Disclaimer: Weltschmerz ist real und wenn du gerade nicht so gut damit umgehen kannst, von aktuellen Geschehnissen auf unserer Welt zu lesen, dann nimm dir diesen Text vielleicht ein anderes Mal vor. Ich schreibe über Privilegien und die Scham, die ich manchmal für sie empfinde, in dem Bewusstsein, dass allein das eine extrem privilegierte Sichtweise ist.
Ich schreibe nicht mehr. Schon seit Tagen hält sich eine unüberwindbare Barriere in meinem Kopf, besetzt meine geistigen und mentalen Kapazitäten mit derselben Hartnäckigkeit wie Hunderte von Aktivist:innen das Dörfchen Lützerath in den vergangenen Wochen. Das Schreiben ist seit jeher ein Ventil für mich, doch nun scheint es verstopft zu sein, scheinen sich Worte in seiner Öffnung zu verfangen und keinen Weg nach draußen zu finden. Der einzige Weg, sie nach draußen zu befördern, scheint der zu sein, mit Hochdruck darüber zu schreiben, warum ich nicht schreiben kann.
Es sind eben diese Bedeutungsschwere und Wirkmacht, die mich so ohnmächtig fühlen lassen und dazu führen, dass alle Worte, die ich schreibe, im Nichts verlaufen.
Was sich in den letzten Wochen, Tagen und Stunden in Lützerath zugetragen hat, ist so bedeutungsschwer und wirkmächtig wie die 280 Mio. Tonnen Braunkohle, die unter dem kleinen Örtchen, das nun Mordor in Mittelerde gleicht, im Boden liegen. Und es sind eben diese Bedeutungsschwere und Wirkmacht, die mich so ohnmächtig fühlen lassen und dazu führen, dass alle Worte, die ich schreibe, im Nichts verlaufen. Weltschmerz und Überwältigung lassen alle anderen Themen und Gedanken, die ich für wichtig gehalten habe, zu anderen Zeiten, unter anderen Umständen, plötzlich nichtig und klein wirken. Sie lassen meine eigenen Worte nichtig und klein wirken, weil sie in ihrer Summe keinen Wert ergeben, der das aufhalten könnte, was mit unserem Planeten passieren wird, wenn wir unsere international vereinbarten Klimaziele verfehlen.
Mühelose Gleichzeitigkeiten
Was ich versuche, hier in Worte zu fassen, ist das: Manchmal lähmt mich das Wissen darum, wie die Zukunft unserer Welt aussehen könnte – aussehen wird -, wenn wir nicht handeln, so sehr, dass ich erstarre, dass ich erst recht nicht handeln kann. Und während beide meiner Augen nach Lützerath blicken und mein Herz mit den Aktivist:innen im Einklang schlägt, schlägt eine russische Rakete in ein mehrstöckiges Wohnhaus in Dnipro in der Ukraine ein, schlägt ein Ehemann und Familienvater seine Frau, nicht zum ersten Mal, schlägt das Herz eines jungen Menschen schneller, weil seine Hand die eines anderen jungen Menschen streift, schlägt irgendwo auf der Welt eine Uhr gerade Mitternacht und ein neuer Tag beginnt.
Die Mühelosigkeit, mit der auf dieser Welt Schreckliches und Schönes im Einklang koexistieren, ist oft schwer auszuhalten.
Die Mühelosigkeit, mit der auf dieser Welt Schreckliches und Schönes im Einklang koexistieren, ist schwer auszuhalten. Schließlich sind bereits unsere eigenen Existenzen oft genug schrecklich-schön und ganz schön schrecklich, lassen Herzschmerz auf Liebesglück folgen, Misserfolge auf Erfolge und Leben auf Tod. Und wenn wir dann unseren Blick öffnen und weiten für all die großen und kleinen Gleichzeitigkeiten unserer Menschheit, dann ist da noch mehr Freude und noch mehr Schmerz und dann ist da auch Scham und Schuld, zumindest bei mir.
Privilegienscham
Diese Scham ist für mich eng mit Privilegien verbunden, mit jenen glücklichen Zufällen, die dazu geführt haben, dass ich in einem kleinen Dorf in Süddeutschland geboren wurde, als weiße Frau in eine intakte Familie, die mir eine Menge Bildung und noch mehr Freiheiten ermöglichen konnte. Gleichzeitigkeiten. Die Journalistin Marija Latković definiert Gleichzeitigkeit als das Eintreten oder Zusammentreffen verschiedener Ereignisse. „Gleichzeitigkeit“ ist für sie eine Beschreibung einer Wahrnehmung von Realitäten, die nur auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen, oft aufgrund einer durch glückliche Umstände geprägten Herkunft und Sozialisation. Ich fühle mich ertappt. Es ist sehr einfach, entsetzt zu sein über die Koexistenz von globalem Schmerz und privatem Glück, wenn ich in einer warmen Wohnung sitze und mir mehr Gedanken über meinen nächsten Text als über die nächste Stromrechnung machen muss.
Mir ist bewusst, dass unter all den Koexistenzen und Gleichzeitigkeiten dieser Welt manche Gleichzeitigkeiten schwerer wiegen als andere.
Mir ist bewusst, dass unter all den Koexistenzen und Gleichzeitigkeiten dieser Welt manche Gleichzeitigkeiten schwerer wiegen als andere. Dass Gleichzeitigkeiten nur vermeintlich Gegensätze sind und manchmal sogar miteinander verflochten, sich gegenseitig bedingend. Dass Abgrenzung vom Weltschmerz leichter gelingen kann, wenn ich gerade nicht mit einer Depression zu kämpfen habe, dass eigener Schmerz womöglich empfänglicher macht für den Schmerz anderer und dass Resilienz oft hart erarbeitet ist, unfreiwillig erlangt durch Schläge des Schicksals.
Weltschmerz und Schuldgefühle
Dieses Wissen sollte mich eigentlich dazu antreiben, mich erst recht da raus zu begeben, aktiv zu werden und zu handeln. Meine Privilegien zu nutzen, um Gebrauch zu machen von den Fähigkeiten und Möglichkeiten, die mir von klein auf in meinen Rucksack gepackt wurden, ohne dass ich sie mir erarbeiten oder verdienen musste. Meine Ressourcen und Kapazitäten einer größeren Sache zu widmen, mich einem höheren Ziel hinzugeben. Doch genau das Gegenteil ist der Fall, zumindest im Moment: Der Schmerz überfordert mich, lähmt mich und gleichzeitig fühle ich mich so schuldig, weil ich nicht längst das tue, was ich tun sollte: Verantwortung übernehmen, für mich, für andere.
In den letzten Wochen habe ich gelernt, dass mir ein wachsendes Bewusstsein über meine Privilegien nicht automatisch eine Bedienungsanleitung für sie mitliefert.
In den letzten Wochen habe ich gelernt, dass mir ein wachsendes Bewusstsein über meine Privilegien nicht automatisch eine Bedienungsanleitung für ihre Nutzung mitliefert. Sie zu kennen und mit ihnen umzugehen, das sind zwei unterschiedliche Aufgabenstellungen – aber auch Gleichzeitigkeiten.
Gleichzeitigkeiten aushalten lernen
Das hier ist ein sehr persönlicher Text und auch er entsteht in Gleichzeitigkeiten. Ich schreibe ihn an einem ruhigen Morgen in einer wunderschönen Wohnung in Berlin, meine beste Freundin schläft neben mir und währenddessen blockieren Aktivist:innen in Lützerath Kohlebagger und Zufahrtswege, besitzt das reichste ein Prozent der Weltbevölkerung fast die Hälfte des weltweiten Vermögens und hungert etwa jeder zehnte Mensch auf der Welt (Quelle: Oxfam-Bericht „Survival of the Richest“). Während in Iran der feministischen Revolution mit der Hinrichtung von Demonstrant:innen begegnet wird, begegnet ein Mensch der Liebe seines Lebens. Während ein Mensch heute den schlimmsten Tag seines Lebens erlebt, erklärt ein anderer Mensch den heutigen zu seinem Besten.
Was wir tun können, ist zu lernen, Gleichzeitigkeiten auszuhalten, in all ihrer Schrecklichkeit und ihrer Schönheit.
Ambivalenzen und Gleichzeitigkeiten lassen sich nur schwer hinnehmen und noch schwerer akzeptieren. Was wir tun können, ist zu lernen, sie auszuhalten, in all ihrer Schrecklichkeit und ihrer Schönheit. Und weitermachen, immer weiter. Das hier ist kein „How To Gleichzeitigkeiten aushalten“, ich bin kein How-To-Girl, bin ich doch selbst noch dabei, zu lernen. Sollte ich in diesem Prozess eine bahnbrechende Erkenntnis haben, teile ich sie mit euch, versprochen. Und bis dahin mache auch ich einfach immer weiter.
„I am washing my face before bed
while a country is on fire.
It feels dumb to wash my face
and dumb not to.
It has never been this way
and it has always been this way.
Someone has always clinked a
cocktail glass in one hemisphere as
someone loses a home in another,
while someone falls in love in the
same apartment building where
someone grieves. The fact that
suffering, mundanity and beauty
coincide is unbearable and
remarkable.”
(Mari Andrew)
Headerfoto: Karolina Grabowska (Kategorie-Button hinzugefügt.) Danke dafür!