Von Übergriffen und Grenzüberschreitungen: Wie ich anderen durch meine Erfahrungen helfen möchte

Mir ist ganz schlecht und in mir bebt es. Es liegt nicht an der dritten Tasse Kaffee, die ich auf nüchternen Magen hatte. Es liegt nicht an mir. Es liegt an dir. Du hast Grenzen überschritten. Schon wieder. Mein „Ja“ aus einer vergangenen Zeit nutzt du bis heute, um die vielen „Neins“ zu überhören. Mein letztes Neinsagen war so laut wie nie zuvor. Ich habe dich aus meinem Leben geschmissen, trotz all der Jahre, die uns verbinden. Ich ertrage es nicht mehr. Ich lasse es nicht mehr zu.

Mein „Ja“ aus einer vergangenen Zeit nutzt du bis heute, um die vielen „Neins“ zu überhören.

Ich bin so wütend, am liebsten würde ich schreien. Ich bin so selten wütend, dass ich schier nicht weiß, wie ich mit diesem Gefühl umgehen soll. Ich weiß nur, es muss raus. Ich möchte in all jene Gesichter schreien, in der Hoffnung, das etwas ankommt. Bei den Gesichtern ohne Resonanz. Denn die, die ich auf den Boden der Tatsachen holen möchte, mein Innerstes entgegen schmettern möchte, die verstehen es nicht. 

Männer, die „Nein“ überhören

Sie verstehen nicht, dass es ausschließlich um sie geht. Sie verstehen nicht, dass es falsch ist. Ich habe erst vor Kurzem mit einem Arbeitskollegen darüber gesprochen, dass es ein fürchterlich trauriger Fakt ist, dass ich fast keine Frau kenne, die nicht mindestens irgendeine Art von Übergriff durch einen Mann erlebt hat.

Er übernahm damit eine Verantwortung für all jene Männer, denen es eben nicht leid tut. Die, die Neins überhören.

Er schaute mich sehr verdutzt an und erklärte mir gleich, dass es ihm leid tue. Diese Entschuldigung von ihm konnte ich nicht annehmen. Er übernahm damit eine Verantwortung für all jene Männer, denen es eben nicht leid tut. Die, die Neins überhören. Die ihr Handeln bagatellisieren, rechtfertigen, die Schuld verschieben. Die dafür sorgen, dass sich Frauen schlecht fühlen, richtig schlecht. Die manchmal bewusst, manchmal unbewusst dafür sorgen. Und dabei in beiden Fällen so sorglos sind, dass einem der Atem und das Herz stocken.

Was ich jungen Menschen beibringe

In meinen vielen Schichten als Sozialarbeiterin versuche ich, den jungen Menschen immer wieder ans Herz zu legen, wie wichtig es ist, dass sie nichts für jemand anderen tun müssen, was sie selbst nicht wollen. Dass niemand auf dieser Welt das Recht hat, ihre Grenzen zu überschreiten. Wie wichtig es aber auch ist, die Grenzen der/des anderen zu erkennen und zu akzeptieren. Dass sie selbst wichtig sind. Dass sie sich selbst akzeptieren. Ihre Körper. Ihre Sexualität entdecken und ausleben dürfen. Ins Gespräch zu gehen, wenn ihnen etwas auf der Seele brennt.

Ich versuche, jungen Menschen ans Herz zu legen, wie wichtig es ist, dass sie nichts für jemand anderen tun müssen, was sie selbst nicht wollen.

Dass es nicht reicht, Entschuldigungen zu hören oder auszusprechen, wenn ihnen Unrecht angetan wurde oder sie selbst falsch gehandelt haben. Dass sie sich Unterstützung holen und sich jemandem anvertrauen, wenn sie Erlebnisse oder Gefühle haben, die sie alleine nicht sortieren und verarbeiten können. Dass sie es vor allem nicht alleine schaffen müssen. Manchmal ertappe ich mich dabei, dass ich mich selbst als heuchlerisch empfinde. Weil ich zu spät erkannt habe, dass es nicht meine Schuld ist.

Übergriffige Situationen

Seitdem ich reflektiert denken kann, war ich Situationen ausgesetzt, die ein arg tiefes Unbehagen in mir ausgelöst haben. Ich wurde als kleines Mädchen auf Schöße gesetzt, auf denen ich nicht sitzen wollte. Mir wurde später nicht nur unter einen Rock gegriffen, mir wurde so oft an die Brüste gefasst, mir wurden Kommentare hinterher gerufen, es wurde gepfiffen. Auf der Straße, im Supermarkt, in der Bar, bei Tag und bei Nacht. Es wurden Neins nicht für bare Münze genommen oder klare Ansagen ignoriert. Mir wurden Affären unterstellt, mir wurden Gefühle angedichtet, die ich nicht empfunden habe. Man hat mir ungewollt  widerliche Dinge geschrieben. Mir wurde in intimen Situationen ungefragt und bewusst wehgetan. Ich habe Momente erlebt, in denen ich erstarrt bin, geschwiegen habe oder mich selbst nicht gespürt habe. Ich habe mich wehrlos gefühlt in einem Raum voller Menschen.

Ich habe Momente erlebt, in denen ich erstarrt bin, geschwiegen habe oder mich selbst nicht gespürt habe. Ich habe mich wehrlos gefühlt in einem Raum voller Menschen. 

Man hat mich nie um Erlaubnis gefragt. Diese Momente und Augenblicke kamen ohne Aufforderung oder Einverständnis. Sie bahnten sich nicht an, sie übermannten mich und überraschten. Mir wurden ungefragt die Mauern meines Inneren und meines Äußeren eingerissen.

Es sollte nicht meine Aufgabe sein, mich vor Übergriffen zu schützen

Ich hatte es lange Zeit als Lernaufgabe für mich gesehen, diese Mauern aufzubauen, um nicht wehrlos zu sein. Nicht ausgeliefert. Heute ärgert mich genau das. Kein Mensch hat das Recht dazu. Ich habe eine starke Resilienz entwickelt, um mit diesen Übergriffen umgehen zu können. Weil sie nicht zu stoppen waren, weil sie sich wiederholten. Es waren nur andere Orte, andere Menschen, andere Stellen meines Ichs. Mal Fremde, mal Bekannte.

Es sollte nicht meine Aufgabe sein, stark genug zu sein, um aushalten zu können. 

Es sollte nicht meine Aufgabe sein, stark genug zu sein, um aushalten zu können. Es sollte nicht meine Aufgabe sein, laut genug sein zu können. Es sollte nicht meine Aufgabe sein, permanent in der Lage zu sein, mich schützen zu können. Immer positiv sein zu können. Es sollte nicht meine Aufgabe sein, mich selbst zu hinterfragen, was ich hätte besser oder anders machen können. Es sollte nicht meine Aufgabe sein, diese Menschen verstehen zu wollen. Nicht meine Aufgabe, Erklärungen oder Entschuldigungen zu finden. Es geht nicht um mich, es geht um sie. Es sollte ihre Aufgabe sein zu lernen, kein mieses Arschloch zu sein.

Die Verantwortung liegt bei den Falschen 

Es wird nach wie vor nach Ursachen gesucht bei den Falschen. Es nehmen sich die Falschen Rechte heraus. Machen klein und reißen Mauern nieder. Es entschuldigen sich zu oft die Falschen, es hinterfragen sich zu oft die Unschuldigen. Ich kann noch so viel Aufklärung betreiben, noch so viel bestärken, noch so viel mitgeben, es wird sie immer geben, diese Seelen. Diese Begegnungen. Verschiebungen von richtig und falsch. Unterschiedliche Wertesysteme und Erziehungsmuster. Unterschiedliche Definitionen von Respekt. Bestrafungen, aber zu wenig Prävention.

Es wird nach wie vor nach Ursachen gesucht bei den Falschen. Es nehmen sich die Falschen Rechte heraus. Machen klein und reißen Mauern nieder.

Wenn ich an meine Jugendlichen denke, würde ich gerne abgrundtief ehrlich sein. Ihnen aufrichtig entgegentreten und erklären, dass es diese Menschen und Situationen immer gibt. Man leider immer mit sexualisierter Übergriffigkeit konfrontiert werden kann. Egal, was man anhat, wie man aussieht, welchem Geschlecht man sich zugehörig fühlt, wie alt man ist. Egal, wie viel man dafür getan hat, dass es einem nicht passiert. Egal, wie stark man ist. Dass Starksein keinen Schutz bedeutet. Dass es mir so oft widerfahren ist und ich es nicht verhindern konnte.

Was ich jungen Menschen lieber beibringen möchte

Es fühlt sich falsch an, diesen jungen Menschen beizubringen, dass sie lernen sollen, damit umgehen zu können, wenn ihre eigenen Grenzen verletzt wurden. Dass sie lauter „Nein“ sagen lernen. Auch wenn es so verdammt wichtig ist. Es sollte ihnen viel bewusster gemacht werden, dass die Verantwortlichen an sich arbeiten müssen, sie lernen sollten, zuzuhören, ohne dass man selbst schreien muss. Dass diese Welt keinen Raum für Übergriffige, sondern Schutz vor ihnen bieten sollte. Das würde sich richtiger anfühlen.

Es sollte ihnen viel bewusster gemacht werden, dass diese Welt keinen Raum für Übergriffige, sondern Schutz vor ihnen bieten sollte. 

Ich möchte ihnen erklären, dass ich mir wünsche, dass sie selbstbewusste und gestärkte Persönlichkeiten sind. Nicht, um mutig genug zu sein, um sexualisierte Übergriffe schildern und besprechen zu können, sondern ausschließlich, damit sie ihre Träume und Ziele verfolgen. Ich würde ihnen gerne erklären, dass ich mir wünschte, dass sie sich erst gar nicht zur Wehr setzen oder verteidigen müssten, um ihre Körper und Seelen zu schützen. Bei vielen von ihnen ist es schon zu spät. 

Das Verhindern von sexualisierten Übergriffen

Ich wünschte, ich hätte eine Methode, ein Patentrezept, einen Schutz, damit es nicht mehr darum geht, Erfahrungen dieser Art zu teilen, sondern sie zu verhindern. Denn jedes Erlebnis, jede ungewollte Berührung, jeder ungefragte Kommentar hat Spuren hinterlassen.

Ich wünschte, ich hätte bei mir selbst keinen Unterschied gemacht, ob es alte Freunde oder Fremde waren, Familienmitglieder oder flüchtige Bekanntschaften. Keinen Unterschied zwischen „es tat nur ein bisschen weh“ oder „es tat verdammt weh“. Ich wünschte, ich hätte schon viel eher gewusst, dass ich keine Schuld trage. Dass ich als starker Mensch auch Betroffene sein kann. Dass es nicht an mir selbst liegt, sondern an ihnen. Kein Mensch dieser Welt hat das Recht dazu, ein mieses Arschloch zu sein.

Headerfoto: Gemma Chua-Tran (Kategorie-Button hinzugefügt.) Danke dafür!

Valerie verliert zwischendurch mal die Orientierung, findet aber immer wieder auf die Spur zurück. Leere Worte gibt es für sie nicht. Ganz im Gegenteil. Valerie hofft, schreibt, lacht, flaniert. Mehr zu Valerie findet ihr auf Instagram.

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