Ein Pling auf meinem Handy. Ein neues Match. Wahrscheinlich wieder eines, welches dem einzigen Zweck dient, das eigene Ego zu pushen. Sowohl seins als auch meins. 80 neue Matches, 35 ungelesene und unbeantwortete Nachrichten? Der Standard heutzutage. Traurig, aber wahr. Nirgendwo bekommt man so einfach und so schnell Bestätigung wie auf den gängigen Online-Dating-Plattformen. Das echte Dating, mit dem Ziel, einen neuen Menschen wirklich kennenzulernen, rückt dabei immer weiter in den Hintergrund. Man bleibt an der Oberfläche.
Das Jugendwort des Jahres 2020 beschreibt unsere Generation in einem Wort: Lost.
Keine:r weiß mehr so richtig, was er:sie vom Leben erwartet. Eigentlich alles und gleichzeitig nichts. Wir treiben im Strudel zwischen Selbstverwirklichung und Selbstzweifel. Zwischen Individualität und Mainstream. Zwischen Distanz und Nähe. Hauptsache unverbindlich.
Unverbindliche Kommunikation, unverbindliche Treffen, unverbindlicher Sex. Eine Nachricht, eine Begegnung; das kurzfristige Bedürfnis nach Nähe wird gestillt. Ein kurzer Moment, in dem sich zwei Leben begegnen. Ein Moment, in dem beide zur gleichen Zeit genau das Gleiche wollen, bevor wieder jede:r seinen:ihren eigenen Prioritäten nachjagt.
Eine gewisse Zeit lang mag diese Unverbindlichkeit angenehm und leicht sein. Keine Verpflichtungen, nur sich selbst gegenüber Rechenschaft ablegen. Und auch nur, wenn man gerade in der Stimmung ist. Ansonsten sucht man sich einfach die nächste Ablenkung – schließlich ist diese nur einen Swipe entfernt.
Doch reicht Unverbindlichkeit wirklich aus?
Als mein Handy das neue Match verkündet, merke ich, dass es mich nicht glücklich macht. Nicht mehr mein Ego pusht. Ich bin zu oft über Los gezogen, um den Reiz noch zu spüren. Ich öffne also die App, um meinen Account zu löschen. Und dann sehe ich ihn.
Irgendwas zieht mich an, obwohl ich nur seine wenigen Fotos sehe. Ihn noch nie getroffen habe. Nicht weiß, welcher Mensch sich hinter den Fotos verbirgt. Das muss ich ändern und tippe die erste Nachricht.
Es vergehen Minuten, Stunden, Tage. Und es passiert: nichts. Keine Antwort. Keine Reaktion. Mir bleiben also genau zwei Optionen: Aufgeben und das Ego retten oder Second Try und Ego in die Tonne werfen. Welches der einfachere Weg ist, brauche ich wohl nicht zu erwähnen. Und wofür ich mich entscheide, wohl auch nicht.
Mir bleiben genau zwei Optionen: Aufgeben und das Ego retten oder Second Try und Ego in die Tonne werfen.
Ich schmeiße mein Ego also über Bord und beschließe ihm noch eine Chance zu geben. Und es passiert wieder: nichts. „Okay, that’s it“, denke ich wenige Tage später und mein Finger liegt erneut auf dem Account-Löschen-Button. Und da kommt es. Unerwartet. Ein Pling. Von ihm. Er gibt mir seine Nummer, eine Woche später telefonieren wir.
Als ich seine Stimme höre, vergesse ich die Zeit um mich herum und in der Herzgegend breitet sich ein euphorisches und warmes Gefühl aus. Er hört mir zu. Auch bei Worten, die nur in meinen Gedanken sind, die ich nicht ausspreche. Bringt mich zum Lachen.
Ein paar Abende später steige ich aus dem Taxi, ohne große Erwartungen. Er kommt mir entgegen, unsere Blicke treffen sich. Er lächelt mich an und mein Herz fängt an, schneller zu schlagen.
Das Leben ist keine Hollywood-Lovestory
Ich würde diese positive Stimmung gern in den nächsten Zeilen beibehalten, doch ihr wisst, dass das Leben in den meisten Fällen keine Hollywood-Lovestory ist. Dann würden wir nämlich jetzt eine Aneinanderreihung unserer schönsten Momente sehen, unterlegt mit einem gefühlvollen Song, der euch spätestens jetzt emotional mitreißt.
Man würde den Moment sehen, in dem er strahlte, als ich ihm zustimmte, das erste Mal bei ihm zu übernachten. Den Moment, in dem er mir eine Wärmflasche machte, damit ich nicht fror. Wie unsere beiden Zahnbürsten nebeneinander standen. Wie wir zusammen in seinem Wohnzimmer tanzten. Wie ich nicht eine Minute zögerte, mitten in der Nacht ins Auto zu steigen, um für ihn da zu sein, als er mich brauchte. Wie er vor meiner Tür stand, um mich zu überraschen.
Doch die Wahrheit ist, dass es nicht nur gute Momente gab. Dass er sich tagelang nicht meldete. Dass er mir nicht seine Nähe und Zeit geben konnte. Dass er nicht für mich da war, als ich ihn brauchte. Dass ich mich neben ihm im Bett einsamer fühlte, als alleine. Dass ich aus der Dusche kam und er angezogen in der Tür stand, ging und wir uns nie wiedersahen.
Es war schwer zu bleiben, aber noch schwerer zu gehen.
Ich bin eine Frau, die eine Nespresso-Maschine besitzt, obwohl sie selbst keinen Kaffee trinkt. Weil es mir Freude bereitet, andere Menschen glücklich zu sehen. Es ist meine Empathie, die zugleich eine meiner größten Stärken und manchmal eine meiner größten Schwächen ist.
Und auch, wenn es nicht einfach war und wir am Ende getrennte Wege gingen, würde ich vieles genau so wieder machen. Weil für mich in der Liebe kein Platz für Egoismus und Stolz ist. Weil ich nach meinem Gefühl und nicht nach Logik handle.
Lieber riskiere ich es, einmal mehr zu fallen und gegen eine Wand zu rennen, als eine Chance nicht wahrzunehmen.
Lieber riskiere ich es, einmal mehr zu fallen und gegen eine Wand zu rennen, als eine Chance nicht wahrzunehmen. Weil ich mich lebendig fühle. Weil ich weiß, dass mich jede Erfahrung weiterbringt und mich zu der Frau macht, die ich heute bin.
Headerfoto: Juan Ordonez via Unsplash. („Gedankenspiel“-Button hinzugefügt, Bild gecroppt.) Danke dafür!
Megaguter Text, hab mich sehr darin wiedergefunden! Macht Mut, nicht die einzige zu sein! ❤️
Danke liebe Julia,
das freut mich sehr!
#Girlssupportgirls