Wir schreiben das Jahr 2020, Rosemarie ist 88 Jahre alt und lebt auf circa 30 Quadratmeter im Süden Berlins. Es ist der 26.12.2020, zweiter Weihnachtsfeiertag,, und ich mache mich auf den Weg vom hippen Prenzlauer Berg in den abgelegenen Stadtteil Rudow. Endstation U7. Hier wohnt Rosemarie. Allein.
Sie hat keine lebenden Familienangehörigen mehr und ist somit nicht nur durch Corona in stundenlanger Einsamkeit in ihrer Einzimmerwohnung gefangen. Sie hat sich letztes Jahr bei einem Sturz das Bein gebrochen, nun ist sie selbst in der kleinen Wohnung auf einen Rollstuhl angewiesen.
Als sie mir die Tür öffnet, blicke ich in ihre gutmütigen, wachen Augen. Wir wissen in der ersten Sekunde, dass wir uns gut verstehen werden. Nicht einen Moment fühle ich mich unangenehm berührt oder unwohl dabei, mich in ihrer Wohnung zu bewegen. Das muss ich nämlich.
Das erste Thema ist kein schönes, aber das, das jedem Menschen, der in dieser Zeit lebte, wohl ins Gedächtnis gebrannt wurde: der Krieg.
Ich habe Ente und Klöße dabei, ein schönes Weihnachtsessen für uns beide. Rosemarie hat sich ein „Wirtshausessen“ gewünscht – da bin ich ganz froh, bei „selbstgekocht“ hätte sie mich danach womöglich nie wieder zu sich eingeladen.
Nachdem wir das Essen erwärmt und die Stühle so gedreht haben, dass wir gemeinsam am Tisch sitzen können, kommen wir vom ersten Kennenlernen zu Geschichten aus ihrer Vergangenheit. Das erste Thema ist kein schönes, aber das, das jedem Menschen, der in dieser Zeit lebte, wohl ins Gedächtnis gebrannt wurde: der Krieg.
Rosemarie erzählt von ihrem an der Front gefallenen Bruder und dass ihre Mutter diesen Verlust nie ganz überwinden konnte. Sie erzählt vom Galgen auf dem Marktplatz und wie grölende SS-Männer den Tod der vermeintlich Schuldigen zur Schau stellten. Sie erzählt von den damaligen Medien und warum, wie sie glaubt, auch heute die Berichterstattung, egal auf welchem Kanal, nie für 100% vertrauenswürdig gehalten werden sollte.
Wie kann ein Mensch anderen Gräueltaten antun?
Ich hänge wie gebannt an ihren Lippen und bin so unendlich dankbar, dass wir in Deutschland gerade „nur mit einem Virus“ und nicht mit harscher menschlicher Gewalt kämpfen müssen. Natürlich sterben während der Pandemie auch Menschen und das ist grausam, die Gewalt geht aber nicht von unserer Spezies selbst aus. Das macht für mich einen großen Unterschied.
Seit Langem denke ich wieder mal eindringlich über die Gräueltaten nach, die in den beiden Weltkriegen stattgefunden haben. In Berlin sind wir quasi täglich mit deutscher Geschichte konfrontiert. Erschreckt merke ich allerdings, dass der Alltag und die aktuellen Geschehnisse ablenken und auch die hitzigen Diskussionen aus Schulzeit und Studium nur noch im Hinterkopf lagern.
Für Menschen wie Rosemarie fühlt sich jeder Gedanke daran wahrscheinlich wie ein Flashback zurück an Ort und Stelle an. So wirkt es zumindest, wenn sie davon erzählt. In ihren dunklen Augen sehe ich ein kleines Mädchen, das die Welt nicht versteht und doch so viel Weisheit in sich trägt.
In ihren dunklen Augen sehe ich ein kleines Mädchen, das die Welt nicht versteht und doch so viel Weisheit in sich trägt.
Die mich am tiefsten erschütternde Frage bei diesem Thema ist: Was passiert in den Menschen, die anderen solches Leid antun können? Was bewegt Menschen dazu, sich zu quälen und das Leben anderer als minderwertig anzusehen? Was geht in dir vor, wenn du denkst, du hättest das Recht, das Leben eines anderen, aus welchen Gründen auch immer, zu beenden? Ist ja nicht so, als würden die Menschen heutzutage in Frieden zusammenleben.
Mir fällt ein, dass Edward Snowden in seiner Biographie das Thema der Veränderung in der US-amerikanischen Bevölkerung in Folge des Ground Zero beschreibt. Er erzählt, wie er den Tag 9/11 erlebt hat und wie es sich anfühlt, das Gefühl der Sicherheit für sich, seine Familie und „sein Land“ zu verlieren.
Diese Verunsicherung hatte zur Folge, dass die Bevölkerung und deren politische Vertreter das Land der unbegrenzten Möglichkeiten mit sofortiger Wirkung in einen Sicherheitsstaat verwandelten, in dem es sich für oder gegen Amerika zu entscheiden galt. Was dann geschah wissen wir: 9/11 hat circa 3000 Menschen ihr Leben gekostet, Amerika tötete in ihrem anschließenden Rachefeldzug bis heute mehr als eine Million Menschen.
Was wir alle für eine bessere Welt tun können
Jetzt sind wir an dem Punkt: Wer hat angefangen und muss wirklich irgendjemand Recht haben? Die ganze Welt als ein Land mit gemeinsamen Interessen zu sehen, halten viele anscheinend für absolut abwegig. Dass jede:r die Welt nur durch seine:ihre eigenen Augen sieht, wissen wir auch.
Ob es Krieg in der Welt, die vergessenen Flüchtenden oder Corona ist, am liebsten wollen wir doch einfach manchmal den „Off-Button“ drücken. Wo kann also jede:r persönlich anfangen, ohne an der Komplexität des Weltgeschehens zu verzweifeln? Ich glaube, wie immer: bei uns selbst.
Wie oft halte ich mich für die mit den vorbildlichsten Moralvorstellungen und lasse andere Meinungen nicht zu? Wie oft verfalle ich regelrecht in Rage, wenn es um Gerechtigkeitsthemen geht, habe aber keine Ahnung von den Hintergründen der Ansichten der:des anderen?
Wo kann also jede:r persönlich anfangen, ohne an der Komplexität des Weltgeschehens zu verzweifeln? Ich glaube, wie immer: bei uns selbst.
Klein anfangen, bringt mich schon einen großen Schritt weiter. Worum geht es? Im Grunde genommen doch um Verständnis, Vergebung und Empathie. Wenn es auch noch so schwer ist, sich das in Streitsituationen bewusst zu machen.
… Und all diese Gedanken nach einem einzigen Besuch bei einer einsamen alten Dame. Ich packe die Reste der Ente in Rosemaries Kühlschrank und freue mich auf ein baldiges Wiedersehen. Ich bin sehr gespannt, was sie mir über das Leben als junge Frau in der DDR berichten wird.
Wer auch darüber nachdenkt, ein bisschen Liebe in die Gesellschaft zu bringen: Es gibt sicher auch in deiner Stadt, deinem Bezirk oder deinem Dorf Organisationen, die sich für das Wohl von Menschen und Tieren einsetzen.
Anm. d. Red.: Wir finden es wichtig, einzelne Perspektiven von Betroffenen und die damit verbundenen Belastungen in der Corona-Pandemie zu zeigen. Wir sind alle auf unsere ganz persönliche Weise betroffen. Die meisten Maßnahmen sind aus unserer Sicht berechtigt und notwenig, um die Pandemie einzudämmen – auch wenn das Einhalten schwerfällt. Alle Artikel zum Thema Corona findest du hier.
Natürlich heißt Rosemarie in Wirklichkeit nicht Rosemarie, wohnt in einer anderen Ecke der Stadt und Abstands- und Hygieneregeln werden auch bei Besuchen stets eingehalten.
Headerfoto: Damir Bosnjak via Unsplash. („Gesellschaftsspiel“-Button hinzugefügt.) Danke dafür!