Wenn im Frühling alles rauscht und aufblüht, verliert sich unsere Wahrnehmungen in den Reizen.
Ständig gibt es etwas Neues zu sehen und Aufregendes zu entdecken.
Die folgenden Leseempfehlungen transportieren diesen Effekt wunderbar in Textform.
Rebekka Kricheldorf – Lustprinzip
Das wohl angenehmste an Rebekka Kricheldorfs Roman sei gleich vorab gesagt: Zwar scheitert die Heldin Larissa andauernd, hört aber nicht auf, sich zu bewegen. So erreicht die Anfang zwanzigjährige Geschichtsstudentin die Universität und steht mal mehr, mal weniger kurz davor, den Hörsaal auch zu betreten.
Sie beschließt, ein gesundes Leben zu führen, schlägt sich dann aber doch die Nächte mit Alkohol und Drogen um die Ohren. Immer ist sie unterwegs und streift auch alle möglichen Szenen des 90er Jahre Berlins ab. Nichts wird ausgespart. Schließlich hat sie sich erst das Wiederkommen ihres geliebten Janeks zur Frist gesetzt, um ihr Leben zu verändern.
So befindet sie sich mal in einem besetzten Haus, dann wieder in einer „echten WG“ mit taz-Abo und Putzplan. Die liebenswürdigsten Protagonist:innen dieses Buches sind die, die noch verlorener sind als sie: die manische Lily, die Autoren auf einer gehobenen Lesung “Joghurtfressen” nennt, den ständig neu verliebten Fabian und den wahrscheinlich bierdeckelklimpernd daher laufenden Lennard. Sie sind tragisch glücklich. Zunächst.
Lustprinzip ist voller Rock ’n‘ Roll, Anarchie und Witz. Und doch: In der Geschwindigkeit dieser Story, die eher eine Odyssee durch das gerade zusammengefügte Berlin darstellt, minimieren sich die Charaktere. Hier wird die Tragik der Geschichte spürbar. Eine kranke Jugend voller Süchte, Sorgen und Krisen kämpft mit der Gegenwart.
Kricheldorf weist gleich zu Beginn ihres Buches darauf hin. “Für alle, die wir unterwegs verloren“ liest sich da noch wie eine Widmung, markiert aber auch ein Grundthema des Buches. Dann knallt aber gleich wieder die nächste Party, der nächste “fickbare” Typ oder irgendeine andere verwirrt liebenswürdige Gestalt in die Szenerie.
Immer im Rampenlicht: die süß-kaputte Gedankenwelt von Larissa. Natürlich könnte man das ständige Update des gegenwärtigen Zustands der Protagonistin als Um-Sich-Selbstkreisen erzählen. Doch wovon soll sie denn sonst erzählen? Nicht einmal das geschieht.
So ist „Lustprinzip“ eine Stichprobe einer Generation, die einen Lifestyle prägt und sich dem nicht bewusst ist, anders als heute. Diese Generation würde nie von “einer Generation” reden. Sie lebt im Jetzt. Und genießt es – mit allen Risiken.
Rebekka Kricheldorf gelingt es, diesen Zustand perfekt darzustellen und damit eine Geschichte zu erzählen, die herzwärmend, abgefuckt und urkomisch ist.
Rebekka Kricheldorf – Lustprinzip
Verlag: Rowohlt Berlin
240 Seiten, 20 €
ISBN: 9783737100694
Cover links: Rowohlt Berlin, Cover rechts: Penguin
Takis Würger – Noah – von Einem, der überlebte
Ein belletristisches Werk über das Leben eines Holocaustüberlebenden, geschrieben von einem deutschen, nicht-jüdischen Autor? Ja und nein.
Takis Würger hat Noah Klieger (1926 – 2018) mehrere Monate in Tel Aviv besucht, ihn interviewt und alles aufgeschrieben. So ist Würgers eigener Auftritt in dieser Erzählung mit ein paar Sätzen abgehandelt:
„Im Frühling des Jahres 2018 sitzt in Tel Aviv ein alter Mann unter einem Kumquatbaum im Garten eines Hochhauses und erzählt seine Geschichte. Sie geht so: (…)“
Der Rest ist eine reportagengleiche Beschreibung des Noah Kliegers, der seiner Jugend beraubt wird, sich immer mehr vom Menschsein entfernt, und sich doch an seine Persönlichkeit krallt.
Durch diese ehrfürchtige erzählerische Distanz wirkt Takis Würger wie ein Moderator, der nur kurz auf die Bühne geht, die Gäste begrüßt, um dann den besonderen Gast vorzustellen: Noah.
Es erzählt die unglaublich wahre Geschichte von Norbert “Noah”, einem Straßburger Juden, der von den Nazis in Belgien gefasst wird, der nach Ausschwitzt deportiert wird, in eine Boxstaffel gelangt, ohne Boxen zu können, von den Gräueltaten Josef Mengeles erzählt, den unvorstellbaren Schrecken des Konzentrationslager-„alltags“ erlebt.
Die Geschichte endet noch lange nicht mit dem Ende des Krieges. Denn schon kurz nach dem ersten Aufatmen und der Befreiung von Ausschwitz durch die Rote Armee, schreibt Würger von einer gescheiterten Flucht nach Palästina. So wird erst am Ende des Buches deutlich, dass Noah Kliegers Leben einem ständigen Kampf um die Freiheit gewidmet war.
Noah ist ein berührendes Manifest gegen das Vergessen. Denn immer wieder kommt beim Lesen die Frage auf, was eigentlich passiert, wenn die, die den Holocaust überlebt haben, nicht mehr darüber erzählen können.
Noah Klieger beantwortet diese Frage kurz vor seinem Tod 2018 scharf und ehrlich: Er wisse es nicht.
Takis Würger – Noah – von Einem, der überlebte
Verlag: Penguin
188 Seiten, 20 €
ISBN: 9783328601678
Sophie Passman – Komplett Gänsehaut
Das gesamte Drama einer Generation liegt in diesem Satz.
Die Generation, von der Sophie Passmann schreibt, redet gerne von Generationen. Und von Drama. Und was dazwischen so passiert, erzählt die Autorin in einer angenehm wütenden Erzählung, die so sehr fließt, dass es wirkt, als würde man gerade neben ihr an der Bar sitzen und darum gebeten haben, sie möge sich beeilen, morgen müsse man früh raus.
Passmann erzählt von Enkeln, die über Stolpersteine gehen und sich über die zu hohen Mieten aufregen, die toxische Freundschaften beklagen, seitdem sie das Wort „toxisch“ kennen und sich wohl oder übel in der neuen “Bürgerlichkeit” befinden.
So ist “Komplett Gänsehaut” weniger Satire, viel mehr ist es eine etwas verzerrte und überspitze Spiegelung der Gesellschaft. Na klar steckt dieses Buch voller Komik, aber durch das Konsequente übernimmt die Theorie und schnell wird klar, dass Sophie Passmann alles Wahre, alles Unappetitliche der Gegenwart uns trotzdem in das Bewusstsein schmuggelt, in dem sie es mit Humor verpackt.
So entsteht ein schneller, scharfer Schnappschuss der Gegenwart der Zugezogenen, derer, die es werden wollen und all jener, die noch nicht so genau wissen und sich erstmal auf sich konzentrieren. Großartig.
Sophie Passmann – Komplett Gänsehaut
Verlag: Kiepenheuer & Witsch
192 Seiten, 19 €
ISBN: 9783462053616
Cover links: Kiepenheuer & Witsch, Cover rechts: FISCHER Kinder- und Jugendbuch
Martin Schäuble – Cleanland
Ein Roman zur Stunde. Martin Schäubles Jugendroman entwirft eine Art Science-Fiction-Szenario, das nicht weit weg von der Gegenwart wirkt. Es geht um Isolierung, Hygiene und gesundheitliche Sicherheitsmaßnahmen. Die Menschen in Cleanland leben geschützt von Krankheiten jeder Art. Alles ist sicher und steril in Cleanland, dem Land der Reinen.
Der Knackpunkt: Es gibt scharfe Kontaktbeschränkungen. So ist es nur erlaubt, eine Person zu sehen. In der hochmodernen Welt verliebt sich Shilo in Toko, einen Cleaner, der nachts die Straßen und Gebäude desinfizieren muss. Die sich entwickelnde Beziehung widerspricht den geltenden Regeln und stellt Shilo vor die Entscheidung: Liebe oder Sicherheit?
Martin Schäuble strotzt dem Hadern vieler Autor:innen, die Corona-Pandemie als Vorbild für Storys zu verwenden.
Mit Erfolg!
„Cleanland“ ist unaufgeregt und doch hochemotional. Eingängig und eine mitreißende Jugenstory, die an keiner Stelle reaktionär wirkt oder fristbeladen gegenüber der vorherrschenden Coronapandemie. Es ist ein Gedanken- und zum Teil auch Philosophiespiel. Und vor allem: eine mitreißende Geschichte.
Martin Schäuble – Cleanland
Verlag: FISCHER Kinder- und Jugendbuch
208 Seiten, 14 €
ISBN: 9783737342575
Rafael Horzon – Das Neue Buch
Nach seinem Erfolg mit „Das weiße Buch“ will der Unternehmer Rafael Horzon ein neues Werk vorlegen. Darüber schreibt Rafael Horzon.
Es geht sehr viel um Rafael Horzon, der über seinen Anwalt sicherstellt, auf keinen Fall als Künstler oder Schriftsteller bezeichnet zu werden. Er ist Unternehmer und leitet unter anderem ein Designer Möbelgeschäft in Berlin: Moebel Horzon.
All das ist Stoff in „Das Neue Buch“. Das Ableben des Freundes Carl Jakob Haupt, Teil der Berliner High-Class-Kulturszene, neben Personen wie Moritz von Uslar, Christian Kracht und Gästen wie Young Hurn bildet einen emotionalen Faden, an dem der Held sich umso mehr als Beobachter beweist, zwischen Absurdität und Ironie.
Rafael Horzon schreibt über das Leben eines Ideenfinders und Lebemannes, immer ein bisschen übergenau und überprivat. Zum Glück entschuldigt er sich nicht in irgendeiner Weise beim Schreiben. Dabei entsteht ein bisschen Trash, viel Pop und sehr viele „Insider“.
Das ist nicht immer klar verständlich, sondern lesestimmungsschwankend und das ist gut so.
Rafael Horzon – Das Neue Buch
Verlag: Suhrkamp
303 Seiten, 20 €
ISBN: 9783518470947
Cover links: Suhrkamp, Cover rechts: Nautilus Flugschrift
Jacinta Nandi – Die schlechteste Hausfrau der Welt
„Die schlechteste Hausfrau der Welt“ erzählt von der modernen Hausfrau, widerwillens.
„Stellen Sie sich vor, Sie sind gebildet, in einer offenen Gesellschaft überzeugte Feministin und ihr Partner entzieht sich selbstsicher der Hausarbeit? Was dann?“ Die Autorin Jacinta Nandi hat dieses Thema seziert. In „Die schlechteste Hausfrau der Welt“ reflektiert sie die Heimarbeit, die alltäglichen Sorgen und Herausforderungen einer Künstlerin und Mutter, die auf sich allein gestellt ist.
Besonders eigenartig, wenn auch authentisch dargestellt, wirken die Reaktionen des Umfelds auf ihre Lage, auch das seltsame Sich-Hilflos-Fühlen, obwohl es doch so etwas wie Selbstbestimmung gibt. Etwa wenn sie mit einer Freundin diskutiert, wer nun die schlechteste Hausfrau der Welt ist.
Jacinta Nandi schreibt kein wissenschaftliches Buch über Probleme der männerdominierten Gesellschaft. Sie zeigt sie auf. Und verbindet damit Storytelling mit Gesellschaftsanalysen. Beschreibt den ständigen Druck und die Kraft, die es braucht. Hilfreich sind dabei Geschichten, in denen es um Alltägliches wie Mülltrennen, Babysitten, die AOK und Netflix geht.
Die Geschichten transportieren die Wut über die Akzeptanz eines geschlechterspezifisch-ungerechten Selbstverständnis‘ mit Humor, dem sich die Autorin zusätzlich noch mit scharfen Beobachtungen und sorgfältigen Beschreibungen stellt.
Jacinta Nandi legt mit „Die schlechteste Hausfrau der Welt“ ein extrem witziges, gleichsam groteskes und doch aufregendes Buch vor!
Jacinta Nandi – Die schlechteste Hausfrau der Welt (Ein Erfahrungsbericht und Manifest)
Verlag: Nautilus Flugschrift
208 Seiten, 16,00 €
ISBN: 9783960542407
Anna Prizkau – Fast ein neues Leben
In 12 Geschichten schreibt Anna Prizkau vom Zurechtkommen in einer neuen Heimat, vom Nicht-Dazugehören, davon, dass andere sagen, dass man sehr wohl dabei ist.
Die Autorin kam selbst in den 1990er Jahren gemeinsam mit ihrer Familie nach Deutschland. In den Storys beleuchtet Anna Prizkau dieses neue Leben. Von begehrenswerten Jungen, von jungen Frauen, die aus sozialer Not zur Kriminalität gezwungen werden, von Migrant:innen, deren stete Begleiterin die Ablehnung ist. Die sozialen Atmosphären wechseln dabei ständig, geben dynamisch den Zugang für die Erzählungen frei.
Das alte Land hat die Erzählerin hinter sich gelassen. Ihre Beschreibungen lassen es vermuten, aber benannt wird es doch nie. Das spielt auch keine Rolle. Das Land, in dem sie lebt, ist es nicht. Das Neue ist ein großer Raum, in dem ihre Figuren beobachtet werden.
Anna Prizkau gelingt es auf magische Art, dieses Gefühl zu transportieren. Man duckt sich beim Lesen, sieht sich selbst neben der Geschichte wie ins Außen versetzt von denen, die in der Realität der Erzählerin einfach weitergehen können.
Stehen bleiben geht ja auch nicht, sagen auch die Geschichten, weswegen sie kein Leid stilisieren. Das brauchen sie auch nicht.
Anna Prizkau schafft es, ihren Figuren in „Fast ein neues Leben“ Zärtlichkeit zu verleihen, sie gegen die durch eigene Beobachtungen aufgebaute Härte laufen zu lassen. Ein kleines Zauberwerk.
Anna Prizkau – Fast ein neues Leben
Verlag: Friedenauer Presse
111 Seiten, 18,00 €
ISBN: 9783751806008
Cover links: Friedenauer Presse, Cover rechts: Suhrkamp
Clemens J. Setz – Die Bienen und das Unsichtbare
Clemens J. Setz ist bekannt dafür, Literatur nicht nur zu gestalten, sondern die Beschäftigung des Schreibens mit abstrakten Bezügen zu versehen. Jetzt hat er ein Buch über Sprachen geschrieben. Und zwar über besondere von Menschen geplante, konstruierte Sprachen.
Zwar handelt es sich bei „Die Bienen und das Unsichtbare“ wohl am ehesten um ein erzählendes Sachbuch, aber es gewährt dem Blick der Leser:innen eine Vorstellung von Clemens J. Setz‘ Arbeit und wirkt dadurch wie ein Roman. So bezeichnet er sein neues Werk auch sinngemäß als „das Abenteuer eines denkenden Kopfes“.
Clemens J. Setz gibt sich hier nicht als Universalgenie, sondern selbst als Interessierter, der mehr über die verschiedenen Versuche und Resultate von Menschen, die Sprachen erfanden, lernen möchte. Warum entstehen solche konstruierten Sprachen überhaupt?
Die Bliss-Symbolics wurde beispielsweise dafür verwendet, um beeinträchtigten Kindern, die keine Möglichkeit haben, sich auszudrücken, das Sprechen beizubringen.
Von der ersten verhältnismäßig weitverbreitetsten Welthilfssprache Volapük über Esperanto und weiteren existierenden Plansprachen werden verwandte Grundmotive für ihre Entstehungen deutlich. So haben absolute Einzelgänger in Isolations- oder Einsamkeitssituationen Plansprachen erfunden, auf der Flucht oder mit dem Hintergrund einer durchlebten strapaziösen Kindheit. Der Erfinder von Esperanto war beispielsweise ein polnischer Geflüchteter. Es geht also um Personen, die einsam sind.
Alle Sprachen eint der Wunsch, sich auszudrücken.
Das Buch gibt auch Einblicke in historische Momente des Nonsens und der Nonsens-Sprachen. Etwa, wenn es davon erzählt, wie in den 70ern und 80ern „Uncreative Writing Seminare“ aufkamen oder wie die jüngste Tochter von Thomas Mann ihren Hund Gedichte schreiben ließ.
Clemens J. Setz beweist in seinem neuen Buch zugleich sein Talent für Komik und spiegelt Wissbegierde. So legt er mit „Die Bienen und das Unsichtbare“ ein innovatives Werk über ein Thema vor, das ungeheuer Lust auf Lernen macht.
Clemens J. Setz – Die Bienen und das Unsichtbare
Verlag: Suhrkamp
416 Seiten, 24 €
ISBN: 9783518429655