Dolly Alderton, dir gebührt mein tiefster Dank für deinen hinreißenden Roman Gespenster, den ich in Rekordgeschwindigkeit durchgesuchtet habe, weil er so unterhaltsam ist und bleibende Eindrücke zu den großen Fragen des Lebens hinterlässt. Worum geht’s? Darum geht’s:
Nina George Dean ist 32, wohnt in einer Eigentumswohnung in London, steht kurz vor der Veröffentlichung ihres zweiten Kochbuchs und arbeitet schon am dritten, ist Single und meldet sich am Abend ihres Geburtstags erstmals bei einer Dating-App an. Ihr erstes Date scheint ein umwerfender Volltreffer zu sein: groß, gutaussehend, einfühlsam. Und plötzlich, nach unzähligen weiteren Dates ist er nur noch eins: verschwunden.
Während Nina versucht, ihn wiederzufinden oder doch zumindest zu verstehen, wieso er nicht mehr da ist, wuppt sie nebenbei den ganz normalen Wahnsinn der 30er: (Zerbrechende) Freundschaften, Partys, Nachbarschaftsstreits, Katertage, Familienplanung, Krankheiten, die wacklige Beziehung zu ihren Eltern und ihre Arbeit als erfolgreiche Food-Journalistin und Autorin. Das alles fühlt sich sehr realistisch und vielschichtig an!
„Immernoch Single“, eine brüchige Freundschaft und zu viel Alkohol
Ninas Freund:innen sind größtenteils verliebt, verlobt, verheiratet und mitten in der Familiengründung. Sie ist einer der letzten Singles ihres Freundeskreises. Ihre Eltern wohnen in einem Vorort von London und auch ihre beste und älteste Freundin Katherine kehrt der Stadt schließlich den Rücken, um in Surrey ein ruhigeres Leben mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern zu führen.
Nicht nur die geographische Entfernung der beiden Freundinnen wird größer, auch zwischenmenschlich hat sich seit Katherines erstem Kind einiges geändert, die grundverschiedenen Lebenskonzepte und die Risse im Fundament ihrer Freundschaft scheinen unüberwindbar. Und so geraten die beiden Freundinnen immer wieder aneinander.
Selten habe ich eine so aufrichtige Darstellung einer langjährigen Freundschaft gesehen: Man entwickelt sich unterschiedlich, geht sich auf die Nerven, streitet und findet im besten Fall irgendwann wieder zueinander. In diesem Fall mit viel Alkohol und – so ist das Leben halt – viel Erbrochenem.
Selten habe ich eine so aufrichtige Darstellung einer langjährigen Freundschaft gesehen: Man entwickelt sich unterschiedlich, geht sich auf die Nerven, streitet und findet im besten Fall irgendwann wieder zueinander.
Nebenbei ist Nina damit beschäftigt, sich um ihren Vater zu kümmern und ihre Mutter davon zu überzeugen, dessen fortschreitende Demenz endlich ernst zu nehmen. An manchen Tagen erkennt er seine eigene Tochter nicht, an anderen ist er glasklar und kann Geschichten zum Besten geben, die sich exakt so vor zehn Jahren ereignet haben.
Nina wird Zeugin seiner verblassenden Erinnerung, der stets vorübergehenden hellen Erleuchtung und des gänzlichen Verschwindens. Sie begibt sich in Welten ihrer Erinnerung und versucht den Menschen zu vermessen, der sie für ihren Vater eines Tages sein wird, wenn all die gemeinsamen Momente in seinem Gedächtnis ausradiert sind.
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Dating-Guru? Ja, bitte!
Lola, Ninas einzige verbleibende Single-Freundin, agiert schließlich als ihr Dating-Guru. Und so sehr ich mir zu meinen eigenen Dating-Zeiten dieses Buch als verständnisvolle Schulter zum Anlehnen gewünscht hätte (Dolly, wo warst du all die Jahre?), so sehr benötigen wir alle eine Freundin wie Lola, die uns durch die Grausamkeiten des romantischen Miteinanders navigiert.
Sie erzählt von den inoffiziellen Regeln, die sich in ihren zehn Jahren (Online-)Dating herauskristallisiert haben, von Männern, die zu bequem sind, sich einen Ort fürs erste Treffen einfallen zu lassen und von solchen, die ihre Altersgrenze bei 30 setzen und Nina somit kategorisch ausschließen. Danke für Nichts!
Nina hat sich in nichts verbindliches Romantisches gestürzt, seit sie sich drei Jahre zuvor von ihrem ersten und einzigen Freund getrennt hat, der nach wie vor eine ihrer engsten Bezugspersonen ist. Es gab ein paar One-Night-Stands, um sexuelle Eskapaden ihrer 20er nachzuholen, aber mehr war für Nina seit der einvernehmlichen Trennung von ihrem Ex nicht drin.
Mit hinreißendem Blick aus moosgrünen Augen verspricht er ihr gleich beim ersten Date, sie eines Tages zu heiraten. Zum Dahinschmelzen!
Fortan verliert sie sich auf der App Linx im „zwanghaften Wischen nach rechts und links“ – und mal ehrlich: Ist uns, der Spezies derer, die mit Online-Dating-Apps erwachsen werden, das nicht allen schon passiert? Bevor ich je ernsthaft online datete, betrachtete ich Tinder als ein Spiel, das zum Einsatz kommt, während ich mich mit nicht allzu anspruchsvollen audio-visuellen Inhalten beschalle.
Dolly Alderton liefert mit Ninas Dating-Geschichten einen witzigen, geistreichen Lagebericht des Online-Datings per App, der so eins zu eins in Deutschland angewendet werden kann. Ersetze Linx durch Tinder & Co und dann: willkommen in der Realität des Seins. Nina wischt sich fleißig durch verschiedene Männer, zusammen mit Lola analysiert sie jede Nachricht haarklein und trifft sich schließlich mit Max – groß gewachsen, Outdoor-Typ, unglücklich in seinem Job. Und mit hinreißendem Blick aus moosgrünen Augen verspricht er ihr gleich beim ersten Date, sie eines Tages zu heiraten. Für alle, die Bock auf Verbindlichkeit und Ehe haben, ist das einfach nur zum Dahinschmelzen!
Nina ist ein bisschen wie ich. Der erste Mann, den ich je ernsthaft über Tinder traf (davor gab es nur zwei Tinder-Dates: ein Doppeldate mit einer besten Freundin – zählt irgendwie nicht – und ein Date mit einem Mann, den ich vorher bereits auf einer Wohnungsbesichtigung kennengelernt hatte), ist heute mein Partner. Ähnlich scheint es bei Nina zu laufen, bis sich eine meiner Befürchtungen bezüglich des Romantitels doch noch bewahrheitet – denn dieser bezieht sich eben auch aufs Ghosting: Nach drei wunderbar verliebten Monaten ist Max plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Autsch.
Lasst euch von Gespenster durchs Leben navigieren!
Dolly Alderton entzückt seit Jahren tausende Leser:innen mit ihrer Dating-Kolumne in der Sunday Times, ist selbst Anfang 30, erfahrene Online-Daterin, leider auch schon das ein oder andere Mal geghostet worden und packt all ihre Erfahrungen, die Beobachtungen, ganz viel Liebe und eine Menge Fantasie in ihren Debütroman.
2018 begeisterte Alderton bereits mit ihrem Memoir Alles, was ich weiß über die Liebe, das die Erkenntnisse ihrer 20er zusammenfasst und den britischen National Book Award gewonnen hat. In ihrem ersten Roman widmet sie sich nun den großen Themen der 30er: der Konfrontation mit neugeborenem Leben und voranschreitendem Verfall, dem Erwachsenwerden und natürlich der Liebe – aufregend!
Mit Nina kreiert Alderton einen Charakter, mit dem sich viele Leser:innen in ihren 30ern identifizieren können. Und darüber hinaus überhaupt jede:r, der:die schon mal (online) gedatet hat, der einzige übrige Single im Freundeskreis war, zerbrochene Freundschaften betrauert oder Krankheit in der Familie erlebt hat.
„Same“ möchte man schreien oder doch zumindest „relatable“ seufzen, wenn man von Seite zu Seite immer tiefer in Ninas Geschichte eintaucht und sich plötzlich mit dem eigenen Ballast auf den verwinkelten Straßen des Erwachsenwerdens wiederfindet.
Dolly Aldertons Debütroman Gespenster schafft keines der genannten Probleme final aus der Welt – abgesehen vom Nachbarschaftsstreit, der sich nach einer intensiven Auseinandersetzung in Luft auflöst – es bietet dafür um so mehr Trost, Verständnis und größte Freude. „Same“ möchte man schreien oder doch zumindest „relatable“ seufzen, wenn man von Seite zu Seite immer tiefer in Ninas Geschichte eintaucht und sich plötzlich mit dem eigenen Ballast auf den verwinkelten Straßen des Erwachsenwerdens wiederfindet.
Darüber hinaus bietet Gespenster einen Einblick in unser Leben jenseits von Corona – und nichts hat mir bisher so viel Vorfreude auf das Ausgehen, Freund:innen treffen, Verreisen gemacht und mich gleichzeitig so schön aus dem Corona-Alltagstrott rausgeholt, wie dieser Roman. Außerdem hat er einmal mehr gezeigt, wie wichtig, wertvoll, vielfältig und inspirierend Freundschaften sind. Insbesondere zwischen Frauen!
Ich muss wohl abschließend nicht noch anhängen, dass ich dieses hinreißende Buch sehr empfehlen kann.
Und für alle, die nach ihrem Roman, Dollys Memoire und den zahlreichen Kolumnen noch nicht genug von Dolly haben: Hier geht es zu ihrem Instagram für noch mehr Input dieser feministischen Ikone. Yay!
Dolly Alderton – Gespenster
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg, 2021
Hardcover, 384 Seiten, 22,00 €
ISBN: 9783455011098
Headercollage: Foto der Autorin von Alexandra Cameron. Vielen Dank dafür.
Werbung: Dieser Post wird vom Atlantik-Verlag finanziell unterstützt. Damit wir unsere Vermiter:innen nicht ghosten müssen. Danke dafür! <3