Ausufernde Achtsamkeit: Wenn aus zu viel Selbstliebe Rücksichtslosigkeit wird

Laut Definition (danke Google) ist Achtsamkeit „die bewusste Wahrnehmung und das Erleben des aktuellen Momentes. Und zwar mit allem, was dazu gehört: Gedanken, Emotionen, Sinneseindrücke, körperliche Vorgänge und alles – einfach alles, was um einen herum geschieht und in die eigene Wahrnehmung fällt.“

Achtsam-sein, sich selbst und seinen Mitmenschen gegenüber. Das Gegenteil von Ignoranz.

Da wären wir auch schon beim Knackpunkt: „… einfach alles, was um einen herum geschieht.“ Hierzu gehören die eigenen Mitmenschen ebenso wie die Umwelt. Was ich damit sagen will? Zuletzt ist mir immer öfter aufgefallen, wie schnell dieser Begriff zweckentfremdet und für die Legitimation des eigenen Egoismus missbraucht wird.

Natürlich hat Selbstliebe auch viel mit dem eigenen Selbstbewusstsein zu tun, denn nur wer sich selbst liebt, ist sich seiner selbst sicher und seiner Großartigkeit bewusst. Dennoch fühlt es sich manchmal so an, als würde die ein oder der andere mit steigendem Selbstbewusstsein jegliches Bewusstsein für sein:ihr Umfeld verlieren. Grenzen werden auf einmal nicht bloß gesetzt, sondern mit Stacheldraht gesichert und von tiefen Gräben umzäunt.

Manchmal fühlt es sich so an, als würde die ein oder der andere mit steigendem Selbstbewusstsein jegliches Bewusstsein für sein:ihr Umfeld verlieren.

Auf einmal ist es nicht mehr selbstverständlich, sich gegenseitig zu unterstützen und Sätze wie „Ich bin jederzeit erreichbar für dich“ weichen indirekten verbalen Schellen wie „Wenn es sein muss, kannst du mich gern kontaktieren, aber bitte via Nachricht und nicht per Telefon. Ach ja, Voice Mail ist auch okay, aber bitte nicht zu lang, denn es ist ja so nervig, diese abzuhören“.

Empathie geht anders und mit Verständnis hat das erst recht nichts zu tun. Natürlich ist es wichtig, Grenzen zu setzen. Allerdings frage ich mich, welche Ängste bzw. wie viel Genervtheit hier eigentlich wirklich hinter steckt. Diese Aussprüche mit Achtsamkeit und Selbstliebe, wohl eher Selbstschutz, zu begründen, wirkt auf mich völlig verklärt.

Man kann Menschen auch helfen oder zuhören, ohne dabei seine eigenen Ressourcen aufs Spiel zu setzen, zumal Achtsamkeit eben auch bedeutet, nicht zu werten und nicht alles auf sich zu beziehen. Demnach sollte der Struggle der anderen eigentlich kein Problem darstellen.

Die ausgeuferte Achtsamkeitsbewegung

Yoga ist großartig, Meditation auch. Bei sich selbst (angekommen) sein und im Moment Leben erst recht (wenn es denn funktioniert), aber dazu gehören eben auch negative Aspekte wie Leid und Kummer. Sorgen braucht keine:r, hat aber jede:r ab und an. Schön ist es doch, gerade in solchen Momenten zu wissen, dass man nicht allein dasteht.

Verständnis ist Sex für die Seele. Isso! Achtsamkeit hat in meinen Augen auch etwas mit Aufmerksamkeit zu tun, und die wirkt auf das Gegenüber meist wie Wertschätzung und Anerkennung. Streben wir danach nicht letztlich alle?

Man kann seine eigenen Grenzen wahren und sich selbst lieben, während man zugleich andere liebt. In Selbstliebe steckt schließlich nicht umsonst das Wort Liebe und die ist bekanntlich für alle da – im Überfluss, weil wird mehr, wenn man sie teilt. Ihr kennt den Spruch.

Manchmal kommt es mir so vor, als sei die Achtsamkeitsbewegung in manchen Kreisen etwas ausgeufert. Zugegeben, das wäre nichts Neues, denn jeder Trend wird irgendwann ausgenutzt oder radikalisiert. Bietet sich ja auch an, denn schließlich müssen neue Trends erstmal erprobt werden. Jede:r testet seine Grenzen und macht erst einmal Erfahrungen. Jedoch wäre es schön, wenn es nicht allein bei „Ich-Erfahrungen“ bleibt.

Achtsamkeit geht über dich selbst hinaus und schließt deine Mitmenschen und Umwelt ein.

Damit will ich nicht sagen, dass sich jede:r zu jeder Zeit für alles und jeden aufopfern sollte – absolut nicht. Lasst euch das von einer gesagt sein, die selbst den Fehler begangen hat, sich im Namen der Liebe aufzuopfern und ihr eigenes Wohl an letzte Stelle stellte, bis sie schließlich in eine Co-Abhängigkeit verfiel. (Co-Depressionen, der ein oder andere von euch hat(te) es vielleicht mitbekommen.)

Aber selbst diese Erfahrung hindert mich heute nicht daran, weiterhin für mein Umfeld – allen voran meine Freund:innen – da zu sein. Egal wann, egal wo und auf jeden Fall: immer erreichbar. Egal ob via Text, Anruf, E-Mail, Voicemail oder per Brief.

Für mich ist es eher ein Geschenk zu wissen, dass die Menschen sich an mich wenden und mir damit ihr Vertrauen suggerieren. Ihre Offenheit und Bereitschaft, auch Ängste und Kummer zu teilen, sehe ich nicht als Belastung – im Gegenteil! Für mich ist es eine Bereicherung.

Gut-Wetter-Freund:innen sind vielleicht in der Schulzeit und auch mit Anfang 20 noch super, irgendwann aber einfach nur noch zehrend und enttäuschend.

Schönmalerei und Schönrederei sehe ich jeden Tag auf Instagram. Reicht mir. Das echte Leben, und dazu gehören eben nun mal auch Problem(chen), spielt sich woanders ab. Offline. Gut-Wetter-Freund:innen sind vielleicht in der Schulzeit und auch mit Anfang 20 noch super, irgendwann aber einfach nur noch zehrend und enttäuschend.

Das ist – wie immer – alles nicht generalisierend gemeint. Aber ich denke, der ein oder die andere wird sich hier drin wiederfinden; angesprochen fühlen oder was auch immer. Egal in welcher Rolle.

Achtsamkeit fängt bei einem selbst an – ist korrekt. Aber sie hört dort eben nicht auf, sondern geht noch viel weiter … (Mitmenschen, Umwelt etc.)

Ach ja, Karma. Das gibt’s ja auch noch. Wer will, dass ihm Gutes widerfährt, sollte auch bereit sein, (selbstlos) Gutes zu tun. Oder etwa nicht?

Headerfoto: Peter Müller. („Wahrheit und Licht“-Button hinzugefügt und Bild gespiegelt.) Danke dafür!

NADINE studierte nach dem Abitur an der Universität in Bonn Romanistik (B.A.) und Internationale Geschichte der Neuzeit (M.A.). Mittlerweile lebt sie in Berlin und ist selbstständig als freie Autorin, Speakerin und Model tätig. Auf ihrem Blog und Instagram teilt sie persönliche Erlebnisse aus ihrem Alltag als bisexuelle Frau sowie Vertreterin der LGBTQ-Szene und spricht über alternative Beziehungskonzepte, anhaltende Ungerechtigkeiten im Patriarchat und die gesellschaftliche Rezeption von Bisexualität. Mehr hierzu könnt ihr zudem monatlich in ihrer Kolumne "bi happy" lesen. Als Speakerin kann man sie in verschiedenen Podcasts, darunter ihren eigenen "INTIM" zusammen mit Ben für Eis.de, und bei kleineren TV-Auftritten (Paula kommt!) zu diesen Themen sprechen hören. | Foto der Autorin: Fabian Stuertz.

2 Comments

  • Hallo Nadine,
    ich gebe dir grundsätzlich Recht, dass Selbstliebe nicht zu Egoismus werden sollte. Ich sehe das mit der ständigen Erreichbarkeit allerdings ganz anders. Das ist ein Übel, das das Handy- bzw. Smartphone-Zeitalter mit sich gebracht hat. Die berühmten blauen Haken bei WhatsApp und die damit verbundene Erwartungshaltung auf eine schnelle Antwort ist da nur ein Beispiel.
    Ich bin gerne für Familie und Freunde da, aber mein Smartphone lege ich aus Gründen der Selbstliebe (nicht Egoismus) auch gerne mal für mehrere Stunden beiseite. Und wenn wir mal ehrlich sind: Die meisten Probleme sind kein Notfall. Ich finde es eher egoistisch, zu ERWARTEN, dass jemand immer erreichbar ist und wegen meiner Sorgen und Probleme alles stehen und liegen lässt…
    Und die Tatsache, dass ich nicht rund um die Uhr erreichbar bin, macht mich weder zu einer Egoistin noch zu einer Schön-Wetter-Freundin!

  • Das vermeintliche „große Selbstbewusstsein“ und die damit einhergehende Abgrenzung hat wohl eher was mit einem Mangel an Selbstbewusstsein zu tun und anderen Problemen. Daher finde ich einen gewissen Maß an Selbstschutz völlig berechtigt und ebenso dass dies respektiert wird. Vielleicht möchte man auch nicht jedes Problem breittreten, ist doch völlig in Ordnung. Hier ist Ehrlichkeit in der Freundschaft gefragt.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.