Über Toxische Männlichkeit und das Aufbrechen männlicher Monokulturen | Ein Gespräch mit Christoph May vom Institut für Kritische Männerforschung

Christoph May – selbst in einer toxisch-männlichen Umgebung sozialisiert – hat sich den Feminismus zum Beruf gemacht. Was männliche Monokulturen sind, wie diese aufgebrochen werden können und was er sich in Zukunft von den Männern wünscht, hat er unserer Autorin Amelie Fischer im Interview verraten.

Schon immer empfinde ich ein Unbehagen, wenn ich mich in Räumen bewege, in denen sich (fast) nur Männer aufhalten. Ich konnte lange nicht ergründen, woran es liegt, dass ich mich in diesen Umgebungen nicht nur unsicher, sondern auch uninspiriert fühle. Ausgerechnet ein Mann liefert mir eine erste Erklärung für dieses Unbehagen.

Toxisch-männliche Umgebungen können keine Diversität hervorbringen.

„Toxisch-männliche Umgebungen können keine Diversität hervorbringen. Alles, was sie produzieren, ist einseitig und monoton – wir sprechen dabei von männlichen Monokulturen“, fasst Christoph May in Worte, wofür ich lange keine hatte. Christoph ist Männerforscher, Literaturwissenschaftler und Mitbegründer des Instituts für Kritische Männerforschung. Mit ihm spreche ich über seine Männlichkeit, die Wichtigkeit von FLINTA*-Perspektiven für kritische Männlichkeitsdiskurse und seine eigene Rolle in feministischen Kämpfen.

Toxische Männlichkeit

Christoph May ist ein großer Mann, ganze 1,95m groß. Er trägt eine schwarze Cap und füllt mit seiner Präsenz fast den ganzen Bildschirm aus. Dabei empfinde ich ihn aber nicht als vereinnahmend, wie ich Männer in feministischen Diskursen oft wahrnehme. Im Gegenteil: Mir fällt es sofort leicht, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Ich frage Christoph nach seinem Verhältnis zu Männlichkeit.

Ich war ein toxischer Mann, in jeder Hinsicht wahrscheinlich.

„Ich war ein toxischer Mann, in jeder Hinsicht wahrscheinlich. Toxisch insofern, dass ich in einer männlich dominierten Umgebung aufgewachsen bin und das einfach 30 Jahre lang nicht gemerkt habe.“ Toxische Männlichkeit meint dabei nicht das individuelle Verhalten eines Mannes, sondern bezeichnet die männlich dominierte Umgebung im Patriarchat, in der viele Männer aufwachsen und die sie in ihren Verhaltensweisen und in ihren Beziehungen zu anderen Menschen reproduzieren. Um diese strukturelle Ebene zu verdeutlichen, wird in akademischen Räumen auch von „hegemonialer Männlichkeit“ gesprochen.

Ich kann diesen großen Männerkörper mit 1,95m gar nicht so richtig ausfüllen. Ich bin hochsensibel, ich bin schüchtern, ich bin alles andere als das männliche Standardklischee, was mein Körper so zum Ausdruck bringt.

Unter seiner toxisch-männlichen Sozialisierung hat Christoph lange gelitten, Mobbingerfahrungen zur Schulzeit und seine eigene Gewaltbiografie erzählen davon. „Diese hypermaskulinen Kreise haben mich überfordert, ich habe mich immer lieber in weiblichen Umgebungen aufgehalten.“ Eine entscheidende Rolle spielt dabei auch, wie Christoph als normschöner Mann wahrgenommen wird und welche gesellschaftlichen Erwartungen damit einhergehen.

„Ich kann diesen großen Männerkörper gar nicht so richtig ausfüllen. Ich hab Jahrzehnte gebraucht, um zu verstehen, dass das Problem ist, dass ich groß bin und maskulin aussehe, und ich hab das nie ausfüllen können. Ich bin hochsensibel, ich bin schüchtern, ich bin alles andere als das männliche Standardklischee, was mein Körper so zum Ausdruck bringt.“

Männliche Monokulturen

Für Christoph war es ein jahrelanger Prozess, herauszufinden, warum er, genau wie ich, ein Unbehagen verspürt, wenn er in reinen Männergruppen unterwegs ist. Heute ist für ihn klar: Männliche Monokulturen sind eine Form kultureller Armut. Sie sind Gewaltkulturen, Blockadekulturen, Schweigekulturen. „Ich dachte lange, da muss es doch noch mehr geben im Leben. Die Auseinandersetzung mit Feminismus und FLINTA*-Perspektiven war da natürlich die Offenbarung für mich.“ Dass er jetzt noch die Chance hat, diese Perspektiven einige Jahrzehnte lang erleben zu dürfen, empfinde er als großes Privileg und Glück.

Das Beste, was ich tun kann, ist, mich mit weiblichen Perspektiven und FLINTA*-Perspektiven auseinanderzusetzen und deren Lebensrealitäten kennenzulernen.

Heute versucht Christoph, gegen männliche Monokulturen zu arbeiten, indem er alles toxisch Männliche meidet und in feministischen Diskursen besonders von FLINTA*-Personen lernt. „Männer haben zum feministischen Diskurs doch überhaupt nichts beizutragen, die nehmen seit 120 Jahren nicht daran teil. Das Beste, was ich tun kann, ist, mich mit weiblichen Perspektiven und FLINTA*-Perspektiven auseinanderzusetzen und deren Lebensrealitäten kennenzulernen.“ Was er dabei von ihnen erfahre, sei erschütternd, weshalb er es heute als seine Aufgabe sieht, toxische Männlichkeit vor allem mit Männern zu verhandeln.

Hinter jedem Mann …

Die französische Schriftstellerin Pauline Harmange schreibt in ihrem Buch mit dem provokanten Titel „Ich hasse Männer“: „Ich stelle fest, dass hinter jedem Mann, der sein männliches Privileg zumindest ansatzweise reflektiert, mehrere Frauen stehen, die ihm in harter Arbeit die Augen geöffnet haben – das gesteht übrigens kaum einer ein.“

Hinter jedem Mann, der sein männliches Privileg zumindest ansatzweise reflektiert, stehen mehrere Frauen, die ihm in harter Arbeit die Augen geöffnet haben. – Pauline Harmange

Christoph May ist es wichtig, immer wieder zu betonen, dass er sein Erkennen und Reflektieren in großen Teilen der Arbeit unzähliger FLINTA*-Personen vor ihm zu verdanken hat. Vor allem durch seine Partnerin, die Schriftstellerin Stephanie May, habe er zahlreiche nicht-männliche Perspektiven kennenlernen dürfen und dabei sei ihm klar geworden, was er jahrzehntelang verpasst habe. Und nicht nur das: Seine Auseinandersetzung mit feministischen Inhalten hat auch zu einer Reflexion über toxisch-männliche Verhaltensmuster und die ungleiche Verteilung emotionaler Arbeit in seiner eigenen Beziehung geführt.

Ich habe es jahrelang Stephanie überlassen, mir zu zeigen, wie ich eine emotional ausdifferenzierte Gefühlssprache entwickeln kann. Das wäre eigentlich nicht ihre Aufgabe gewesen.

Dies sei ein langer Prozess gewesen, der viele Gespräche erforderte: „Ich habe gemerkt, dass ich es jahrelang Stephanie überlassen habe, mir zu zeigen, wie ich eine emotional ausdifferenzierte Gefühlssprache entwickeln kann. Das wäre eigentlich natürlich nicht ihre Aufgabe gewesen. Das war auf jeden Fall ein toxisches Verhalten.“ Er sei seiner Partnerin sehr dankbar für alles, was sie ihm gezeigt habe und woran sie ihn teilhaben lasse. „Ich habe dieses große Privileg, mit ihr sprechen zu dürfen, jeden Tag. Etwas Besseres kann einem eigentlich gar nicht passieren, dass man Leute findet, mit denen man das gemeinsam leben kann.“

Ich habe dieses große Privileg, mit ihr sprechen zu dürfen, jeden Tag. Etwas Besseres kann einem eigentlich gar nicht passieren.

Wie Christoph über Stephanie spricht, zeugt von großer Wertschätzung. Er nimmt das, was er von ihr bis heute lernen darf, nicht für selbstverständlich und gibt ihr im Verlauf unseres Gesprächs an vielen Stellen „die Credits“ für sein Wissen und seine heutigen Werte. Stephanie und Christoph verhandeln Männlichkeit nämlich längst nicht mehr nur auf privater Beziehungsebene – seit einigen Jahren tun sie dies auch beruflich.

Das Institut für Kritische Männerforschung

2016 haben die beiden gemeinsam das Institut für Kritische Männerforschung gegründet – und Christoph hat Männlichkeit endgültig zu seinem Lebensthema gemacht. Das Institut möchte „Feminismus an den Mann bringen“ und bietet Seminare und Vorträge über Männerbünde, Toxische Männlichkeit, Männerbilder und natürlich konstruktive Auseinandersetzungen mit Männlichkeit. Die Interessierten? Von politischen Parteien über Vätergruppen und der katholischen Kirche bis hin zu Fußball-Ultras ist alles mit dabei. Gemeinsam haben sie wohl vor allem eines: den Wunsch, männlich dominierte Räume aufzubrechen und diverser zu gestalten. Und die Neugier auf Christoph May …

Ich glaube, die Leute wollen vor allem mal sehen, wie ein männlicher Feminist aussieht.

„Ich glaube, die Leute wollen vor allem mal sehen, wie ein männlicher Feminist aussieht. Allein deswegen werden wir schon oft angefragt. Die wollen sehen, wie ein Mann mit Männern kritisch über Männlichkeit spricht, wie das gelingen kann.“ Christoph sieht seine Aufgabe darin, „zu zeigen, wie man so etwas moderiert, ohne dass Männer sofort aus dem Raum rennen“.

Christoph ist dabei eines wichtig: „Ich bin Wissenschaftler. Ich bin kein Männercoach, ich bin kein Psychologe, ich bin kein Sozialpädagoge. Ich mache immer ganz schnell klar: Ich will, dass wir hier auf einer wissenschaftlichen Ebene verhandeln.“ Lieber als über Gefühle und persönliche Befindlichkeiten spreche er mit Männern über strukturelle Ungleichheiten, denn Emotionsdiskurse können schnell zu Abwehrstrategien werden.

Wenn es mir gelingt, mich mit Männern über Männlichkeit kaputtzulachen, dann habe ich das Gefühl, es passiert etwas im Raum.

Seine Methode? Am besten funktioniere Humor. „Wenn es mir gelingt, mich mit Männern über Männlichkeit kaputtzulachen, dann habe ich das Gefühl, es passiert etwas im Raum.“ Christoph ist damit durchaus erfolgreich. Doch auch er kann nur dort aufbauen, wo bereits eine gewisse Bereitschaft vorhanden ist. „Es kann nicht unsere Aufgabe sein, Männer zu überzeugen. Wenn die nicht wollen – keine Chance. Es muss eine Grundbereitschaft geben. Aber wenn du ihnen klar machst, was sie gewinnen können, dann kannst du gut mit ihnen reden.“

Macht abgeben, Perspektiven gewinnen

Und gewinnen können Männer durch den Feminismus eine ganze Menge: „Macht abzugeben ist kein Verlust – es kann nur ein Gewinn sein, anderen Leuten diese Macht zu schenken und sich zu freuen, dass man die endlich losgeworden ist und man anderen jetzt den Raum frei machen kann.“ Toxische Männlichkeitsbilder zu dekonstruieren, davon profitieren alle, findet Christoph. „Eure Beziehungen können so viel vielfältiger sein, wenn ihr nicht an diesem heteronormativen Denken festhaltet, alles wird toller, wenn ihr ein breiteres Verständnis von Sexualität habt.“

Macht abzugeben ist kein Verlust – es kann nur ein Gewinn sein.

Ein kritischer Mann sein, wie geht das denn jetzt? „Ich habe das Gefühl, dass die meisten Männer denken, das wäre super kompliziert und aufwendig, und da muss man erstmal Marx lesen und Judith Butler und große neue Männertheorien entwickeln. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass es gar nicht so schwierig ist.“ Sich zurücknehmen, dezentrieren, zuhören, lernen, das sind wichtige Schritte. Und: „Einfach mal nicht nur mit deinen Männern in die Kneipe gehen, immer darauf achten, nicht nur in männlichen Monokulturen unterwegs zu sein, immer mal kurz durchzählen, Männerbünde aufbrechen.“

Verbündeter statt Vorbild

„Es kann nicht die Aufgabe von FLINTA*-Personen sein, sich mit diesem ganzen Sumpf auseinanderzusetzen“, findet Christoph. Er sieht sich als Mann in der Verantwortung, die mühsamen Diskurse an ihrer Stelle zu führen. Ein männlicher Feminist sein und feministische Themen dabei nicht zu vereinnahmen, das ist ein schmaler Grat in Zeiten, in denen die Selbstbezeichnung „Feminist:in“ zum Mainstream geworden ist, da sind Christoph und ich uns einig.

Besonders, weil Christoph ernster genommen wird als seine FLINTA*-Kolleg:innen, weil er ein Mann ist, der über Männlichkeit spricht. „Das sollte nicht so sein, natürlich. Aber ich kann das nur machen, weil ich aus einer männlichen Perspektive heraus rede. FLINTA* haben viel krassere Konsequenzen zu befürchten, wenn die nur ansatzweise so eine Kritik an Männern üben.“

FLINTA* haben viel krassere Konsequenzen zu befürchten, wenn die nur ansatzweise so eine Kritik an Männern üben.

Christoph hat nicht nur weniger Konsequenzen zu befürchten, er bekommt auch mehr Aufmerksamkeit. Männer, die sich kritisch mit Männlichkeit auseinandersetzen, werden auch von FLINTA* oft besonders hervorgehoben und idealisiert. Mir bereitet das Unbehagen, vor allem, weil ich mich dabei ertappe, dies auch zu tun.

Christoph selbst ist das „super unangenehm“, denn eigentlich tue er das, was für alle Männer selbstverständlich sein sollte. „Ich will kein Vorbild sein, ich will einfach ein Verbündeter sein. Denn wir brauchen keine neuen Männervorbilder – das ist wirklich das Allerletzte, was wir brauchen -, sondern Frauen, trans* und nichtbinäre Menschen als Vorbilder. Das sind die Vorbilder, die Männer brauchen.“

Wir brauchen keine neuen Männervorbilder – das ist wirklich das Allerletzte, was wir brauchen.

Es gilt also für Männer, sich in der Balance aus Unterstützung und Zurückhaltung zu üben: Wir brauchen Männer, die sich offen als Feministen positionieren, ihre Männlichkeit kritisch reflektieren und auch mit anderen Männern in den Diskurs gehen. Doch ebendiese Männer dürfen feministische Diskurse nicht für sich vereinnahmen und sollten sich stets über den Raum bewusst sein, den sie darin einnehmen.

Christoph und seine Arbeit machen deutlich, dass es sich dabei um einen lebenslangen Prozess handelt, in dem immer wieder neu reflektiert und verhandelt werden muss. „Das ist eine Lebensaufgabe für Männer, das hat niemals ein Ende. Ich stehe da noch am Anfang, die meisten Männer stehen am Anfang, und da reicht es halt nicht, nur zu lesen, sondern das alles tatsächlich im konkreten Leben umzusetzen.“ An irgendeinem Punkt dieses Prozesses braucht es hoffentlich keine Anreize für Männer mehr, sich mit Männlichkeit und Feminismus zu beschäftigen, weil dies zum eigenen Selbstverständnis gehören wird.

Und bis dahin bin ich dankbar für alle Menschen, die unermüdlich dazu beitragen, dass dieses Selbstverständnis ein Stückchen realer wird.

Christoph May ist Männerforscher, Berater und Dozent. Er hat 2016 gemeinsam mit der Schriftstellerin Stephanie May das Institut für Kritische Männerforschung gegründet. Er hält Vorträge und gibt Workshops zu Toxischer Männlichkeit sowie Seminare über Männerbünde, Männerbilder und Kritische Männlichkeit. Parallel dazu füllt er auf Facebook einen News und Meme Feed zum Thema. Christoph May hat Literaturwissenschaften, Komparatistik und Alte Geschichte studiert.
Stephanie May ist Schriftstellerin und Co-Founderin des Instituts für Kritische Männerforschung. Sie hat an der Freien Universität Berlin europäische, indische und ostasiatische Kunstgeschichte sowie Geschichte und Prähistorische Archäologie studiert. Sie ist mitverantwortlich für Strategie, Planung und Beratung. Stephanie May leitet das Lektorat und ist für das inhaltliche wie ästhetische Mentoring der Vorträge, Seminare und Website zuständig.
Headerfoto:
Max Muselmann via Unsplash. (Kategorie-Button hinzugefügt.) Danke dafür!
Amelie Fischer (sie/ihr) sieht das Politische in den ganz großen und den ganz kleinen Dingen. Sie spricht und schreibt am liebsten über globale Ungerechtigkeiten, Machtstrukturen, intersektionalen Feminismus und die Liebe, immer die Liebe. Um ein wenig Leichtigkeit in den Weltschmerz zu bringen, den sie oft fühlt, liest sie für ihr Leben gerne Romance Novels. Aber nur zu Recherchezwecken, versteht sich! Denn auch die Liebe ist höchstpolitisch. Mehr von Amelie gibt es auf Instagram.

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