TRIGGERWARNUNG: Schwangerschaftsabbruch
Mein Gesicht glüht. Drei grelle Sonnenstrahlen, die sich durch die dünnen Ritzen der weißen Jalousien an meinem Fenster zwängen, knallen mit voller Wucht auf meine Wange. Sie wecken mich, bevor mich die schrille Nachahmung des antiken Weckers auf meinem Handy aus dem Schlaf reißen kann.Ich blinzele das Licht weg und ziehe die Bettdecke über mein Gesicht. Warme Luft aus meiner Nase füllt meine Lungen. Es ist zu hell, um nochmal einzuschlafen. Aufstehen will ich auch nicht. Ich habe nicht gut geschlafen. Schlecht geträumt. Stark geschwitzt – nicht nur wegen der zum Morgen hin rapide ansteigenden Hitze in diesem Zimmer.
Ich schiebe die Decke von meinem Gesicht und ziehe mit den Augen die wellenförmigen Schatten nach, die sich auf den kleinen runden Wölbungen an meiner Wand bilden. Mein Freund rührt sich nicht. Ob er noch schläft? Oder nur so tut, um den Tag so lange hinauszuzögern wie möglich? So wie ich?
Mein Freund rührt sich nicht. Ob er noch schläft? Oder nur so tut, um den Tag so lange hinauszuzögern wie möglich? So wie ich?
Ich schlage die Bettdecke beiseite und lasse meine Füße aufs kühle Laminat gleiten. Ich fühle mich benommen. Ausgelaugt. Eingehüllt in einen schweren Mantel, der mich mit seinem Gewicht in die Tiefe zieht. Die Geräuschkulisse unter meinem Fenster dringt wie durch dämpfende Kopfhörer an meine Ohren. Ich empfinde nichts. Mein Körper ist taub.
6:45 Uhr
Etwas über eine Stunde. Vielleicht ist in zwei Stunden endlich alles wieder normal.
Mein schwarzes Lieblingskleid hängt leblos an dessen Bügel. Ein knielanges Baumwollkleid, luftig geschnitten, lang genug, um mich die wenigen Schritte zur Praxis zu bedecken, weit genug, mich nicht unnötig einzuschränken. Ich krame meine Klamotten zusammen und steuere wie von Geisterhand das Bad an.
Mein Magen grummelt. Eine leichte Übelkeit macht sich breit. Ansonsten ist alles wie immer. Alles sieht auch genauso aus. Nichts deutet darauf hin, dass ich in einer Stunde zur Mörderin werde. Mörderin. Mit voller Wucht knallt mir das Wort ins Gesicht, das ich gestern wieder und wieder in den Foren las. Die Foren, von denen ich wusste, dass ich sie nicht durchforsten sollte, weil mich die Flut an Meinungen unbekannter, unbeteiligter Menschen, die mir das Internet seitenweise vor die Füße spuckte, wie ein Tsunami überrollte.
Alles sieht auch genauso aus. Nichts deutet darauf hin, dass ich in einer Stunde zur Mörderin werde. Mörderin. Mit voller Wucht knallt mir das Wort ins Gesicht.
Ich schlendere in die Küche und fülle kaltes Leitungswasser in ein Glas. Vor dem Toaster liegt eine Tablette. Eine kleine weiße Pille, die sich optisch kaum von der unterscheidet, die ich vor drei Monaten hätte nehmen sollen. Hätte, hätte, Fahrradkette. Ich tippe mit dem rechten Mittelfinger auf das runde Objekt und schleife es vor das Glas.
Vor dem Toaster liegt eine Tablette. Eine kleine weiße Pille, die sich optisch kaum von der unterscheidet, die ich vor drei Monaten hätte nehmen sollen. Hätte, hätte, Fahrradkette.
Ist das egoistisch? Ist es egoistisch von mir zu wünschen, dass alles wieder so ist wie vorher? Ist es falsch, mich für mich zu entscheiden? Für mein Leben? Meine Ziele, meine Träume? Wenn ich mich nur nicht so verdammt einsam fühlen würde. Physisch keinen Meter von mir entfernt, lebt mein Freund psychisch in einer anderen Welt.
Mit einem kühlen Klack landet die Pille auf den hellgrauen Fliesen. Ich fische sie vom Boden auf und stütze mich gegen den Tresen. Das Zittern meiner Arme breitet sich bis in meine Fingerspitzen aus. Warme, salzige Tropfen gleiten über meine Wangen. Stumm lasse ich sie auf mein Kleid tropfen. Es ist nicht das erste Mal, dass ich eine relevante Entscheidung treffen muss. Es ist nur das erste Mal, dass sie irreversibel ist.
07:03 Uhr.
Das Hämmern in meinen Schläfen nimmt zu. Herz oder Kopf? Habe ich nicht selbst gesagt, dass ich etwas spüre? Ein Pochen, eine aus dem Nichts auftauchende Empfindung, die nicht rational ist, weil sie nicht sein kann und schon gar nicht sein darf?
Herz?
Aber ist es das, was ich will? Ein Kind? Jetzt? Mitten in der Ausbildung, mit ungewisser Zukunft und einer Beziehung, die über ein „es ist kompliziert“ nicht hinaus ist? Liebe alleine reicht nicht. Liebe alleine versorgt kein Kind. Mehr als das habe ich nicht zu bieten. Nichts von dem, was ich mir für ein Kind wünsche. Was ich mir für mein Kind immer gewünscht habe. Ich kann nicht mal für mich selbst sorgen, wie soll ich für ein Kind aufkommen?
Kopf?
Mein Leben entgleitet, entrinnt zwischen meinen Fingern, wie Sand durch ein Stundenglas. Ich weiß nicht mehr, wer ich bin. Alles, was ich will, ist wieder ich sein. Endlich wieder ich sein. Mein früheres Selbst, mein altes Leben zurück. Hätte ich nur nicht so eine enorme Angst.
Alles, was ich will, ist wieder ich sein. Endlich wieder ich sein. Mein früheres Selbst, mein altes Leben zurück. Hätte ich nur nicht so eine enorme Angst.
Die Kraft weicht aus meinen Gliedern. Ich lasse mich auf den Küchenboden sinken und lege den Kopf in den Nacken. Mein Schädel brummt. Ich ertrage das Pochen nicht mehr. Die Kopfschmerzen, die Übelkeit, die Schwäche.
07:05 Uhr.
Ich lege die Tablette auf meine Zunge, hebe das Glas an und setze es an meine Lippen.
„Verzeih mir. Bitte.“
Dann nehme ich einen kräftigen Schluck.
Anm. der Redaktion: Alle Schwangeren in problematischen Situationen oder Menschen aus deren Umfeld finden jederzeit per Telefon (0800-4040020), Online-Chat oder E-Mail Hilfe und Unterstützung. In 18 Sprachen plus Gebärdensprache. Das Hilfetelefon für Schwangere in Not des Bundesfamilienministeriums ist kostenfrei und kann an pro familia oder andere Beratungsstellen weiterleiten. Auch und insbesondere zu Zeiten des Coronavirus. Mehr Informationen gibt es auf dieser Seite.
Headerfoto: Liza Summer via Pexels. (Kategorie-Button hinzugefügt und Bild gecroppt.) Danke dafür!