Wut ist mehr als ein Gefühl, sie ist ein Sinnbild patriarchaler Strukturen und Unterdrückung | Von der Seele geschrieben

Wut. Was assoziierst du mit Wut? Bist du gerne wütend? Kannst du gut wütend sein? Wie gehst du mit deiner Wut um und wie mit der von anderen? Seit kurzem beschäftigt mich dieses Gefühl. Weil ich es zum ersten Mal in meinem Leben so richtig bewusst wahrnehme und es gar nicht mehr wegzugehen scheint.

Je länger ich mich damit beschäftige, desto mehr und desto bedeutender wird es. Inzwischen ist Wut gar nicht mehr „nur“ ein Gefühl für mich, sondern das Sinnbild patriarchaler Strukturen und Unterdrückung.

Inzwischen ist Wut gar nicht mehr ’nur‘ ein Gefühl für mich, sondern das Sinnbild patriarchaler Strukturen und Unterdrückung.

Und zeigt mir einmal mehr, wie wichtig es ist, einen Umgang mit Gefühlen zu lernen und sie ausdrücken zu dürfen.

Ich habe nicht gelernt, wütend zu sein

Bis vor kurzem hatte ich vergessen, wie sich Wut anfühlt. Seit meiner Pubertät, in der ich zu Tobsuchtsanfällen mit Türenknallen und laut gebrüllten Schimpfwörtern neigte, war ich nicht mehr richtig wütend. Zumindest nicht bewusst.

In meiner vergangenen Beziehung kamen mir in Situationen, in denen ich wahrscheinlich eigentlich wütend war, direkt die Tränen, sodass ich das Gefühl als Traurigkeit oder Enttäuschung definierte. Ich wusste nicht mehr, wie sich Wut anfühlte, oder hatte schlichtweg verlernt, wütend zu sein. Aber habe ich es überhaupt irgendwann mal gelernt?

In meiner vergangenen Beziehung kamen mir in Situationen, in denen ich wahrscheinlich eigentlich wütend war, direkt die Tränen, sodass ich das Gefühl als Traurigkeit oder Enttäuschung definierte.

In meinem Umfeld war man entweder nicht wütend oder direkt cholerisch. Bei anderen erlebte ich Wut also nicht oder sie machte mir Angst. Wenn ich in meiner Kindheit oder Jugend selbst mal wütend war, wurde ich auf mein Zimmer geschickt, wo ich bleiben sollte, bis ich mich wieder beruhigt hatte.

Mir wurde also buchstäblich der Raum für meine Wut verwehrt. Ich sah sie nicht bei anderen und selbst durfte ich sie nicht erleben. Damit will ich niemandem einen Vorwurf machen, denn dahinter steckt ein gesellschaftliches Problem. Meine Eltern hatten selbst nicht gelernt, mit ihrer eigenen geschweige denn mit der Wut anderer umzugehen.

Ein gesellschaftliches Problem – schon lange

Der römische Philosoph Seneca schrieb in seinem Buch „De Ira“ („Über die Wut“), die Wut sei etwas Schädliches. Zu dieser Zeit war man der Ansicht, Wut sei ein menschlicher Trieb, den es zu unterdrücken galt. Auch im 17. Jahrhundert noch wurde Wut als eine Charakterschwäche angesehen, wie etwa bei Francis Bacon zu lesen.

Der römische Philosoph Seneca schrieb in seinem Buch ‚De Ira‘ (‚Über die Wut‘), die Wut sei etwas Schädliches. Zu dieser Zeit war man der Ansicht, Wut sei ein menschlicher Trieb, den es zu unterdrücken galt.

Von den Religionen ganz zu schweigen, die Wut zu den Todsünden zählen oder als Hindernis auf dem Weg zur Erleuchtung beschreiben. Kein Wunder also, dass Wut so verpönt ist. Diese Überzeugungen stecken immer noch in uns.

Und das neue Wissen über die Emotion hat sich noch nicht verbreitet. Denn heute weiß man zum einen, dass Wut wertvoll sein kann, um Grenzen zu setzen, zu befreien und die Notwendigkeit einer Veränderung aufzuzeigen. Zum anderen gehen Expert:innen davon aus, dass angestaute und unterdrückte Wut negative Auswirkungen auf Körper und Geist haben kann.

Heute weiß man zum einen, dass Wut wertvoll sein kann, um Grenzen zu setzen, zu befreien und die Notwendigkeit einer Veränderung aufzuzeigen. Zum anderen gehen Expert:innen davon aus, dass angestaute und unterdrückte Wut negative Auswirkungen auf Körper und Geist haben kann.

Forscher:innen nehmen sogar an, dass Wut früher dafür sorgte, das Gegenüber so sehr einzuschüchtern, dass es erst gar nicht zu einem Kampf kam. Der Körper bereitet sich in der Wut zwar auf eine Auseinandersetzung vor und lässt alle Mechanismen auf Hochtouren laufen, sorgt jedoch gleichzeitig dafür, dass der Kampf überflüssig wird. Das entspricht dem Gegenteil dessen, was wir über Wut denken.

Das bedeutet also, wir können diese freigesetzte Energie, mit der wir eben nicht in die Auseinandersetzung gehen, für anderes nutzen. Zum Beispiel dafür, uns lautstark für oder gegen etwas einzusetzen. Dafür ist es jedoch ungemein wichtig, dass wir uns endlich von der Unterdrückung der Wut lösen und stattdessen lernen, mit ihr umzugehen.

Natürlich kann Wut zu Aggression führen und bösartige Handlungen verursachen – aber nur, wenn sie unterdrückt wird und der Umgang nicht richtig gelernt wurde. Wir müssen lernen, Gefühle zu deuten und zu regulieren, und den Raum dafür bekommen.

Frauen dürfen „negative“ Gefühle nicht zeigen

Apropos Raum: Frauen wird dieser Raum übrigens erst recht verwehrt. Wir kommen alle mit der Fähigkeit auf die Welt, verschiedene Gefühle zu empfinden, und so auch Wut. Doch in den Köpfen oder viel mehr dem Unterbewusstsein vieler steckt leider immer noch der Glaube, dass Frauen „negative“ Gefühle generell nicht ausdrücken dürfen.

Unterbewusst existieren nach wie vor Glaubenssätze, die festlegen, was frau muss und was sie nicht darf. Frau muss immer: freundlich und höflich sein, sich anpassen, lächeln, leise, zurückhaltend und unkompliziert sein.

Unterbewusst existieren nach wie vor Glaubenssätze, die festlegen, was frau muss und was sie nicht darf. Frau muss immer: freundlich und höflich sein, sich anpassen, lächeln, leise, zurückhaltend und unkompliziert sein.

Frau darf nie: schreien und toben, aus der Haut fahren, sich in den Mittelpunkt drängen, nicht wollen, sich ehrlich und direkt äußern, Ansprüche haben, enttäuschen, schimpfen.

Auch wenn das so heute niemand mehr sagen würde, ist es tief verankert – was sich eben beispielsweise im Umgang mit Wut zeigt.

Ich unterdrücke nichts mehr

Meine Wut zeigt sich jetzt, und zwar in voller Pracht. Sie lodert seit einiger Zeit wie ein kleines, aber kräftiges Feuer in mir und schenkt mir einerseits Energie und strengt mich andererseits an.

Es ist, als hätte sie sich nun nach all den Jahren, in denen sie weder beachtet noch ernstgenommen wurde, an die Oberfläche gekämpft, von der sie auch so schnell nicht wieder verschwindet. Sie will meine Aufmerksamkeit. Und ich will sie ihr geben. Erst recht, nachdem ich mir dieser Strukturen und Konventionen bewusst geworden bin, die mir meine Wut nicht erlauben.

Es ist als hätte sich meine Wut an die Oberfläche gekämpft, von der sie auch so schnell nicht wieder verschwindet. Sie will meine Aufmerksamkeit. Und ich will sie ihr geben. Erst recht, nachdem ich mir dieser Strukturen und Konventionen bewusst geworden bin, die mir meine Wut nicht erlauben.

Doch weil sie so allumfassend, so omnipräsent ist, kann ich gar nicht immer richtig greifen, was mich eigentlich wütend macht. Zurzeit sind es vor allem große Themen wie Body Shaming, Rassismus, Diskriminierung in vielen Formen, mit denen ich entweder auf Social Media oder im direkten Umfeld in Berührung komme. Dann merke ich, dass meine Toleranz gegenüber Intoleranz stark schrumpft, wo ich doch grundsätzlich ein sehr verständnisvoller Mensch bin.

Aber das hat auch etwas mit meiner sich festigenden Weltansicht und wachsendem Bewusstsein für viele Missstände zu tun. Ich tue mir schwerer, mich zurückzuhalten. Aber ich will es auch schlichtweg nicht mehr.

Ich darf laut und unbequem sein. Ja, auch oder erst recht als Frau.

Denn: Ich darf laut und unbequem sein. Ja, auch oder erst recht als Frau.

Headerfoto: Monstera via Pexels. (Kategorie-Button hinzugefügt und Bild gecroppt.) Danke dafür!

LEONIE MACHBERT schreibt Geschichten, seit sie schreiben kann. Sie hat Journalismus studiert und tobt jetzt irgendwo auf den weiten Feldern des freien Journalistendaseins herum. Dort sammelt sie Geschichten zu ihren Herzensthemen Body Positivity, Selbstliebe, Feminismus und den kleinen, zwischenmenschlichen Phänomenen. Sie liebt es, im Café zu sitzen, ihren Laptop alibimäßig vor sich aufzuklappen und dann zwei Stunden lang Leute zu beobachten. Mehr von ihr lest ihr auf ihrer Webseite.

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