Lieber nächster Beziehungsmensch,
ich schreibe diesen Brief an dich, weil mir einige Dinge auf dem Herzen brennen. Dinge, die mir so wichtig sind, dass ich sie zu Papier bringen möchte, um sie festzuhalten, zu verewigen sozusagen, für später. Für den Fall der Fälle, in dem du auf einmal vor mir stehst und ich um Worte verlegen sein werde, aber um Gefühle hoffentlich nicht.
Bitte liebe mich, ohne mich mir wieder wegzunehmen. Ich habe mich gerade erst wiedergefunden und würde mich ganz gerne behalten.
Lieber nächster Beziehungsmensch, bitte liebe mich, ohne mich mir wieder wegzunehmen. Ich habe mich gerade erst wieder gefunden und würde mich ganz gerne behalten. In der Vergangenheit habe ich die gefährliche Tendenz entwickelt, meine Träume, Wünsche und Ambitionen aus dem Fokus zu verlieren, sobald da ein anderer Mensch war, der so viel Raum in mir und meinem Leben einnahm, dass für mich keiner mehr blieb.
Das macht mir mehr Angst als alles andere, das Wissen darum, wie stark ich lieben und wie tief ich mich verlieren kann in dir – in unserem Wir. Deshalb stelle ich mir das mit uns ungefähr so vor:
ich + du = ich
ich + du = du
ich + du = wir
ich + du = ich + du
Verstehst du, dass ich dich haben und mich behalten möchte und dass ich keinen Widerspruch erkenne in einer gemeinsamen Koexistenz voller Verbindung, aber ohne Verschmelzung?
Verstehst du, was ich meine? Verstehst du, dass ich dich haben und mich behalten möchte und dass ich keinen Widerspruch erkenne in einer gemeinsamen Koexistenz voller Verbindung, aber ohne Verschmelzung? Ich möchte ich bleiben und ich möchte ganz bleiben und ich möchte dich in deinem Sein anerkennen, das mein Sein nicht braucht, um ganz zu sein. Ich will nicht, dass du mich brauchst. Ich will, dass du mich willst. So wie ich dich will.
Lieber nächster Beziehungsmensch, lass mich dir meine Cupcake-Theorie erklären, die ich Jahr für Jahr Freundin für Freundin Heartbreak für Heartbreak erzählt habe: Wenn mein Leben ein Cupcake ist – ein veganer, süßer, cremiger Cupcake -, dann kannst du meine „cherry on top“ sein. Ohne die Kirsche schmeckt mein Cupcake wahnsinnig gut, doch sie ist das gewisse Etwas, das meinen Cupcake vielleicht noch ein klitzeklein bisschen süßer macht. Nur ein klitzekleines bisschen, denn ich brauche dich nicht, um einen vollständigen Cupcake zu haben. Ich möchte dich nicht brauchen. Aber ich möchte dich wertschätzen und bewundern und von und mit dir lernen.
Ich möchte dein größter Fan sein und dich gleichzeitig outcallen für deinen Shit, für unüberlegte, verletzende Worte, für internalisierte und problematische Handlungen.
Ich möchte dein größter Fan sein und dich gleichzeitig outcallen für deinen Shit, für unüberlegte, verletzende Worte, für internalisierte und problematische Handlungen. Denn du wirst Fehler machen. Und ich werde Fehler machen. Und wir werden sie hoffentlich gemeinsam und auf Augenhöhe aufarbeiten und beiseite legen und weitermachen. Ich möchte deine ehrlichste Kritikerin sein und wünsche mir dasselbe von dir. Ich möchte deine Erfolge immer feiern können, auch wenn es bei mir gerade nicht so läuft. Denn deine Erfolge definieren nicht mein Scheitern.
Lieber nächster Beziehungsmensch, wir wurden beide in einer Gesellschaft sozialisiert, die in lang gewachsener Tradition patriarchale und koloniale Machtstrukturen etabliert und Rollenzuschreibungen geschaffen hat. Diese abzubauen, Stück für Stück und immer wieder aufs Neue, wird der mühsamste und unbequemste Part unserer Beziehung sein. Ein Weg ohne klares Ziel, an dem wir manchmal verzweifeln werden. Aber ein Weg, der sich lohnen wird.
Ich werde hohe Erwartungen an dich haben und ich bin bereit, mich deinen hohen Erwartungen zu stellen, weil wir beide nur das Beste verdienen.
Ein Weg, auf dem ich es dir nicht immer leicht machen werde, besonders nicht, wenn du ein cis Mann bist. Ich werde dich herausfordern und ich möchte, dass du dasselbe für mich tust. Ich werde hohe Erwartungen an dich haben und ich bin bereit, mich deinen hohen Erwartungen zu stellen, weil wir beide nur das Beste verdienen.
Manche Dinge werde ich nicht mit dir diskutieren wollen, weil sie nicht zur Diskussion stehen sollten. „Konsens“, „Feminist:in“, „pro-choice“, „antirassistisch“ und „gegen Nazis“ sind keine Zierwörter, sondern gelebte Praxis, in der ich mich tagtäglich übe. Und das erwarte ich auch von dir. Wir können gemeinsam lernen, doch ich werde keine Bildungsarbeit leisten, die über meine Kapazitäten als Betroffene hinausgeht. Was unsere Kapazitäten angeht, werden wir uns beide in Respekt üben müssen. Speaking of Respekt:
Lieber nächster Beziehungsmensch, ich habe Beinhaare und Achselhaare, und auch untenrum bin ich nicht glatt rasiert. Deal with it.
Lieber nächster Beziehungsmensch, ich habe Beinhaare und Achselhaare und wo wir schon dabei sind, auch untenrum bin ich nicht glatt rasiert. Ich blute monatlich. Deal with it. Ich bin außerdem wahnsinnig schlecht darin, Initiativen zu ergreifen, aus Angst, zur Last zu fallen. Manchmal muss ich allein sein und ich übe gerade, meine Grenzen sorgsam abzustecken, zu kommunizieren und zu schützen. Das gelingt mir mal besser, mal schlechter. Ich rede viel, manchmal zu viel. Es kann vorkommen, dass ich dir damit den Raum nehme, der dir zusteht. Das tut mir leid. Ich lerne noch. Sprich es an, wenn ich über deine Grenzen gehe. Ich möchte diese unbedingt kennen, respektieren und wahren.
Ich tendiere dazu, viel zu viel gleichzeitig zu wollen. Manchmal arbeite ich zu lange. Manchmal bin ich deshalb müde und antriebslos. Ich bin außerdem ziemlich oft wütend. Auf diese Welt, ihre gleichzeitigen Ungerechtigkeiten und ihre ungerechten Gleichzeitigkeiten. Aber hey, du wirst schon sehen, dass ich auch ziemlich cool sein kann. Bei politischen Reden und Geschehnissen muss ich oft weinen, manchmal vor Wut, aber viel öfter aus Rührung. Ich halte viel auf meinen Musikgeschmack. Außerdem kann ich ziemlich romantische Liebesbriefe schreiben. Romantischere als diesen hier, versprochen. Ich habe einen Bücherschrank voll ungelesener Bücher und einen Kopf voll ungeschriebener Geschichten. Ich denke, du kannst ganz schön viel von mir lernen. So wie ich von dir.
Weil ich nicht an The One glaube, weiß ich, du steckst in ganz vielen Menschen. In Menschen, denen ich bereits begegnet bin und in Menschen, denen ich nie begegnen werde.
Ich weiß nicht, warum sich das hier gerade wie ein Bewerbungsschreiben oder eine dieser unangenehmen „Sie sucht…“ – Zeitungsannoncen liest, denn das soll es ja gar nicht sein. Ich bin ja nicht einmal aktiv auf der Suche nach dir. Aber ich weiß, du bist irgendwo da draußen. Und weil ich nicht an The One glaube, weiß ich, du steckst in ganz vielen Menschen. In dem schönen Menschen im Bus gestern Abend oder in dem verschmitzten Lächeln, das mir heute geschenkt wurde. In Menschen, denen ich bereits begegnet bin und in Menschen, denen ich nie begegnen werde.
Womöglich wird es noch ein wenig dauern, bis ich bereit bin, dich kennenzulernen. Bis ich in meinem Leben genug Platz geschaffen habe für eine neue Art von Verbindung, für einen weiteren Menschen, neben mir und all den wundervollen Menschen, die sich darin bereits tummeln. Wann auch immer wir uns begegnen, ich freue mich auf dich – ich freue mich auf uns. Ein „uns“, das wir selbstbestimmt und voller Wertschätzung gestalten werden. Du hast jetzt ja eine Idee, wie ich mir das so vorstelle.
Auf bald einmal,
Amelie
Headerfoto: Anna Shvets (Kategorie-Button hinzugefügt.) Danke dafür!