Zwischen Selbstoptimierung und Selbstzerstörung – Der verzweifelte Versuch, der Norm zu entsprechen

Ich weiß ja nicht, wie es euch so geht, auch wenn ich es ahne, da dieses Thema einfach allgegenwärtig ist und man eigentlich nicht daran vorbeikommt. Aber ich für meinen Teil möchte wirklich, also ganz ernsthaft, zur besten Version meiner selbst mutieren.

Ich für meinen Teil möchte wirklich, also ganz ernsthaft, zur besten Version meiner selbst mutieren.

Ich möchte den ganzen Vorbildern aus meiner Selbsthilfe-Literatur, den Podcast- und Instagram-Realitäten nacheifern, meine optimale Morgen-Routine entwickeln, meine Talente fördern und ausleben, meine Gefühle immer sofort verstehen, nein – am besten sogar im Voraus erahnen und dann mit den passenden Strategien kontrollieren.

Ich möchte meine Ziele visualisieren und mich auf ihre Erfüllung fokussieren, mich mit all meinen guten und schlechten Seiten annehmen, bis dass der Tod meine unsterbliche Seele von meinem sterblichen Körper scheidet.

Das Abweichen von der Norm: „Mängelexemplare“

Das wünsche ich mir wirklich und dann halte ich auf einmal meine neueste Literatur-Errungenschaft aus der Selbstoptimierungskiste in den Händen, welche ich – natürlich – Second Hand, aber – auch irgendwie normal – online über den gelben, süffisant lächelnden Versand-Riesen bestellt habe.

Doch dieses Buch ist gar nicht bereits durch andere Hände gegangen und hat auch noch keine anderen Köpfe mit wertvollem Wissen gefüllt. Nein, auf der Unterseite sieht man leichte Kerben in den Seiten, vielleicht 4 mm breit und keine 2 mm tief und darüber fett mit roter Farbe aufgestempelt „Mängelexemplar“.

Gebrandmarkt und für nicht gut genug befunden. Und irgendwie stimmt mich das traurig. Dieses Buch entspricht sonst in allen optischen Bereichen dem Ideal und – was noch viel wichtiger ist – der Inhalt, das, was dieses Buch aus- und wertvoll macht, unterscheidet sich ja überhaupt nicht von seinen kerbenfreien Brüdern und Schwestern. Aber es ist eben nicht in allen Belangen perfekt.

Auch, wenn diese kaum sichtbare Macke die Funktion in keiner Weise einschränkt: Es ist weniger wert.

Was nicht der Norm entspricht, hat keine Berechtigung, in den Regalen unserer gängigen Supermärkte zu landen. 

Gleiches gilt für unsere Gesundmacher à la Obst und Gemüse. Was nicht der Norm entspricht, hat keine Berechtigung, in den Regalen unserer gängigen Supermärkte zu landen, sondern wird auf dem Feld liegen gelassen und somit direkt wieder dem Kreislauf des Lebens zugeführt.

Ein perfekt runder Apfel oder die Banane mit der richtigen Krümmung schmecken ja auch viel besser. Und irgendwelche siamesischen Rüben kommen mir gar nicht erst in die Tüte!

Zum Glück ist unsere Gesellschaft hier schon auf dem Wege, auch mal umzudenken. Wenigstens was Bio ist, darf auch nach Natur und muss nicht nach Fließband aussehen.

Zum Glück ist unsere Gesellschaft hier schon auf dem Wege, auch mal umzudenken. Wenigstens was Bio ist, darf auch nach Natur und muss nicht nach Fließband aussehen. Die etepetete GmbH beispielsweise setzt sich mit ihren Bio-Boxen sogar konsequent für nicht normgerechte Obst- und Gemüseexemplare ein. Yeah Baby, auf die inneren Werte kommt es an! Und auf die hat das Erscheinungsbild – zumindest bei Obst und Gemüse – erfreulicherweise keinen Einfluss.

Der schmale Grat zwischen Selbstoptimierung und Selbstzerstörung

Ich arbeite, je nach aktuellem Leidensdruck und Stimmung, mehr oder weniger hart daran, zur besten Version meiner selbst zu werden. Und bin dementsprechend auch immer mal mehr, mal weniger angepisst von mir selbst.

Prokrastination könnte mein zweiter Vorname sein. Und wenn ich mal ehrlich sein darf: Das ist verdammt anstrengend. Weil ich es eben nicht immer und durchgängig schaffe, mich selbst zu optimieren und meinen hohen Ansprüchen, die ich meine, von mir haben zu müssen, gerecht zu werden, geht es mir letztendlich irgendwann schlechter als vorher.

Und wenn das so weitergeht, komme ich schleichend von der versuchten Selbstoptimierung zur schrittweisen Selbstzerstörung.

Das ist verdammt anstrengend: Weil ich es eben nicht immer schaffe, mich selbst zu optimieren und meinen hohen Ansprüchen, die ich meine, von mir haben zu müssen, gerecht zu werden.

Ich mache jetzt mal was ganz Verrücktes und versuche einfach mal ok mit mir zu sein. Mal planlos und verloren, mal diszipliniert und fleißig. Mal mit Bock auf Low-Carb, mal mit Heißhunger auf gefüllte Pizzabrötchen mit Aioli und nem XXL-Double-Chocolate-Cookie hinterher. Mal unsicher und verzagt, mal selbstbewusst und mutig. Mal voll zen-mäßig nett, mal eher Lästerschwester.

Ich mache jetzt mal was ganz Verrücktes und versuche einfach mal ok mit mir zu sein.

Ich bin gespannt, wie lange ich es durchhalte, bis mich die nächste Selbstoptimierungswelle mitreißt und in die Fluten dieser Massenbewegung spült. Es war halt noch nie leicht, gegen den Strom zu schwimmen.

HerzKopfPapier ist rheinische Frohnatur mit brasilianisch-ostpreußischen Wurzeln und relativ neue Wahl-Berlinerin. Sie schreibt, weil ihr Herz was zu sagen hat. Ihr Kopf versucht, das zu Papier zu bringen. Nur sind sich Herz und Kopf nicht immer einig, Papier aber zum Glück geduldig. Und manchmal kommt dann was Gutes dabei raus, das sie nur zu gerne in die Welt trägt. Ihr Geld verdient sie als Presentation Designer und macht PowerPoint-Präsentationen für andere hübsch und einprägsam. Zum Leben braucht sie zudem Sport, Musik und Liebe, denn nichts geht ohne Liebe. Ach ja: Und Schokolade. Mehr von HerzKopfPapier findet ihr auf ihrer Webseite.

Headerfoto: Milada Vigerova via Unsplash. (Kategorie-Button hinzugefügt und Bild gecroppt.) Danke dafür! 

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