„Verbieten Sie sich das Weinen nicht“ – Warum Weinen Selbstliebe ist

Me, myself and I. Und meine Angst.

Nachts halb zwei in Deutschland. Da sitze ich wieder und verkrampfe vor Angst. Me, myself and I. Oh, und die innere Stimme meiner Angst, die ich irgendwann mal Chantal getauft habe. Ursprünglich hatte ich meinen inneren Kritiker so genannt. Er redet meine Erfolge klein, haucht mir Unsicherheiten ein und ist ein unsagbar unzufriedener, ungeduldiger Zeitgenosse. Einige Freund:innen und Familienmitglieder haben für ihre inneren Kritiker:innen auch Namen eingeführt. Und irgendwann sind mein innerer Kritiker und die Angst in meinem Kopf zu Chantal verschmolzen.

Es hilft mir, meiner Angst einen Namen zu geben.

Es hilft mir, ihr einen Namen zu geben und sie damit zu personifizieren. Sie greifbar zu machen, um sie AN-greifbar und damit weniger allmächtig zu machen. Denn Chantal bockt gerade mal wieder gewaltig mit mir.

Ab in die Angstspirale

An schlechten Tagen reicht eine Kleinigkeit und Chantal reißt der Geduldsfaden. Dann bringt sie meine Gedankenspirale und die Angstschübe ins Rollen. Ich begebe mich ins „Zerdenken“ – das klassische Overthinking –, verkrampfe und komme nur noch schwer aus diesem Angstzustand heraus. Meine Unsicherheiten überrollen mich wie eine Welle und rauben mir fast den Atem. Ablenken und Entspannen heißt dann die Devise, hat mir meine Therapeutin gesagt. Dumm nur, wenn das mitten in der Nacht passiert und kaum Ablenkung da ist. Und wenn die Ablenkung, die ich in der letzten Zeit gern als solche angesehen habe, dieses Mal selbst der Auslöser für Chantals Gemecker ist.

Meine Unsicherheiten überrollen mich wie eine Welle.

Des Weiteren hat mir meine Therapeutin geraten, ich solle versuchen, die Angst während dieser Schübe zu relativieren. Das ist meiner Erfahrung nach aber die schwierigste Herangehensweise. Denn in so einem Moment fühlt sie sich unheimlich echt, allgegenwärtig und erdrückend an. Die Angst nimmt sich in solchen Phasen selbst viel zu wichtig. Und Chantal tut das sowieso sehr gern. Sie weiß alles am besten, ihr Urteil ist glasklar und zu 100 Prozent das richtige. Immer. Denkt sie zumindest.

Schockstarre

Dieses Mal hat eine, für Chantals Geschmack zu lange unbeantwortete, Nachricht gereicht. Ich kämpfe mit allen Mitteln gegen sie an, während sie mir all meine alten Ängste und schlechten Erfahrungen wie Gülle ins Gesicht speit. Aber das Relativieren funktioniert mitten in der Nacht nicht mehr so gut. Ich greife mittlerweile nicht mehr nur alle fünf Minuten nach dem Smartphone, ich habe es entweder permanent in der Hand oder stiere wie besessen auf den schwarzen Bildschirm. Warte darauf, dass das kleine Signallicht im Dunkeln aufleuchtet wie ein Glühwürmchen. Der Atem krampft, die Hände krampfen und langsam schmerzt auch irgendwie das Herz.

Heulsuse

Warum wird Weinen eigentlich mit Schwäche assoziiert?

„Ich heule nicht mehr wegen einem Typen.“ Wie oft habe ich das selbst gesagt oder aus dem Mund von Freund:innen gehört. Gemeint waren damit nicht nur Typen, sondern jedes Individuum von romantischem oder körperlichem Interesse. Sie seien es nicht wert, sagten wir uns. Wir sind schließlich stark, selbstbewusst, unabhängig und emanzipiert. Aber warum wird Weinen eigentlich so oft mit Schwäche assoziiert? Ist es nicht eigentlich ziemlich stark, seinen Emotionen freien Lauf zu lassen? Warum heißt es „Heulsuse“, wenn ein Mensch nah am Wasser gebaut ist oder schnell zum Weinen gebracht werden kann? Ganz schön problematisch, dieser Begriff. Er zeigt gut auf, wie Emotionen und Weinen mit dem angeblich „schwachen“ weiblichen Geschlecht verbunden werden und es Männern daher oft untersagt wird, zu weinen und emotional zu werden. Ist das alles bescheuert!

„Verbieten Sie sich das Weinen nicht.“

„Verbieten Sie sich das Weinen nicht.“ Auch das hat meine Therapeutin einmal zu mir gesagt. Ich gebe dem Drang trotzdem immer noch viel zu selten nach. Entweder, weil ich in der Öffentlichkeit bin und es mir dort unangenehm ist. Oder weil ich auf Teufel komm raus „stark“ bleiben möchte, selbst wenn ich allein und ungestört bin.

Ich möchte auf Teufel komm raus stark bleiben.

So wie in der Nacht, als Chantal in meinem Kopf mal wieder die Kontrolle übernommen hatte – „Ich heule nicht mehr wegen einem Typen“. Zum Verkrampfen gehört auch oft die Unfähigkeit, die Tränen laufen zu lassen. Hinter einer unsichtbaren Grenze verharren sie und wagen es nicht, meine Wangen hinab zu kullern.

„Wir brauchen das jetzt.“

Stark sein hat aber nichts damit zu tun, sich das Weinen oder das Zeigen von Emotionen allgemein zu verbieten. Wahre Stärke äußert sich eher darin, sich die Emotionen  einzugestehen und sie rauszulassen. Wenn ich sie rauslasse, fühle ich mich hinterher viel leichter und befreiter. Der Körper hört auf, dagegen zu kämpfen und auch die Krämpfe lassen nach. Fast 24 Stunden nach der Angstattacke sehe ich mich selbst im Spiegel an und bin endlich in der Lage, die Angst und damit die Tränen fließen zu lassen. Ich versichere mir immer wieder, dass es in Ordnung ist, sie jetzt rauszulassen. „Wir brauchen das jetzt“, erkläre ich mir und Chantal laut und deutlich.

Weinen ist Selbstliebe

Ihr weint in erster Linie für euch.

Letztendlich ist es okay, wegen einem Typen zu weinen. Oft denke ich in unterschiedlichen Situationen: „Deswegen muss ich doch jetzt nicht weinen!“ Aber der Grund für das Weinen ist nicht der entscheidende Faktor. Wenn in einem Moment Emotionen raus wollen, dann lasst sie raus. Sie sind nun mal da und wollen gefühlt, wollen gesehen werden. Ihr weint nicht wegen einem Typen, ihr weint in erster Linie für euch! Weint für das erleichterte Gefühl, welches sich hinterher einstellt. Weint für das Ausleben eurer Emotionen, die ihr als menschliches Wesen nun einmal empfindet. Weint aus Selbstliebe. Denn Weinen ist wichtig. Unabhängig von Alter oder Geschlecht.

Und nehmt euch hinterher ruhig mal selbst in den Arm. Versichert der Chantal in eurem Kopf, dass sie zwar ihre Daseinsberechtigung hat, aber sie auch wieder verschwinden darf, sobald ihr sie und ihr Wirken erkannt habt. Alles ist gut!

Die Nachtwandlerin ist leider entgegen der menschlichen Natur viel zu oft und viel zu lang nachts munter. Aber derweil erscheint ihr einfach die Luft klarer und reiner, wenn alles schläft. In der Dunkelheit kann sie ihre Gedanken meist besser hören. Daher der Name Nachtwandlerin.
Sie studiert „Literatur – Kunst – Kultur“ im Master und man findet sie stets auf dem Sprung, immer unterwegs zu neuen Konzerten und neuen Sehnsüchten. Dies meist per Bahn, wo sie ihren kleinen Kopf mit den viel zu großen Gedankenansammlungen hinter Buchseiten verschanzt oder den Gedanken durch Musikhören und Aus-Dem-Fenster-Schauen Auslauf gewährt. Mehr nachtwandlerische Gedanken gibt es auf Instagram und auf ihrem Blog.

Headerfoto: Ron Lach (Kategorie-Button hinzugefügt.) Danke dafür!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.