Musik fragt nicht, Musik versteht – Wie ein Konzert mich und meine Zweifel zusammenbrachte

Kennt ihr das, wenn ein Mensch alles, was man denkt, zu verstehen scheint? Plötzlich muss man keinen Witz mehr erklären, umständlich ausgedrückte Inhalte sind kein Problem und meistens reicht ein Blick, um dem jeweils anderen Kleinigkeiten und Stimmungen mitzuteilen.

Mir ist das genau ein Mal in meinem Leben passiert. Kaum verrutscht mein gut geübter „alles easy“-Blick ein kleines bisschen, steht er neben mir und fragt. Bietet sich und seine Gedanken als Stütze an. Das ist fast unheimlich, aber irgendwie auch unheimlich toll.

Die Musik verstand mich. Die Musiker verstanden mich.

Letzte Woche hatte ich ein zweites Mal dieses Gefühl. Ich lernte allerdings keinen neuen Menschen kennen, nein, ich stand auf einem Konzert. Ich stand inmitten von tanzenden, schwitzenden Leibern, einen Rotwein in der Hand, ein paar meiner liebsten Menschen um mich herum verteilt, den Bass tief in der Brust vibrierend – und da setzte dieses Gefühl wieder ein. Die Musik verstand mich. Die Musiker verstanden mich.

Hallo, ich bin Julia und momentan habe ich oft Angst. Kein rationale Angst vor Höhe oder Tieren oder Ähnlichem, ich habe einfach Angst. Vor meinen Gedanken, vor dem, was ich glaube, nie sein zu können, vor dem, was in dieser seltsamen Welt da draußen vorgeht, davor, zu viel zu sein, davor, zu wenig zu sein, davor, nirgendwo hineinzupasen, davor, angepasst zu sein. Und davor, dass ich das nie jemandem erklären kann.

Ich habe Angst. Vor dem, was in der Welt da draußen vorgeht, davor, zu viel zu sein, davor, zu wenig zu sein, davor, nirgendwo hineinzupasen, davor angepasst zu sein.

Hallo, ich bin Julia und eigentlich bin ich schüchtern. Okay, vielleicht nicht schüchtern, sondern introvertiert. Und das zum Teil ganz bewusst. Ich fühle mich in den meisten Situationen so am wohlsten. Das führt hin und wieder zu „Konflikten“, denn wenn man mich irgendwo stehen sieht, über 180 groß, frecher Kurzhaarschnitt (Und ich meine frech im Sinne von eigentlich ganz cool, nicht im Sinne von „Brigitte, komm, der Kegelverein hat schon den ersten Sekt aufgemacht.“), gern mit knallroten Lippen die sich ein bisschen zu oft zu einem spöttischen Grinsen verziehen – da würde man das nicht vermuten.

Hallo, ich bin Julia und ich kämpfe dagegen, mich zufriedenzugeben. Menschen tendieren dazu, sich zu schnell zufriedenzugeben. Mit schnellen und unbedachten Antworten, mit Umständen, für die sie auf den ersten Blick nichts können, mit Ungerechtigkeit. Ich weiß, es ist über die Maßen idealistisch, das Ganze aus der Welt räumen zu wollen, aber ich will mich nicht zufriedengeben – Weil das bedeutet, am Ende nicht mehr selbst zu denken.

Ich weiß nicht, was und wo Heimat ist, ich weiß nicht, ob ich dieses Gefühl je kennen werde.

Hallo, ich bin Julia und manchmal weiß ich nicht, wo ich hingehöre. Ich weiß nicht, was und wo Heimat ist, ich weiß nicht, ob ich dieses Gefühl je kennen werde. Und manchmal verschwimmen auch die Grenzen von meinem Ich. Wo höre ich auf und wo beginnt das, von dem Andere wollen, dass ich es bin? Wie viel Kompromiss kann man eingehen, ohne sich zu verraten? Wie viel Rolle ist Schutz und ab wann wird sie mir aufgedrängt? Und von wem überhaupt?

Hallo, ich bin Julia und all diese Sätze hätten wohl auch MADANII und L:LUCID schreiben können. Denn sie holten mich an diesem Abend ab. Da wo ich stand. Leicht angeschwitzt, das Weinglas in der Hand, mit all meinen Gedanken, Zweifeln und Fragen. Und sie machten daraus ein Feuerwerk.

Ich stehe im wummernden Bass und lasse das erste Mal seit langer Zeit los.

Ich stand im wummernden Bass, die Bühne versank irgendwo in tanzenden Körpern und Nebel und ich ließ das erste Mal seit langer Zeit los. Ließ mich mitnehmen von schweren und leichten Klängen, von iranischen Volksliedern uns bassigem Elektrosound. Ließ Verletzlichkeit und Angst zu, Optimismus und Energie.

Das erste Mal konnte ich all diese Gedanken durch mich hindurch wabern lassen, ohne dass sie ein negatives Gefühl auslösen. Denn ich bin damit nicht allein. Die beiden Menschen dort auf der Bühne haben all diesen Gedanken ein schönes Kleid angezogen. Und das ist das Beste, was Musik für mich tun kann.

Headerfoto: Marius Müller. („Wahrheit oder Licht“-Button hinzugefügt, Bild gecroppt.) Danke dafür!

Julia arbeitet in der Redaktion von im gegenteil. Sonst tanzt sie gerne, aber nur wenn danach ausgeschlafen werden darf. Und sonst? Viel Kaffee, viel Lyrik, viel Konzerte, viel Zimt, viel Action.

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