Ich habe zu sehr vielen Dingen eine (vielleicht manchmal sogar zu) klare Meinung, Prinzipien und Ideale, nach denen ich lebe und von denen ich ziemlich überzeugt bin. Ich weiß, wo ich stehe, was ich vom Leben will (meistens) und kann gut auf mein Körpergefühl hören. Es gibt aber ein Thema, das mich immer wieder etwas zwiegespalten zurück lässt: Alkohol.
Zwei Seiten einer Medaille
Ich liebe (liebe!) es, mit Freund:innen an einem warmen Sommertag einen Aperol zu schlürfen, ein kühles Bier zu trinken oder beim Italiener einen Limoncello. Bei meinem Lieblingsmexikaner bestelle ich (auch im Winter) zu meinen Tacos einen Frozen Margarita und wenn es was zu feiern gibt, knallen bei mir die Sektkorken. Nach einem langen Tag (oder einem kurzen) sitze ich abends manchmal da und gönne mir ein Glas Wein und weil ich schlecht aufhören kann, wenn ich erstmal angefangen habe, vielleicht auch drei Gläser.
Nach einem langen Tag (oder einem kurzen) sitze ich abends manchmal da und gönne mir ein Glas Wein und weil ich schlecht aufhören kann, wenn ich erstmal angefangen habe, vielleicht auch drei Gläser.
Und gleichzeitig trinke ich (ganz 21.Jahrhundert-Girl-like) meinen Detox-Tee, fasel von Achtsamkeit und Selbstliebe und möchte so richtig im Einklang mit mir und überhaupt der Welt sein. Mein Körper ist ein Tempel blabla, deswegen kann ich leider nicht rauchen oder sonst wie selbstzerstörerisch unterwegs sein, aber Alkohol ist natürlich was anderes weil – äh warum nochmal?
Alkohol: Nationalkultur und Nationalstolz Deutschlands
Deutschland ist ein Land, dass stolz ist auf pfälzischen Wein und bayrisches Bier. Weltweit sind wir berühmt wie berüchtigt für unser Oktoberfest und Hand aufs Herz das liegt nicht an Brezeln und Obatzda. Alkohol scheint gesellschaftlich völlig akzeptiert und weil quasi ja jede:r trinkt, gibt es keinen Grund zur Sorge, oder?
Alkohol scheint gesellschaftlich völlig akzeptiert und weil quasi ja jede:r trinkt, gibt es keinen Grund zur Sorge, oder?
Ich verstehe absolut, dass Alkohol historisch gesehen mal eine sehr gut Idee gewesen ist: Zahn ziehen oder Bein amputieren ohne Schmerzmittel und unreines Trinkwasser – aber hallo – da hätte ich auch zum Met oder zu was auch immer gegriffen. Aber warum hat sich das gehalten? Aus Tradition, Routine, Abhängigkeit? Und wie kann es sein, dass ein Rotwein in unseren „healthy“ Selbstoptimierungszeiten neben Buddha-Bowl und Meditationsworkshop immer noch Bestand hat und lifestyle-technisch nicht total verurteilt wird?
Let’s talk about: mein Alkoholkonsum
Ich habe sehr spät angefangen Alkohol zu trinken, weil ich zu Beginn meiner Pubertät gelesen hatte, dass sich das Gehirn bis zum zwanzigstens Lebensjahr noch entwickelt und naja – dem wollte ich nicht im Wege stehen. Nennt mich radikal oder verkopft, ich bin Idealistin und habe mit zwanzig zum ersten Mal richtig getrunken und mich damit rundum wohl gefühlt, hatte keinen Druck von außen sondern einfach nur Lust auf ein, zwei, drei Bier.
Ich bewundere mein Vergangenheits-Ich ein bisschen, frage mich aber auch, wie ich so lange abstinent sein konnte. War mein 15-jähriges Ich einfach reifer, oder nur radikaler, oder etwa einfach beschränkt? Weiß ich, dass es ab jetzt zell-technisch eh nur noch bergab geht und habe keinen Grund mehr auf Alkohol zu verzichten?
Wie kann es sein, dass mir etwas so viele Jahre null gefehlt hat und plötzlich ein Teil meines Lebens geworden ist, auf den ich nicht mehr verzichten möchte? Also irgendwie schon, aber irgendwie auch echt gar nicht. Gibt es vielleicht einen Kompromiss, eine geniale Lösung für diese ambivalenten Gefühle?
Wie kann es sein, dass mir etwas so viele Jahre null gefehlt hat und plötzlich ein Teil meines Lebens geworden ist, auf den ich nicht mehr verzichten möchte.
In einem Anflug von Überheblichkeit und Gutmenschentum gehe ich also beim nächsten Einkauf auf Bio-Spinat, Vollkornreis und alkoholfreie Getränke-Alternativen los: Bier, Wein, Sekt alles auch „ohne“ zu haben. Ich will Verzicht ohne wirklich zu verzichten, muss aber feststellen, dass alkoholfreier Wein einfach irgendwie nicht so geil ist, während alkoholfreies Bier mir wenigstens beim Trinken ziemlich viel Spaß macht – bin halt nur danach echt nüchtern zwischen einem Haufen angeheiterter Freund:innen.
Corona – Pandemie und Bier
Alkohol kann schon ziemlich wunderbar sein, uns einander näher bringen, Geselligkeit aufkommen und Momenten eine besondere Bedeutung zukommen lassen. Die COVID-Pandemie hat uns allerdings das Gefühl von geselligem Beisammensein ziemlich schwer gemacht und übrig geblieben ist bei vielen das Bier am Abend, nur eben ohne Gesellschaft – ohne gute Gefühle.
Alkohol kann schon ziemlich wunderbar sein, uns einander näher bringen, Geselligkeit aufkommen und Momenten eine besondere Bedeutung zukommen lassen.
Ich mag sie nicht, diese Seite von Alkohol, an die wir uns manchmal wenden, wenn wir Ablenkung suchen, auf der Flucht sind vor Alltag und Gefühlen. Und ich finde diese riskante, gesundheitsschädliche Seite wird kleingeredet in einer Gesellschaft, in der Zigarettenpackungen von tendenziell verstörenden bis traumatisierenden Bildern geschmückt, Weinflaschen aber mit Blumen, Tieren und schönen Mustern verziert werden.
Die COVID-Pandemie hat uns das Gefühl von geselligem Beisammensein ziemlich schwer gemacht und übrig geblieben ist bei vielen das Bier am Abend, nur eben ohne Gesellschaft – ohne gute Gefühle.
Trinken wir zu viel? Ja vermutlich. Und vermutlich sollten wir wirklich vorsichtig sein und uns darum bemühen, dass Alkohol einfach ein Freund in schönen Momenten bleibt und nicht zum betäubenden Begleiter in schweren Zeiten wird.
Ich bin mir nicht sicher, wo für mich die Grenzen liegen, und ich bin mir auch nicht sicher, ob die Vorteile und die schönen Momente wirklich überwiegen. Ehrlich gesagt lässt mich das Schreiben dieses Textes zurück mit Lust auf Aperol und der immer gleichen Skepsis.
Wenn du oder jemand in deinem Umfeld dringend Hilfe braucht, erreicht ihr unter 0800-1110111 jederzeit die Telefonseelsorge und unter 116-111 das Kinder- und Jugendtelefon. Hier gelangt ihr zu einem Artikel mit Hilfestellen für 16 häufige Probleme. Außerdem bietet der Gesamtverband für Suchtkrankenhilfe Rat unter 030- 84 31 2355 , sowie die Anlaufstelle Anonyme Alkoholiker unter 08731-3 25 730.
Headerfoto: cottonbro via Pexels. (Kategorie-Button hinzugefügt und Bild gecroppt.) Danke dafür!