Nicht nur Singles und Paare, sondern auch Familien werden von den momentanen Restriktionen zur Eindämmung des Corona-Virus stark im alltäglichen Leben eingeschränkt. Großeltern sollten keinen Besuch von Kindern und Enkelkindern erhalten, Kinder dürfen nicht raus, um mit Freund*innen oder Cousinen und Cousins zu spielen. Eltern fühlen sich mit der Rund-um-die-Uhr-Betreuung der Kinder nicht selten überfordert. Wie geht man als Familie damit um? Und wie lässt man niemanden aus der Familie allein?
Wir von im gegenteil haben uns diesbezüglich zum dritten Mal mit Dr. Alena Rentsch, Psychologische Psychotherapeutin bei HelloBetter.de, unterhalten und ihr acht Fragen zum Thema Familienleben gestellt, die uns die Community, also ihr, zuvor zugesandt habt. Das Gespräch aus der Vorwoche findet ihr hier.
1. Meine Eltern sind wütend und wollen nicht verstehen, warum wir sie mit den Kindern dieses Jahr nicht zu Ostern besucht haben. Sie nehmen die Situation offenbar nicht ernst genug, obwohl sie selbst zur Risikogruppe gehören und zeigen keinerlei Verständnis für meine/unsere Bedenken. Wie kann ich dieses Problem ohne Streit lösen?
Dr. Alena Rentsch: Jedes Gefühl hat grundsätzlich seine Berechtigung, und auch Wut gehört zweifellos zu den verständlichen und nachvollziehbaren Reaktionen auf die momentane Situation. Man darf wütend sein, es ist ja auch ungerecht, nicht raus zu dürfen und die Enkelkinder nicht sehen zu können. Was natürlich problematisch wird, ist wenn die Großeltern keine Wut über die Situation kommunizieren, sondern diese Wut auf Familienmitglieder projizieren und diesen die Verantwortung zuschieben. Wie reagiert man darauf?
Was nicht hilft, ist eine übertrieben bemühte Aufklärung über die Gefahren der momentanen Situation. Was gut funktionieren könnte, um Streit zu vermeiden, ist die vorherige Überlegung, mit was für einer Haltung man in eine solche Diskussion reingehen möchte. Möchte ich mit Argumenten überzeugen, um am Ende des Tages recht zu haben? Oder will ich verstehen, welchen Standpunkt die andere Partei hat. Was bewegt die Eltern zu dieser Wut?
Möchte ich mit Argumenten überzeugen, um am Ende des Tages recht zu haben? Oder will ich verstehen, welchen Standpunkt die andere Partei hat.
Ich denke, auf einer Beziehungsebene ist es einfacher zusammenzukommen als über die Vernunft-Ebene. Oft hilft es auch, einen Überblick über die eigenen Gefühle und Beweggründe zu geben: Beispielsweise die Sorge um die Gesundheit der Eltern (oder anderer Verwandter) versus die Sorge, die Eltern in einer solchen Situation alleine zu lassen. Wenn man den eigenen Konflikt schildert, kann man gemeinsam nach einer Lösung suchen.
Ein guter Ansatz wäre auch die Sichtweise darauf zu lenken, was man anders oder statt einem Besuch machen könnte, als sich allzu sehr darauf zu versteifen, dass ein Besuch eben nicht möglich ist. Kann man den Eltern vielleicht ein Paket senden oder eine Videoaufnahme der Enkelkinder per Mail? Oder sucht man sich vielleicht einen Alternativ-Termin später im Jahr aus, wenn sich die Lage wieder beruhigt hat? Es gibt doch einige Ideen, die man verfolgen kann.
2. Meine Großeltern haben panische Angst vor Corona und malen sich die schlimmsten Szenarien aus. Wie kann ich den Kontakt halten und mich gleichzeitig nicht von diesen Gedanken entmutigen lassen?
Dr. Alena Rentsch: Eine Strategie könnte hier sein, das Thema nicht direkt zu wechseln und sich das “Worst-Case-Szenario” zumindest mal anzusehen und den Sorgen der Großeltern oder der anderen Verwandten Raum zu geben. Denn meistens ergibt sich, wenn man all diese Szenarien mal bis zum Schluss durchdenkt, doch auf dem Weg meist eine Lösung.
Um sich aktiv selbst vor einem Überfluss solcher negativer Gedanken zu schützen, könnte auch eine Art Ritual eingeführt werden: Man telefoniert einmal oder auch zweimal die Woche zu festgelegten Zeiten für eine halbe Stunde mit den Großeltern und gibt ihnen das Gehör, das sie bei ihren Sorgen brauchen. Aber nach Ablauf dieser festgelegten Zeit beendet man das Gespräch auch und widmet sich wieder anderen Dingen. So schlägt man zwei Fliegen mit einer Klappe. Man ist für die Großeltern da und nimmt ihre Sorgen ernst und auf der anderen Seite schützt man sich selbst vor zu viel Negativität.
Man ist für die Großeltern da und nimmt ihre Sorgen ernst und auf der anderen Seite schützt man sich selbst vor zu viel Negativität.
Während des Gesprächs ist es vielleicht auch sinnvoll, über das Thema Corona in einer sehr funktionellen Art und Weise zu sprechen. Konkret nach den Sorgen zu fragen und dann auch konkrete Hilfsangebote zu machen. Wir haben ja schon über dich Wichtigkeit einer gewissen Routine im Tagesablauf gesprochen – das ist beispielsweise ein ganz hervorragendes Thema, um es mit älteren Menschen zu besprechen und ihnen Vorschläge zu machen. Oder beim nächsten Gespräch mal nachhorchen, wie die sozialen Kontakte aussehen und Vorschläge machen, wie diese in einer solchen Zeit aufrecht erhalten werden können.
Am besten überlegt man sich im Vorfeld, welche Themen die Großeltern besonders beschäftigen und wie man ihnen da entgegenkommen kann.
3. Ich habe seit längerer Zeit einen schwierigen und sehr sporadischen Kontakt zu meinem Vater und mache mir Sorgen um ihn. Ich weiß aber nicht, wie gut ich es verkraften würde, mich jetzt öfter bei ihm zu melden. Wir finde ich da eine gute Balance?
Dr. Alena Rentsch: Zunächst einmal ist es schön zu hören, dass sich die Person, die diese Frage gestellt hat, solche Gedanken macht und sich da überlegt, wie der Kontakt aufrecht erhalten werden kann, auch wenn er bisher nicht besonders ergiebig war. Aber auch in einem solchen Fall ist es natürlich wichtig, auf das eigene Bauchgefühl zu hören und auf sich selbst acht zu geben. Ich würde sagen, dass hier vielleicht ein vorsichtiges Herantasten das Richtige ist. Man kann mit kleinen Kommunikatiosangeboten anfangen: mit der einen oder anderen Nachricht oder einem zeitlich begrenzten Telefongespräch.
Beziehungen sind dynamisch, da gibt es kein festes Maß, was man ertragen sollte oder anbieten muss. Sie lassen sich variieren und gestalten, wie es einem gut tut.
Das kann man dann in der Dosis variieren und dabei selbst reflektieren, welches Maß sich gut angefühlt hat und welches zu viel war oder auch zu wenig. Und wenn es zu viel ist, sollte man sich auf keinen Fall ein schlechtes Gewissen machen. Denn hier geht es darum, einer Person, die sonst vielleicht keine so alltägliche Rolle in dem Leben spielt, einen Platz einzuräumen – und das ist in Anbetracht der Situation schon eine großartige Leistung. Da sollte man sich selbst nicht überfordern. Beziehungen sind dynamisch, da gibt es kein festes Maß, was man ertragen sollte oder anbieten muss. Sie lassen sich variieren und gestalten, wie es einem gut tut.
4. Ich bin seit Beginn der Kontaktsperre nur noch daheim mit meinen Kindern und frage mich, wie viel mediale Ablenkung für die Kinder gut und angemessen ist am Tag?
Dr. Alena Rentsch: Da muss ich leider sagen – so unpräzise es auch sein mag: Es kommt drauf an. Das ist natürlich eine sehr individuelle Entscheidung der jeweiligen Eltern und ich persönlich möchte dazu ungerne konkrete Zeitangaben machen.
Was in meinem Bekanntenkreis ganz gut funktioniert, ist zu sagen, dass das Kind eine oder zwei Folgen der Lieblingsserie gucken oder auch den Film, der angefangen wurde, beenden darf. Kinder kommen sehr gut mit Maßangaben zurecht, wenn sie etwas Angefangenes auch beenden dürfen. Wenn es allerdings konkrete zeitliche Begrenzungen gibt – wie beispielsweise nur 20 Minuten am Tag – und man den Fernseher mitten in der Folge oder mitten im Film ausmacht, ist das für Kinder hingegen unbefriedigend.
Man sollte den Kindern selbst ein gutes Vorbild sein, indem man beispielsweise sein Handy mal für eine Zeit beiseite legt und gemeinsam ein Spiel spielt.
Natürlich muss man Grenzen ziehen, aber dann ist es auch wichtig, direkt im Anschluss Alternativvorschläge zu machen. Und man sollte den Kindern vor allen Dingen selbst ein gutes Vorbild sein, indem man beispielsweise sein Handy dann auch mal für eine Zeit beiseite legt und ein Buch liest oder gemeinsam ein Spiel spielt. Ein weiterer guter Ansatz ist es auch, die Screentime mit den Kindern gemeinsam zu verbringen und ihnen somit zu zeigen, dass nach der einen Folge auch für die Eltern Schluss ist und man dann andere Dinge machen kann.
5. Zählt Videotelefonie mit der Familie auch zur Screentime?
Dr. Alena Rentsch: Nun, man muss sich ja darüber im Klaren sein, dass der Screen auch ein Stück weit ein Babysitter ist und den Eltern ein Zeitfenster freiräumt, in dem sie schnell noch das eine oder andere im Home Office oder Haushalt erledigen können. Und es ist meines Erachtens auch völlig legitim, den Fernseher oder den Laptop so für sich einzusetzen.
Aber man könnte im Hinblick darauf auch überlegen, wie man Screentime so gestaltet, dass sie besonders wertvoll für die Kinder wird und weniger Berieselung darstellt. Warum also nicht einen Videocall bei den Großeltern oder Tanten und Onkeln machen und diese als Babysitter einschalten? Um also die Frage zu beantworten: Nein, ich denke in diesem besonderen Fall gehört Videotelefonie mit der Familie oder den Freund*innen nicht zur normalen Screentime.
6. Wie merke ich, ob mein Kind unter der Anspannung und den Kontaktbeschränkungen leidet? Vor allem, wenn es noch zu jung dafür ist, die eigenen Gefühle in Worte zu fassen – was kann ich tun, um meinem Kind da Gehör zu schenken?
Dr. Alena Rentsch: Zunächst sollten man die Situation nicht überbewerten. Kinder sind gemeinhin viel flexibler und anpassungsfähiger als Erwachsene. Für uns ist alles vermutlich gerade viel schlimmer, als es für Kinder ist. Das bedeutet, wenn die Kinder sich jetzt anders verhalten, ist das vermutlich auch einfach der Situation geschuldet. Dass einige Kinder jetzt ein Stück weit unausgeglichen sind, weil ihnen die sozialen Kontakte fehlen, ist verhältnismäßig normal. Das sollte man nicht pathologisieren.
Kinder sind gemeinhin viel flexibler und anpassungsfähiger als Erwachsene.
Natürlich kann es aber trotzdem sein, dass es einigen Kindern momentan wirklich schlechter geht und sie das nicht konkret verbalisieren können. Sie zeigen das aber auch ganz oft in ihrem Verhalten: Sie sind vielleicht gereizter als sonst, malen Bilder von Dingen, die sie beschäftigen oder können Ängste entwickeln, die vorher kein Thema waren. In stärkeren Fällen machen manche Kinder wieder Dinge, die sie schon mit einer vergangenen Entwicklungsstufe abgelegt hatten.
Da sollte man aufmerken und dem nachgehen, woher das kommt. Vielleicht belastet das Kind auch meine eigene Anspannung? Habe ich selbst gerade viele Ängste, die das Kind unterbewusst wahrnimmt und nicht verarbeiten kann? Die Lösung ist hier logischerweise die Überlegung, wie man gezielte Entspannung in diese angespannte Situation hinein bringt und einen Umgang findet, der der ganzen Familie gut tut. Das oberste Ziel sollte sein, diese Zeit der Isolation möglichst stressfrei zu bewältigen.
Diese Zeit ist nicht dazu da, die Kinder nun besonders streng zu erziehen und die gewünschte Konfliktbewältigung mit dem/der Partner*in zu üben.
Diese Zeit ist nicht dazu da, die Kinder nun besonders streng zu erziehen und endlich die gewünschte Konfliktbewältigung mit dem/der Partner*in zu üben. Man sollte zusätzliche Anspannung momentan eher vermeiden und für eine ausgeglichene Stimmung sorgen. Um Konflikte im Vorhinein weitestgehend zu vermeiden, hilft auch hier wieder eine feste Tagesstruktur, die man vorher auch gerne in der Familie bespricht und dann auch nach Möglichkeit konsequent durchzieht: festgelegte Aktivitätszeiten, fest eingeplante Freizeit und auch festgelegte Me-Time für alle. Kinder brauchen die Möglichkeit, sich zu bewegen, aber auch Entspannungsphasen sind für sie sehr wichtig.
7. Sollte ich mit meinen Kindern über meine eigenen Ängste sprechen oder muss ich stark für sie sein?
Dr. Alena Rentsch: Wenn man sich diese Frage stellt, sollte man zunächst einmal die eigenen Ängste und Sorgen sondieren und dann überlegen, welche dieser Sorgen wichtig für die Kinder sind. Auch hier kommt es aber auch auf die Entwicklungsstufe der Kinder an: Wie alt sind die Kinder und wie kann man seine Sorgen altersgerecht mit ihnen teilen, wenn diese Sorgen auch für sie wichtig sind? Es ist okay, wenn Kinder bemerken, dass es den Eltern mal nicht so gut geht, sie traurig sind oder wütend oder auch glücklich und gut gestimmt. Grundsätzlich ist es eine gute Idee, den Kindern die ganze Klaviatur menschlicher Gefühle immer mal wieder nahe zu bringen und zu zeigen, allerdings sollte man sie damit nicht überfordern.
Natürlich ist es auch immer wichtig, in der Kommunikation zu bleiben, gerade auch was das Thema Corona betrifft. Man sollte ihnen schon erklären, dass das eine besondere Situation ist und man sich dementsprechend verhalten muss, indem man beispielsweise daheim bleibt und eben nicht mehr rausgeht, um mit anderen Kindern zu spielen. Aber auch hier ist es wieder wichtig, den Kindern Alternativangebote zu machen und nicht einfach festzustellen, was gerade nicht geht, sondern auch aufzuzeigen, was man stattdessen machen kann, um beispielsweise mit den Freund*innen in Kontakt zu bleiben.
Was es zu vermeiden gilt, ist pausenlos Ängste und Sorgen vor den Kindern zu besprechen oder rund um die Uhr besorgniserregende Nachrichten zu konsumieren.
Was es allerdings zu vermeiden gilt, ist pausenlos Ängste und Sorgen vor den Kindern zu besprechen oder rund um die Uhr besorgniserregende Nachrichten zu konsumieren, die die Kinder nicht richtig einschätzen können. Natürlich kann man den Kindern gegenüber auch eigene Unsicherheiten eingestehen, wenn man zum Beispiel keine Antworten auf bestimmte Fragen hat. Dann wäre es aber auch eine kluge Vorgehensweise, mit den Kindern gemeinsam eine Antwort auf diese Fragen zu suchen, indem man zum Beispiel Verwandte anruft oder mit Freund*innen das Gespräch sucht.
Wenn Kinder spezielle Fragen zum Thema Corona haben, die man selbst als Elternteil nicht beantworten kann, eignen sich Kinder-Podcasts sehr gut. Auf Spotify gibt es beispielsweise den GEOlino-Podcast “Gemeinsam gegen Corona” mit Moderatorin Ivy Haase.
8. Wie kann ich mir trotz des Social Distancings die Wochenenden oder Feiertage wie Ostern mit Kindern und Partner*in schön machen?
Dr. Alena Rentsch: Erwachsene neigen allzu oft dazu, die Sicht auf das zu beschränken, was gerade nicht möglich ist. Kinder haben allerdings die bezaubernde Gabe, sehr im Hier und Jetzt zu leben und das Beste aus einer Situation zu machen. Das könnte man sich von den Kindern abschauen und versuchen, ein bisschen kreativ mit der Situation umzugehen. Dazu gehört das, was wir bereits angesprochen haben: mit den Kindern gemeinsam aktiv zu sein, beispielsweise gemeinsam zu tanzen oder mal zu raufen und die Großeltern oder Tanten und Onkel dann eben per Videotelefonie mit in die Situation reinzuholen.
Erwachsene neigen allzu oft dazu, die Sicht auf das zu beschränken, was gerade nicht möglich ist.
Man kann auch Videogrüße verschicken, die man als Familie gemeinsam aufzeichnet oder auch etwas für andere tun – gemeinsam kleine Geschenke basteln und sie den Nachbar*innen mit Grüßen vor die Tür legen. Eine weitere Herangehensweise wäre, sich zu fragen, wie man die Kinder ansonsten merken lassen kann, dass beispielsweise Ostern ist. Wenn schon solche Dinge wie der Großelternbesuch wegfallen, könnte man ja dennoch alles österlich dekorieren oder gemeinsam backen, eine Eiersuche machen oder etwas basteln. Es geht darum, Alternativen zu dem zu schaffen, was jetzt gerade nicht geht. Und daraus dann das Beste zu machen.
Vielen lieben Dank für eure Fragen. Das erste Gespräch mit Dr. Alena Rentsch findest du hier, das zweite hier. Alle unsere Artikel zum Thema Corona findest du hier.
Werbung: Diese #zusammenzuhause-Reihe entsteht gemeinsam mit den Fachleuten von HelloBetter. Bei HelloBetter gibt es wissenschaftlich geprüfte psychologische Online-Trainings und Online-Psychotherapie via Computer und Smartphone-App, auf Wunsch mit psychologischer Begleitung. Und ab diesem Jahr auch auf Rezept, mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz. Danke, dass ihr da seid und uns in dieser instabilen Zeit emotional und finanziell unterstützt. <3