Wurden wir nicht alle schon einmal gefragt, wer wir sind und was wir von unserem Leben erwarten? Also ich allein in der letzten Woche viermal und das von völlig unterschiedlichen Menschen.
Von meiner ehemaligen Nachbarin zum Beispiel, als sie sich bei einem Kaffee meiner Beziehung widmete. Oder vom besten Freund meines Freundes, der sich und damit mir die Frage stellte, ob es neben meiner einseitigen Darstellung von Sexualisierung nicht auch noch das Lustprinzip gibt, also die Möglichkeit, sich als Frau einer eigenen und selbstgewählten Sexualität hinzugeben, ohne dem Mann (oder Gegenüber) Macht und Verantwortung rüberzuschieben.
Natürlich hinterließ die sehr eindeutige Wahrnehmung meiner Freund:innen und Bekannten Spuren in mir. War ich wirklich schon in der Lage, klar und eindeutig zu definieren, wer ich bin? Konnte ich mich abgrenzen von Wünschen und Bedürfnissen anderer und meine eigenen Interessen und Motive klar darstellen?
War ich wirklich schon in der Lage, klar und eindeutig zu definieren, wer ich bin? Konnte ich mich abgrenzen von Wünschen und Bedürfnissen anderer und meine eigenen Interessen und Motive klar darstellen?
Wenn ich so darüber nachdachte, musste die Antwort wohl nein lauten. Tatsächlich besitze ich ein feines Gespür für die Gefühle anderer und einen großen Hang dazu, ihnen ihre Wünsche von den Augen abzulesen. Ich bin auch dazu in der Lage zu geben, ohne gleich in ein Gefühl der Selbstaufgabe zu verfallen. Mir erscheint es unkompliziert, die Bedürfnisse anderer zu erfüllen, ja sie sogar zu erahnen, längst noch bevor sich mein Gegenüber derer selbst bewusst ist – aber bei mir selbst bleibt die Leitung blockiert.
Meine Bedürfnisse und Entscheidungen
Möchte ich heute wirklich um sieben Uhr früh das Haus verlassen, damit ich um acht Uhr noch schnell einen Kaffee mit meinem Freund am Bahnhof trinken kann? Ist es mir wirklich ein Anliegen Überstunden zu sammeln, damit meine Chefin zufrieden ihr „Soll“ erreicht? Habe ich etwa schon wieder ja gesagt, obwohl ich nein meinte?
Tatsächlich kann ich mir diese Einstellung nicht mehr lange leisten. Mein Körper japst manchmal, lange bevor mein Geist die eigene Überforderung wahrnimmt. Migräne, Ausschlag, eine Erkältung, Rückenschmerzen oder ein Harnwegsinfekt. Die Symptome sind immer anders, der Auslöser vermutlich derselbe. Ich hetze so wunderbar durch mein Leben, dass ich noch gar keine Pause hatte, um zu schauen, ob es sich dabei wirklich um meines handelt. Wer bin ich also und was möchte ich vom Leben?
Ich hetze so wunderbar durch mein Leben, dass ich noch gar keine Pause hatte, um zu schauen, ob es sich dabei wirklich um meines handelt. Wer bin ich also und was möchte ich vom Leben?
Natürlich nehmen wir uns seit jeher Eigenschaften und Bedürfnissen anderer an. Begonnen in den Kinderschuhen, abgeguckt bei unseren Eltern und später den engsten Bezugspersonen in Familie, Kita und Schule. Bis die sogenannte Peergroup uns sagt, was angesagt ist, hadern wir auch nur selten mit diesem Schicksal der vollkommenen Unterwerfung und Angleichung.
Unsere Eltern, unsere Lehrer:innen, all jene Mentor:innen wollten doch nur unser Bestes. Später kommen die Medien dazu. Mich hat damals noch die Bravo geprägt, heute sind es YouTube-Sternchen und Instagram-Models.
Sich abgrenzen bedeutet, sich selbst zu formen
Sich abzugrenzen ist für jede neue Generation wie für die alte zuvor. Durch die Pubertät formen wir unsere Identität hindurch – einige Glückliche etwas leichtfüßiger und einige Unglückliche gezeichnet für ihr Leben. Wenn wir also bis dahin noch nicht gelernt haben, was uns ausmacht und wirklich wichtig ist, werden wir uns auch später schwertun, dieser Frage sinnhaft nachzugehen. Wir werden uns weiterhin anpassen, unterordnen und lebenslang suchen, nach unserem Sinn, unserer Bestimmung oder unserem Ich.
Wir werden uns weiterhin anpassen, unterordnen und lebenslang suchen, nach unserem Sinn, unserer Bestimmung oder unserem Ich.
Das eigentlich Tragische daran ist gar nicht, dass wir so nicht über die Runden kommen. Wir könnten auf diese Weise auch ein ganz passables Leben führen, ohne Stress, ohne anzuecken und ohne Druck.
Jede:r würde uns für einen Wackelpudding halten, dem es nicht schwer fiele, in jeder Nische Platz zu finden. Nur könnten wir auf die Idee kommen, dass unter all den Vorstellungen von uns, all den Eindrücken anderer und all den auferlegten, anerzogenen, mitgebrachten Einflüssen, kein echter Mensch übrigbliebe. Dieser Pudding würde uns nicht schmecken.
Ich möchte mich häufiger fragen: Bin das ich oder bist das du in meinem Spiegelbild?
Ich möchte mich also häufiger fragen: Bin das ich oder bist das du in meinem Spiegelbild? Die Antwort dürfte uns nicht immer gefallen und wir müssten beide lernen, auszuhalten. Vielleicht gefalle ich mir nicht. Vielleicht gefalle ich dir nicht. Vielleicht gefällst du mir nicht. Vielleicht ist das aber auch völlig egal.
Headerfoto: Saul Joseph via Pexels. (Kategorie-Button hinzugefügt und Bild gecroppt.) Danke dafür!