Die Welt kann warten: Warum wir uns Zeit geben sollten, zu heilen

Ist es wirklich Heilung, die wir nach traumatischen Erlebnissen brauchen? Oder ist es „einfach“ der natürliche Zustand des Seins, in den wir irgendwann finden?

Ich habe mich in Situationen begeben, die ich mir niemals zugetraut hätte.

In den letzten Wochen habe ich mich in Situationen begeben, die ich mir erstens niemals zugetraut hätte und  mir zweitens nicht vorstellen konnte. Habe Dinge gesagt und getan, nach denen ich dachte: „Warst das wirklich du? Marisa?“. Ob in der Ausbildung in Diskussionen mit Autoritätspersonen, eine Gruppentherapie führend als werdenden Therapeutin oder an einem Tisch lachend mit der Familie meines Freundes.

Wut spüren 

Manchmal frage ich mich in solchen Momenten, wo dieser Teil von mir so lange geschlummert hat. Und was dieser Teil brauchte, um all diese Dinge jetzt tun zu können. Wahrscheinlich gibt es hierfür wieder nicht nur die eine Antwort. Wahrscheinlich ist auch das bei jeder und jedem total unterschiedlich. Doch wenn ich auf mich schaue, dann war ein ganz entscheidender Faktor, die alte „Plörre“ herauszulassen, bzw. diese zuerst einmal zu spüren.

Wütend darüber sein zu dürfen, was mir als Kind passiert ist, wütend über meine Eltern zu sein.

Wütend darüber sein zu dürfen, was mir als Kind passiert ist, wütend über meine Eltern zu sein, überwältigt und schockiert zugleich zu sein, dass so viel Wut und Schmerz überhaupt in mir ist. Und das als ein Mensch, der jede Hürde im Leben mit Anlauf genommen hat und als „halb so wild“ abgestempelt hat. Nach der ganzen Wut und Trauer kam die Erschöpfung und zum Glück nach einiger Zeit die Kraft, all das hinter mich zu lassen.

Heilen beginnen

Deswegen „ja“ zu Heilung. Obwohl ich jetzt nicht an meine Eltern denke und den Gedanken habe: „Vergeben und Vergessen“ Nein eher: Das ist vorbei und es hält mich nicht mehr auf, der Mensch zu sein, der ich sein möchte!

Wir haben zum Glück keine Tattoos auf der Stirn, auf denen steht, was uns widerfahren ist.

Wir haben zum Glück keine Tattoos auf der Stirn, auf denen steht, was uns widerfahren ist, wir haben die Chance neu zu wählen, wer wir sind. Jeden Tag und das ist das Gute! Manchmal klopft im Alltag die Vergangenheit an die Tür und will uns mit ihren Glaubenssätzen an sie erinnern, herunterziehen wie Treibsand, doch auch dann können wir wählen, wie wir damit umgehen wollen. Traue ich mich, der Mensch zu sein, der ich jetzt sein will und kann? Oder brauche ich noch mehr Zeit?

Aushalten lernen

Das nächste für mich so wichtige auf dieser Reise: Zeit! Zeit wollte ich mir am wenigsten geben, wollte nach meinem Burnout schnell wieder arbeiten, schnell wieder Teil der „funktionierenden“ Gesellschaft sein. Schnell wieder „normal“ sein, wie ich damals so oft sagte. Dabei wollten mir das Burnout und die darauffolgenden Panikattacken und Depressionen so viel sagen, statt von mir unter Zeitdruck gesetzt zu werden! (Und by the way: Wer oder was ist schon normal?)

Das Burnout und die darauffolgenden Panikattacken und Depressionen wollten mir so viel sagen, statt von mir unter Zeitdruck gesetzt zu werden.

Momente, Wochen, Monate voller Unklarheit, Ängsten und Unsicherheiten über sich und die Zukunft auszuhalten, war mit Abstand das Ätzendste, aber dennoch Teil, von dem die ich heute bin! Nicht immer gleich eine Lösung parat zu haben, nicht zu wissen, was der nächste Schritt ist, ob man das überstehen wird, das wünsche ich niemandem. Und jeder:m von euch, die:der gerade so fühlt, wünsche ich Kraft, Hoffnung und vor allem Geduld aus der Ferne!

Zeit geben

Schreit, weint, seid wütend darüber. Aber versucht, mir zu glauben: Die Welt kann warten. Gebt euch Zeit und versucht, auf euch zu vertrauen! Unser Körper samt unserer Seele will uns in solchen Lebensphasen nur helfen, einen anderen Weg zu finden. Manchmal dauert das etwas länger und auch wenn ich 1000 Dinge mehr liebe als Geduld: Sie zu haben lohnt sich!

Bin ich jetzt geheilt oder „einfach“ nur der Mensch, der ich immer sein wollte?

Bin ich jetzt geheilt oder „einfach“ nur der Mensch, der ich immer sein wollte? Ich denke, ich bin ein Mensch mit Wunden. Der gelernt hat, mit diesen umzugehen. Der manchmal noch Schiss hat, sich selbst zu vertrauen und stetig Übung darin braucht. Der Tage hat, an denen es klappt und Tage, an denen die Kraft dafür fehlt!

„You’re allowed to be both-
a masterpiece & a work in progress,
simultaneously!“
– Sophia Bush

Breathe, peace and love,
eure Marisa <3

Headerfoto: Rachel Claire (Kategorie-Button hinzugefügt.) Danke dafür!

Marisa ist 32 und aus Köln. Sie schreibt über mentale Gesundheit, das Leben und Veränderungen in unserer verrückten Zeit.

1 Comment

  • „Bin ich jetzt geheilt oder “einfach” nur der Mensch, der ich immer sein wollte?“

    Das spricht mir aus der Seele.♥️ Ich hab auch ein Burnout hinter mir und tatsächlich kann die Welt warten.

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