren solche Dinge nicht. Habe französische Filme gesehen, die Wunderbares geschehen ließen, meine Fantasie beflügelt haben. Dabei habe ich einiges verlernt. Verlernt, glücklich zu sein. Du möchtest mir näher kommen, mich umarmen, die Zeit, die wir haben, auskosten. Ich bin gehemmt, geradezu steif. Das schlechte Gewissen kommt immer wieder und verbietet mir, mich fallen zu lassen. Ich bin wie ein Strohhalm, den man ins Wasser steckt und der dann monoton hin und her wippt. Versuche mal einen Strohhalm zu umarmen! Ich halte Dir die Augen zu, damit Du mich nicht mehr anschauen kannst. Ich will nicht, dass Du in meinen Augen lesen kannst, denn sie verraten zu viel. „Du bist ein schönes, trauriges Ding.“ Ich habe mich mittlerweile neben Dich gesetzt. Du erzählst mir von deinen Gedanken und Zielen. Wie Du da so liegst. Wie einer, mit dem man durchbrennt, Lollys klaut oder zum Ponyreiten geht. Es wird langsam hell, bald beginnt der Fischmarkt. Die Zeit wird knapp, ich weiß, dass ich gehen muss.

Wir gehen zur Bahn, doch der Weg ist lang. Du ziehst mich immer wieder zu Dir, unsere Lippen sind nie weit voneinander entfernt, aber ich ziehe den Kopf dann wie standardisiert weg. Ich würde gern geküsst werden, aber es wäre falsch. Wir tänzeln die Straße hoch: herangezogen, fast geküsst, weggedreht. Und das in einer Dauerschleife. Als würde man jemanden immer wieder anrufen, das Freizeichen abwarten und dann doch nur beim Anrufbeantworter landen. Es muss ernüchternd für Dich gewesen sein. Du nimmst trotzdem meine Hand, schaust mich weiter an, gibst nicht auf. Das hat mir imponiert.
Wir kommen am Bahnhof an und wissen, dass bald alles vorbei ist. Wir umarmen uns lang, Du ziehst mich zu Dir, ich halte meine Fahrkarte vor die Lippen und Du gibst mir einen Kuss darauf. „Weißt du, was mich stört? Ich habe das Gefühl, Dich küssen zu können, aber nicht die richtige Formel zu haben.“ Wie steht’s im Drehbuch? Jeder sollte eine Souffleuse haben, die einem in schwierigen Situationen die richtigen Worte zuflüstert. Ich könnte Dir sagen, dass ich gebunden bin. Aber was würdest Du denken? Dass mir der Abend nichts bedeutet hat oder dass ich Dich ausgenutzt habe. Und wenn ich Dir das Gegenteil erklären würde, müsste ich Dir von meiner schwierigen Beziehung erzählen. Der Abend wäre nur halb so schön gewesen. Ich wollte den Moment erleben, im Moment leben.

Wir sitzen nun im Zug, Du sitzt mir gegenüber, schaust mich an. Du berührst mich die ganze Zeit. Ich erzähle Dir wirres Zeug. Ich bin so müde. Dann plötzlich sind wir an meiner Haltestelle, es ist nicht mehr viel Zeit. Ich gebe Dir einen Kuss auf die Wange und sage danke. Du hältst meine Hand fest und hast nicht vor, sie loszulassen. Bevor ich aus der Tür gehe, trennen sich unsere Hände. Wieso geschieht alles in Zeitlupe?

Ich sitze im nächsten Zug. Es ist hell. Ich kann nicht klar denken, bin schrecklich müde. Ich versuche mir einzureden, dass alles richtig war. Es war alles perfekt. Ich habe diesen Moment für mich mitgenommen und kann immer daran denken, wenn mir danach ist. Und trotzdem habe ich niemanden verletzt.

Heute sitze ich am Frühstückstisch und denke an den Film von gestern. Wieso hat sie ihm nicht ihren ganzen Namen gegeben oder nach seinem gefragt? Wieso hat sie nichts unternommen? Ich saß vor dem Fernseher und habe mich wirklich gefragt, warum sie ihrem Glück selbst so im Weg steht. Es war doch offensichtlich, dass er sie nicht gehen lassen wollte. Also ich wäre nicht so dumm. Dann nehme ich meinen Kaffee, setze mich auf die Terrasse und lasse die Endorphine in meinem Körper zu. Ich spüre das pure Glück, will Dich finden, Vergangenes hinter mir lassen. Und die Chance bekommen, Dir einen genauso schöne Zeit zu bereiten, wie Du sie mir geschenkt hast.

Ich habe Dich nicht wieder gesehen. Aber manchmal träume ich noch von Dir.

Dann sehe ich Bilder. Wundersame Bilder. Samt wunde Bilder!

Nora hat ziemlich viel Zuckerwatte im Kopf, die manchmal entsorgt oder neu zubereitet werden muss. Daher schreibt sie viel und gern. Sie ist Studentin und wird einmal eine adrett gekleidete Redakteurin bei arte, zumindest lernt sie gerade Französisch. Im Grunde möchte sie ihr Leben so gestalten, wie es auch im Drehbuch eines französischen Films stehen würde. Über vegane Köstlichkeiten, Sportskanonen sowie tanzenden Riesenzwergen berichtet Nora auf ihrem Blog und bei YouTube.

Headerfoto: Stacey Rozells via Unsplash.com. („Gedankenspiel-Button“ hinzugefügt.) Danke dafür.

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