Der Herbst — eigentlich die perfekte Lesejahreszeit! Aber gibt es solche Zeiten? Ist es nicht dann erst ein perfekter Lesemoment, wenn die Sonne sich durch den Nachmittag schleppt und die Naturwärme sich vor der schneller eintretenden Dunkelheit in leuchtenden Farben verausgabt?
Und brauchen wir nicht Ruhe, Zeit und am besten noch eine abgehakte To-do-Liste an Erledigungen der Gegenwart und Zukunft, um uns wirklich auf Literatur einlassen zu können? Sicher wäre das schön! Aber immer darauf zu warten, würde dazu führen, dass Menschen in ihrem Leben womöglich nur ein oder zwei Bücher lesen.
Glaubt mir, die folgenden Bücher sind so gut — sie warten vielmehr auf euch! Passend dazu könnt ihr auch gerne in meinen neuen Podcast Topliteratur reinhören.
Bettina Munk, Karin Wieland, Heinz Bude – Aufprall
Berlin in den 80ern. Hausbesetzungen, Drogen, Sex und Aufbegehren.
All das ist Teil der Welt von Aufprall, einem Roman, der von gleich drei Autor:innen geschrieben wurden. Karin Wieland, Heinz Bude und Bettina Munk erzählen in einem beachtlich mitreißenden Tempo von einer Geschichte, die gut zehn Jahre Berliner Jugend der Vergangenheit umreißt.
Dies geschieht abwechselnd durch ein fast antikes dramatisches Stilmittel; einen Chor der in Form des literarischen „Wir“ Szenen des Besetzens, des Feierns, der Nahrungsbeschaffung und der Konfrontation mit der Polizei beschreibt.
Dazwischen erzählen die beiden Protagonist:innen Thomas und Luise, die diesem „Wir“ angehören, ihre Geschichte: Wie sie lieben, zweifeln, sich abgrenzen, wiederfinden und neu orientieren.
Aufprall erzählt keine Biographie von Hausbesetzer:innen, sondern zeichnet vielmehr ein Porträt einer Szene, die eine ganze Generation beschäftigt hat und auch noch bis heute fasziniert.
Dabei begeistert der Roman durch seine Fähigkeit, Sätze mit Erschütterungen zu versehen und gleichzeitig Szenen zu zeichnen, die man in Gedanken immer wieder sehen will, durch die Sätze, die man immer wieder lesen kann.
Bettina Munk, Karin Wieland, Heinz Bude – Aufprall
Hanser Verlag, München, 2020
Fester Einband, 384 Seiten, 24,00 €
ISBN: 978-3-446-26766-4
Cover links: Carl Hanser Verlag, Cover rechts: Verbrecher Verlag
Jana Volkmann – Auwald
Judtih, Tischlerin, liebt das Alleinsein. Damit sticht sie heraus. Sie weiß, dass sie Holz besser versteht als Menschen. „Akribie war eins der großartigsten Worte, die sie kannte“ – das vollständige Aufgehen in einem Gegenstand, den sie bearbeitet. Anderen ist so ein beobachtetes Verhalten natürlich suspekt.
Als ihr Chef ihr Zwangsurlaub auferlegt, verschwindet ausgerechnet ihr Urlaubsschiff, das nur nach Bratislava fahren sollte. Judith ist nun auf sich allein gestellt. Im „Auwald“, in der Wildnis, mit nichts als sich selbst und einem Wanderrucksack.
Dabei vibrieren ihre Sätze, gerade so, wie es sich anfühlen muss, wenn man nach langer städtischer Isolation, transportiert in einem Auto, das erste Mal das Gras in der abgelegenen Natur berührt. Judith trägt kein Geld bei sich, nur das Nötigste und bewegt sich doch weiter in dieser uns plötzlich so nahbaren Welt. Ein kleines bisschen private Anarchie!
Jana Volkmann erzählt ungewöhnlich zart von der Härte einer Persönlichkeit, die in immer wieder wechselnde Realitäten hineingeworfen wird. In Auwald verpackt die Autorin philosophische Fragen und abstrakte Skizzen eines Menschen, der uns nichts erklären, aber genauso wenig wissen will.
Der Umgang mit dieser Lebenseinstellung formt die Spannung des Buches, wirft die Figuren übereinander und lässt Judith die Welt für uns mit ihren Sinnen riechen, fühlen und sehen. Judith ist nicht sonderbar, Judith ist anders. Anders ohne dabei ihre Triebe in Gewaltkellern zu stillen oder Drogen zu nehmen. All das braucht die literarische Figur Judith nicht und schafft es doch zu faszinieren.
Diese Thematik einer Einzelgängerin haben in letzter Zeit viele Autor:innen aufgegriffen. Selten aber so schön wie Jana Volkmann in Auwald. Ein bewegendes Buch.
Jana Volkmann – Auwald
Verbrecher Verlag, Berlin, 2020
Hardcover, 184 Seiten, 20,00 €
ISBN: 978-3-957-32446-7
Hilmar Klute – Oberkampf
Oberkampf, was für ein Romantitel. Dabei bezieht Hilmar Klute sich auf einen Straßennamen und eine Metrostation in Paris. Und doch ist es eine passende Überschrift für die Folgen der schrecklichen Ereignissen im elften Arrondissement: dem Anschlag auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo.
Kurz zuvor hatte Jonas Becker, der Hauptprotagonist des Buches, sein Leben in Berlin verlassen, um in Paris neu anzufangen.
Hilmar Klute schreibt darüber, wie sich eine Gesellschaft verändert und verbindet die Liebesgeschichte seiner Protagonist:innen geschickt mit einer subjektiven Sicht, die nicht abgeklärt oder überreflektiert ist, sondern wie fast jede:r Bürger:in in Paris — durcheinander, ratlos. Zeitgleich steht das Neue und die radikale Konfrontation damit als Metapher für das Buch.
Jonas verlässt sein altes Berufsumfeld, seine Partnerin und zieht von Berlin nach Paris, um als Schriftsteller über einen lebenden Schriftsteller zu schreiben. Hinzu kommt: Christine, ein neues Projekt, eine neue Routine in einer „verwundeten Stadt“, die sich doch eigentlich um ihn kümmern sollte — nicht er um sie?
Was dabei offen bleibt, ist, ob er diese Veränderungen bewusst ignoriert oder vor ihnen flüchtet.
Und diese Metapher wird bis zum Ende durchgezogen, bei dem Leser:innen einer besonderen Position zuteilwerden. Denn der letzte Absatz, der letzte Abschnitt, der vorletzte Satz des Buches lässt uns ein Schicksal erahnen, das kein:e allwissende:r Erzähler:in und auch keine Erinnerung so schildern kann
Es mag absurd klingen, aber: Mit Oberkampf ist Hilmar Klute ein ungeheuer zartes Buch gelungen, das durch seine Empfindsamkeit ein scharfes Bild eines besonderen Jahres zeichnet.
Hilmar Klute – Oberkampf
Kiepenheuer und Witsch Verlag, Berlin, 2020
Hardcover, 320 Seiten, 22,00 €
ISBN: 978-3-86971-215-4
Cover links: Galiani Berlin, Cover rechts: Blumenbar
Ilona Hartmann – Land in Sicht
Eine junge Frau betritt ein Kreuzfahrtschiff. Die MS Mozart. Viele alte Leute, kein Meer, aber eine große Mission. Sie will ihren leiblichen Vater kennen lernen. Den Kapitän des Schiffs.
Ilona Hartmann legte diesen Sommer mit Land in Sicht ihren Debütroman vor. Und zieht darin mit feinster Komik Milieustudien und Beziehungsanalysen. Locker und leicht. Dabei ist das alles andere als einfach!
Florian Valerius (auf Instagram: @literarischernerd) schrieb einmal, ihm grause es, wenn Kund:innen seiner Buchhandlung, nach „lustigen Büchern“ fragen würden. Man kann sie nachvollziehen, beide Seiten. Menschen, die sich nach Literatur sehnen, die endlich aufheitert. Froh stimmt, ohne verletzend zu sein oder sich selbst abzuwerten.
Und dann gibt es die, die zu oft enttäuscht wurden mit dem lobenswerten Willen, etwas Komisches zu lesen, und dann doch nur abgestumpfte Wortspielereien oder primitiv bereits Gehörtes zu lesen. Das erfüllt den gegenteiligen Effekt. Man verbittert im Umgang mit der komischen Literatur. Das muss nicht sein!
Ilona Hartmann hat mit Land in Sicht mehr als nur ein lustiges Buch geschrieben. Vielmehr die Aufnahme eines Schicksals, das um sein Problem weiß und es so beleuchtet, wie es ist: kompliziert, von Eindrücken geprägt und bei der ständigen Suche nach den richtigen Beschreibungen dafür, sowie den Entscheidungen für jetzt und später. Einfach komisch. Im besten Sinne. Ein berührendes, wuchtiges Buch.
Ilona Hartmann – Land in Sicht
Aufbau Verlag, Berlin, 2020
Hardcover, 160 Seiten, 18,00 €
ISBN: 978-3-351-05076-4
Marius Goldhorn – Park
„Sie sahen Systeme stürzen. Sie gingen in den Park.“
Es ist nicht nur Arnolds Geschichte, die Marius Goldhorn in seinem Roman beschreibt. Pointiert und berichtend wie in einer Feldforschung schickt er seine:n Protagonist:innen durch „ein unsicheres Europa“.
Arnold geht durch Paris und wartet auf Odile. Genau genommen bewegt er sich zu ihr. Solche Hauptsätze umreißen die Story und sind sinnbildlich für die Lebenshaltung des originellen Protagonisten. Ein Zwischenhalt stellt die ehrwürdige Stadt dar, die er vor allem von seinem Hostelzimmer wahrnimmt.
Er ist extrem überreflektiert bezogen auf sich selbst und auf seine Gefühlen zu Odile, die in Athen weilt. Während der Reise erinnert er sich an ihre Liebesgeschichte in einer Zeit der Digitalisierung, des Schon-vorher-Bescheid-Wissens und einer solchen, in der man das Gefühl haben muss, alles wäre so oder so ähnlich schon einmal passiert. Arnold kreist dabei so grandios um sich selbst und schließt doch uns alle mit ein.
Marius Goldhorn hat mit Park ein witziges, scharfes und eloquentes Buch vorgelegt. Ein Kunststück!
Marius Goldhorn – Park
Suhrkamp Verlag, Berlin, 2020
Taschenbuch, 179 Seiten, 14,00€
ISBN: 978-3-518-12764-3
Cover links: Suhrkamp Verlag, Cover rechts: Luchterhand Literaturverlag
Sally Rooney — Normale Menschen
Connell und Marianna. Die Hauptpersonen des Romans. Beide jung, beide auf dem Weg zum College, später dann Akademiker:innen, nicht sonderlich reich. Weiß und heterosexuell und irgendwie auch gar nicht an offenen Beziehungen interessiert, zumindest nicht besonders polygam gestimmt. Sind Connell und Marianna das? Normale Menschen?
Wenn sie sich gegenseitig sehen — im Privaten — trauen sie sich, unaussprechliche Dinge zu sagen. Und das ist eine Form der Kommunikation, die Sally Rooneys Roman ausmachen. Man vertraut sich untereinander Dinge an, die man sich sonst nicht erzhälen würde. Höchst privat. Das überklare, ganz ehrliche Ausformulieren von Gedanken und Unsicherheiten ist mit diesem einen Gegenüber plötzlich möglich.
Man wirkt schnell konservativ und seltsam, wenn man (was für ein passend schreckliches Wort für folgenden Gedankenkonflikt) heutzutage offen zugibt, eifersüchtig auf den:die andere:n zu sein. Oder Begehren ausspricht.
An dieser Stelle sei auf die großartige Arbeit der Übersetzerin Zoë Beck hingewiesen, die es geschafft hat, folgende gekonnt pointierte Sätze kurz vor der Banalität zu retten, die müde belächelt worden wäre, so aber großartig wirkt:
„Ich will das so sehr, sagt sie. Es ist wirklich schön, wenn du das sagst. Ich mache jetzt den Fernseher aus, wenn das okay ist.“
Sally Rooney beweist sich mit ihrem Roman Normale Menschen einmal mehr als Analytikerin sozialer Beziehungen. Das Spannende hierbei ist, dass ein vermeintlich übermäßiges Schildern von Gedankengängen und Körperbewegungen, die gar keinen Interpretationsspielraum lassen, die Individualität der zwischenmenschlichen Bewegung plastisch wirken lässt.
Studienbeginn, Partys, wechselnde Partner:innen, Krisen. Genau darum geht es. Sally Rooney nimmt sich in Normale Menschen dem Alltäglichen, dem Gewöhnlichen an, das uns ständig umgibt. Und würdigt das Geschehene damit zu einem Wunder. So erhebt sich auch Normale Menschen aus einem Verzücken — empor zu einem Staunen.
Sally Rooney – Normale Menschen | Übersetzt aus dem Englischen von Zoë Beck
Luchterhand Literaturverlag, München, 2020
Hardcover, 320 Seiten, 20,00€
ISBN: 978-3-630-87542-2
Lana Lux – Jägerin und Sammlerin
Lana Lux verpackt in ihrem neuen Roman gleich drei Hammerthemen: Essstörungen, Mutter-Tochtergeschichte und Migration.
Sie nimmt uns mit in die Psyche der Sammlerin Alisa, die bulimisch ist, sich abwertet und in ihrer Krankheit nicht gesehen wird. Authentisch und in einer bemerkenswerten Schärfe wird hier ein Bild der tückischen Krankheit und ihrer Nebenarme der Selbstwertprobleme und Depressionen beschrieben. Gleichzeitig wird klar, dass sich Alisa von ihrer Mutter emanzipieren muss, die nicht akzeptieren will, dass sie eine „kaputte Tochter“ hat.
Fließend und leicht geht die Geschichte in die der Mutter Tanya über. Die aus der Ukraine nach Berlin gezogen ist, um ein neues Leben zu beginnen. Ohne wirkliche Deutschkenntnisse. Mit scheinbar geplatzten Träumen eines Studiums.
Sie erzählt von den eigenen Kämpfen, die die junge Frau geprägt und verletzt haben. Wie sie sich verwandelt hat und wieso die Kämpfe mit ihrer eigenen Tochter überhaupt erst eskalieren konnten.
Jägerin und Sammlerin ist ein psychologisches Mosaik mit Elementen von Familiendrama und Abenteuergeschichte. Gleichzeitig liefert Lana Lux‘ zweiter Roman vielleicht den grandiosesten Cliffhanger des literarischen 2020. Ein bewegendes und — trotz der besprochenen Schwere — zauberzart wirkendes Buch.
Lana Lux – Jägerin und Sammlerin
Aufbau Verlag, Berlin, 2020
Hardcover, 304 Seiten, 20,00 €
ISBN: 978-3-351-03798-7
Cover links: Aufbau Verlag, Cover rechts: Cass Verlag
Young-ha Kim – Aufzeichnungen eines Serienmörders
Der 70-jährige Byongsu Kim war Tierarzt und Mörder. Jetzt verbringt er seine Zeit als Rentner lesend und als Besucher von Lyrikkursen an einer Universität. Eigentlich ein ruhiges Leben, wenn jemand mehr als zwanzig Morde hinter sich hat.
Aber kurz nachdem er in seinem Viertel einem Mann begegnet, den er als seinesgleichen erkennt, wird bei ihm beginnende Demenz diagnostiziert. Um seine Tochter zu beschützen, plant der alte Mann, mit seinem schwindenden Gedächtnis kämpfend, einen letzten Mord.
Neben den „Aufzeichnungen“ beschreibt Kim Young-ha eindrucksvoll das Voranschreiten einer Demenzerkrankung. Naiv und selbst hinterfragend schildert dort jemand, wie es ist, wenn man die Kontrolle über sein Denken zu verlieren scheint. Kim Young-ha schafft es dennoch immer wieder, Humor in seine kurzen Kapitel hineinzubringen. Dieser muss dabei nicht einmal rabenschwarz angestrichen sein.
Im Verlauf der Geschichte entwickeln sich die Aufzeichnungen und Notizen mit dem berichtenden Erzählen zu einer gesamten Metapher. Lesende werden plötzlich Teil einer Verbrecherjagd. Ein literarischer Sog, aus dem man nicht entfliehen kann und auch nicht möchte.
Young-ha Kim – Aufzeichnungen eines Serienmörders | Übersetzt aus dem Koreanischen von Inwon Park
dass verlag, Bad Berka, 2020
Hardcover, 152 Seiten, 20,00 €
ISBN: 978-3-944751-22-1
Lily King – Writers & Lovers
Casey heißt eigentlich Camilla, aber kaum jemand weiß das. Außerdem spielt es keine Rolle. Sie träumt davon, endlich von ihrer Leidenschaft, dem Schreiben, zu leben und kämpft sich für diesen Wunsch durch harte Schichten im Restaurant und erniedrigende Mahnschreiben von Pfänder:innen.
Dem Leben zugewandt lässt der erst kürzlich eingetroffene Tod ihrer geliebten Mutter und die Trennung ihres Partners sie nicht mit einem Loch zurück, sondern beschert ihr die Begegnung zweier Männer, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Dennoch: Zwei Schriftsteller.
Neben emotionalen Geflechten, Trauerarbeit und humorvollem Alltagsdrama wird in Writers & Lovers detailliert der Prozess des Schreibens geschildert. Von Hochgefühlen bis zur Verzweiflung.
Die Figuren in Lilly Kings neuem Roman sind liebevoll zurecht geschnitzte Charaktere voller individueller Eigenschaften. Es ist ein großes Kunststück, so viel Zärtlichkeit und Schnelle in eine Geschichte zu legen, in der jedes Teil ineinander greift. Und sich somit die Welt der emphatischen Ich-Erzählerin erschließen lässt.
Lily King hat es geschafft, Leidenschaft und Alltag in kräftiger Sprache zu verbinden. Alltagspoesie ohne einen Überschuss an Theatralik zu verdichten.,Writers & Lovers ist ein atmendes Buch, das Mut macht, an die Hand nimmt und staunen lässt.
Lily King – Writers & Lovers | Übersetzt aus dem Englischen von Sabine Roth
Verlag C.H. Beck, München, 2020
Hardcover, 320 Seiten, 24,00 €
ISBN: 978-3-406-75698-6
Cover links: C.H.Beck Verlag, Cover rechts: Satyr Verlag
Fabian Navarro (Hrsg.) — Poesie.exe: Texte von Menschen und Maschinen
Eine Anthologie, die Texte von Menschen und Maschinen vereint. Unter den Menschen sind unter anderem Saša Stanišić, Berit Glanz und Elias Hirschl vertreten.
Unter den Maschinen ist besonders eine bekannt, nämlich der Bot des Herausgebers, Instagram-Star: Eloquentron3000. Dahinter steckt Fabian Navarro, der den Bot programmiert hat. Ein Gedankenexperiment: Kann ein Roboter vorzeigbare Slam-Texte schreiben? Der Bot trat sogar schon gegen reale Poetry-Slammer:innen an.
Das Experiment erinnert an einen Computer im New Museum in New York, der mit einem Sonnenschirm und einer Blechdose in Computerstimme und Fließtext auf dem Monitor Smells like Teen Spirit von Nirvana „singt“. Und so wunderbar diese Floskel aufs Korn genommen wurde, dass die Maschinen uns alles wegnehmen, auch die Möglichkeit auf der Straße Musik zu machen, war ein doch sehr amüsanter Gedanke.
Doch die digitale Poesie, die poesie.exe präsentiert, lässt andere Fragen stellen: Kam die Überlegung, Maschinen incognito auftreten zu lassen, weil einige Literaturformate so berechenbar geworden sind? Brauchen zu realisierende Projekte, wie das Programmieren eines Bots, überhaupt eine Botschaft oder kann so etwas auch aus purer Neugier entstehen?
Oder die Frage, wieso „Kunstmaschinen“, wie etwa der Computer im New Museum, so oft lustig wirken müssen. Ist es vielleicht die Angst, vorm tatsächlichen Ersetztwerden als menschliche:r Künstler:in, die bei all dem — wenn auch nur latent — mitschwingt?
Nicht alle diese Fragen lassen sich mit diesem Buch beantworten. Dafür setzt die liebevolle und innovative Konzeption dieses neuen, spannenden Werkes ein ganz anderes Potenzial frei: eigene Kreativität. Auch die Entscheidung, welche Texte im Buch von Mensch oder Maschine geschrieben sind — und verzeiht mir, dass ich weiter auf dieser sprachlichen Gegenüberstellung herumreite — wird dem:der Leser:in überlassen.
Herausgeber Fabian Navarro und die Autor:innen von poesie.exe zerschlagen die gedankliche Brücke vom schreibenden, atmenden Wesen, das Texte erzeugt, und führen uns auf anderen Wegen mit leichten Schritten in neue Sprachwelten.
Fabian Navarro (Hrsg.) – poesie.exe: Texte von Menschen und Maschinen
Satyr Verlag, Berlin, 2020
Broschur, 120 Seiten, 14,00€
ISBN: 978-3-947106-62-6